RS Vfgh 2012/6/30 G132/11

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Veröffentlicht am 30.06.2012
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Index

L4 Innere Verwaltung
L4000 Anstandsverletzung, Ehrenkränkung, Lärmerregung,
Polizeistrafen

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art10 Abs1 Z6
B-VG Art11 Abs2
B-VG Art15 Abs2
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art117 Abs7
StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
EMRK Art7, Art8
Oö L-VG 1991 Art16, Art40
Oö PolStG §1a, §1b, §10
VStG §35

Leitsatz

Abweisung eines Drittelantrags von Mitgliedern des Oberösterreichischen Landtages auf Aufhebung von Bestimmungen betreffend die Bettelei in Oberösterreich; Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Erlassung der Regelungen als Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei; kein absolutes Bettelverbot im Oö Polizeistrafgesetz normiert; kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot und das Sachlichkeitsgebot; Bettelei kein geschützter Erwerbszweig und nicht vom Schutzbereich des Rechts auf Privatleben nach der EMRK umfasst; Zulässigkeit der Bestellung besonderer Aufsichtsorgane zur Festnahme von Personen

Rechtssatz

Zulässigkeit des von 19 Mitgliedern des Oö Landtages (mehr als ein Drittel der 56 Mitglieder) gestellten Antrags auf (teilweise) Aufhebung des §1a, §1b und §10 Oö PolizeistrafG (Oö PolStG) idF LGBl 36/2011.

Hinreichend genaue Bezeichnung der angefochtenen Regelungen (nach Wiedergabe der Oö PolStG-Novelle 2011 Aufhebungsbegehren hins einzelner Bestimmungen); kein untrennbarer Zusammenhang, wenn wegen einer allfälligen Aufhebung des angefochtenen Grundtatbestandes des §1a Oö PolStG eine Verweisung in §1b Oö PolStG ins Leere ginge.

Keine Kompetenzwidrigkeit.

Mit §1a Oö PolStG werden bestimmte Erscheinungsformen der Bettelei vom landesgesetzlichen Verbot erfasst (zB Betteln in aufdringlicher oder aggressiver Weise, wie durch Anfassen oder unaufgefordertes Begleiten oder Beschimpfen, Betteln mit Kindern); die pönalisierten Verhaltensweisen werden - anders als die stille Bettelei - als im besonderen Maße geeignet erachtet, das örtliche Zusammenleben zu stören. Die Neuregelungen der Oö PolStG-Nov 2011 sollen neben dem Schutz der zum Betteln Angehaltenen auch die von den Bettlern durch deren besonderes Verhalten bedrängten Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft schützen.

Allein der Umstand, dass eine Gefahr, der zu begegnen der örtlichen Sicherheitspolizei obliegt, auch an anderen Orten auftreten kann und auch auftritt, kann nicht dazu führen, dass damit automatisch eine Subsumtion zur Materie "örtliche Sicherheitspolizei" ausscheidet.

Dem Landesgesetzgeber steht es zu, Regelungen betreffend unerwünschte Erscheinungsformen der Bettelei auf Basis des Kompetenztatbestandes des Art15 Abs2 B-VG als Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei zu erlassen. Jedenfalls handelt es sich bei Regelungen, die spezifische die örtliche Gemeinschaft störende Formen der Bettelei verbieten, um keine Angelegenheit, die - von Angelegenheiten des Strafrechtswesens iSd Art10 Abs1 Z6 B-VG abgesehen - der Bundesgesetzgeber zu regeln befugt ist.

Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot; Auslegung der teilweise sprachlich misslungenen Bestimmungen möglich.

Die Regelung des Verbotes des aufdringlichen oder aggressiven Bettelns an öffentlichen Orten oder von Tür zu Tür zielt darauf ab, eine besonders aktive, insistierende Form des Bettelns zu verbieten, nicht aber stille Formen des Bettelns zu erfassen. Auch der Umstand, dass der Gesetzgeber das Betteln im Rahmen einer organisierten Gruppe oder das Veranlassen anderer zum Betteln, das Organisieren von Betteln oder das Mitführen von unmündigen Minderjährigen beim Betteln als Verwaltungsübertretung normiert, macht deutlich, dass es dem Gesetzgeber nicht darum ging, den bloßen Anblick der Bettler als den Passanten nicht zumutbare Belästigung zu "ersparen", sondern entsprechende Beschränkungen vorzusehen, um problematische Teilaspekte des Phänomens Bettelei zurückzudrängen.

Die Bettelei kann zwar eine Methode darstellen, um sich als Bedürftiger eine fortlaufende Einnahmequelle zu erschließen, doch genügt weder die Intention noch das Ergebnis der Tätigkeit der Bettelei, um den grundrechtlichen Schutz als Erwerbszweig zu erlangen. Jedwede Form der Bettelei stellt keinen Beruf und keine in den Schutzbereich von Art6 StGG fallende Erwerbstätigkeit dar.

Selbst wenn in bestimmten Konstellationen das Ergreifen eines Berufes als Bestandteil des durch Art8 EMRK geschützten Rechtes auf Privatleben angesehen wird, stellt die Bettelei keine Form der Teilhabe am Wirtschaftsleben dar, wie sie den bisherigen Entscheidungen des EGMR im Zusammenhang mit der Aufnahme beruflicher Tätigkeiten vor dem Hintergrund des Art8 EMRK zugrunde lag.

Der Schutzbereich des Art8 EMRK beinhaltet nach der Rechtsprechung des EGMR auch das Recht auf freie Gestaltung der Lebensführung. Art8 EMRK stellt auch die menschliche Persönlichkeit selbst in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz. Die Selbstverwirklichung umfasst auch das Recht, einen individuellen Lebensstil zu pflegen. Nicht jedes menschliche Handeln stellt aber zugleich eine von Art8 EMRK geschützte Ausdrucksform der Persönlichkeit dar.

Bettelei, die im Kern die Behebung oder Linderung einer persönlichen Notlage bezweckt, kann nicht als Ausdrucksform eines individuellen Lebensstils iSd Art8 EMRK angesehen werden und fällt daher auch nicht in den Schutzbereich dieses Grundrechts.

Keine Verletzung des Sachlichkeitsgebotes des Art7 B-VG, wenn der Gesetzgeber bestimmte Erscheinungsformen des Bettelns als Verwaltungsstraftatbestand normiert, unterschiedliche Ausprägungen mit unterschiedlichen Strafen sanktioniert und damit dem Anliegen, bestimmte Erscheinungsformen des Bettelns hintan zu halten, nachkommt.

Die vorgebrachten Bedenken, die sich auf einen Verstoß des §1b Oö PolStG gegen Art117 Abs7 B-VG beschränken und dabei insbesondere die Möglichkeit der Ermächtigung Dritter (besondere Aufsichtsorgane) zur Festnahme von Personen ins Treffen führen, gehen schon deshalb ins Leere, weil die Führung des Verwaltungsstrafverfahrens - wozu auch die Festnahmebefugnis zählt - nicht als von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehende Angelegenheit zu beurteilen ist.

Keine Verletzung des Art11 Abs2 B-VG.

Es ist gemäß §35 VStG selbst zulässig, besondere Aufsichtsorgane zu bestellen und diesen auch die Befugnis zur Festnahme von Personen, die sie bei einer Verwaltungsübertretung nach §1a Abs1 bis Abs4 Oö PolStG auf frischer Tat betreten, zu übertragen, sofern die übrigen Voraussetzungen des §35 VStG vorliegen, aber kein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einschreiten kann.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Bettelverbot, Kompetenz Bund - Länder Sicherheitspolizei, Kompetenz Bund - Länder Strafrechtswesen, Sicherheitspolizei örtliche, Determinierungsgebot, Klarheitsgebot, Erwerbsausübungsfreiheit, Privat- und Familienleben, Gemeinderecht, Wirkungsbereich eigener, Verwaltungsstrafrecht, Festnahme, Bedarfskompetenz, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Formerfordernisse

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2012:G132.2011

Zuletzt aktualisiert am

11.03.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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