TE OGH 2009/11/19 4Ob149/09d

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Veröffentlicht am 19.11.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners J***** E*****, vertreten durch Mag. Jasmin Sailer, Mitarbeiterin des Vereins Vertretungsnetz - Sachwalterschaft - Patientenanwaltschaft-Bewohnervertretung, *****, diese vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 16. Juni 2009, GZ 51 R 52/09k-14, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 15. April 2009, GZ 37 HA 1/09m-8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Revisionsrekursbeantwortung des Einrichtungsleiters wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der 75-jährige Bewohner der Dementenstation eines Altersheims leidet seit Jahren an Demenz, Alzheimerkrankheit sowie Parkinson-Syndrom. Er ist sehr mobil und hat einen starken Bewegungs- und Laufdrang, er war Zeit seines Lebens Sportler. Die aus 14 Zimmern bestehende Dementenstation des Altersheims ist von den übrigen Teilen des Heims sowie dem offenen Eingangsbereich durch eine elektrische Glasschiebetür getrennt, die sowohl von außen als auch von innen mittels Tastschalters geöffnet werden kann. Dieser Tastschalter ist in einer Entfernung von etwa 2 m zur Glastür auf der rechten Seite eines Fensterrahmens angebracht, frei ersichtlich, weist die Größe eines normalen Lichtschalters auf und trägt die Aufschrift „Tür auf". Die Glasschiebetür kann nicht nur durch Drücken des Schalters, sondern auch dadurch geöffnet werden, dass man die im Bereich der in der Mitte zusammentreffenden Kunststoffdämpfer beide Schiebetüren leicht auseinander schiebt, sodass sich die Tür dann selbständig öffnet. Die Dementenstation verfügt darüber hinaus über einen weiteren Ausgang in ein Stiegenhaus, das sämtliche Stockwerke des Altersheims verbindet und über das man in alle anderen Bereiche des Heims und ins Freie gelangen kann. Dieser Ausgang ist mit einer Glastür ausgestattet, die innen in üblicher Griffhöhe einen quer verlaufenden Balken aufweist, der durch bloßes Drücken oder Dagegenlaufen geöffnet werden kann (Panikverschluss). Die verglasten Bereiche der Tür sind mit einer Tapete beklebt, die ein Ziegelmuster aufweist. Dennoch ist die Tür als solche erkennbar. Zweck der Tapetenbeklebung war, dass die Bewohner diese Fluchttüre nicht sofort als Tür wahrnehmen und nicht ständig zum Benützen dieser Tür verleitet werden. Der Bewohner verfügt darüber hinaus in seinen Schuhen über Sensoren des Desorientiertensystems. Verlässt er mit diesen Schuhen die Dementenstation, hört das Pflegepersonal ein Alarmsignal, was ein Suchen des abgängigen Bewohners zur Folge hat.

Der Bewohner kann aufgrund seiner Demenzerkrankung den Tastschalter der elektrischen Glasschiebetür nicht gezielt auffinden, sondern die Tür durch zufälliges Finden des Tastschalters öffnen. Er war aber wiederholt in der Lage, durch Auseinanderdrücken der Glasscheiben die Dementenstation zu verlassen. Dies gelang ihm auch über die mit dem Panikverschluss ausgestattete Fluchttür ins Stiegenhaus, auch nach dem die Glasteile dieser Tür mit der Tapete mit Ziegelmuster beklebt worden waren, wenn auch nicht mehr so oft wie zuvor. Beim Verlassen des Altersheims besteht die Gefahr, dass sich der Bewohner im freien Gelände bei Stürzen verletzt oder im öffentlichen Straßenverkehr nicht zurecht findet oder auch überfahren wird.

Die Bewohnervertreterin beantragte die Unterbringung des Bewohners „auf der geschlossenen Dementenstation" als unzulässige Freiheitsbeschränkung zu beurteilen. Eine akute ernstliche und erhebliche Selbst- und/oder Fremdgefährdung fehle. Die Freiheitsbeschränkung wäre unverhältnismäßig. Eine allgefällige Selbstgefährdung werde durch das Desorientiertensystem verhindert. Wegen des versteckten Schalters bei der Glasschiebetür und der Tarnung der weiteren Ausgangstür mittels Mauertapete seien die Bewohner nicht in der Lage, die Dementenstation über eine dieser Türen zu verlassen. Die Freiheitsbeschränkung sei nicht von einer dazu befugten Person angeordnet worden, es liege keine ausreichende Dokumentation darüber vor und die Aufklärung der Bewohner sei nicht nachvollziehbar.

Das Erstgericht wies den Antrag auf Unzulässigerklärung der Freiheitsbeschränkung ab. Dem Bewohner sei es jederzeit möglich, die Dementenstation über die stets unversperrte und tapezierte Tür ins Stiegenhaus zu verlassen. Es liege keine Freiheitsbeschränkung vor. Auch habe der Bewohner die Glasschiebetür durch Auseinanderschieben öffnen können.

Das Rekursgericht bestätigte die Antragsabweisung und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels Rechtsprechung zu einem vergleichbaren Sachverhalt zu. Die Ausgestaltung einer Station in der Weise, dass lediglich die Aufmerksamkeit der Bewohner nicht auf den Ausgang gelenkt werden solle, es also darum gehe, diesen nicht ständig die Möglichkeit, die Einrichtung zu verlassen, in Erinnerung zu rufen, sei nicht als Freiheitsbeschränkung anzusehen. Bei Entfaltung eines entsprechenden „natürlichen" Willens bleibe es dem Bewohner möglich, den Ausgang zu finden und dem Heim den Rücken zu kehren. Der hier konkret zu berücksichtigende Bewohner sei aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen grundsätzlich nicht in der Lage, den Tastschalter für die Glasschiebetür zu finden oder die Dementenstation durch die mit einer Mauertapete beklebte Tür zum Stiegenhaus zu verlassen, weil er sich aufgrund seiner Demenz selbst dann nicht mehr daran erinnern könne, wo sich der Türschalter oder überhaupt eine Ausgangstür befinde, wenn man ihm dies erklären würde. Der Bewohner habe aber die Station mehrfach durch beide Türen verlassen, in dem er entweder die Glasschiebetüre auseinander gedrückt oder den Panikbalken der mit Mauertapete beklebten Fluchttür geöffnet habe. Mag dies auch zufällig gewesen sein, sei dies jedenfalls mit seinem Willen erfolgt, weil er aufgrund seines Bewegungsdrangs nach außen habe wollen und sich auch dorthin habe bewegen können. Es sei ihm im Konkreten nicht unmöglich gemacht worden, seinen Aufenthalt nach seinem freien Willen zu verändern. Mangels Vorliegens einer Freiheitsbeschränkung sei der Überprüfungsantrag daher abzuweisen gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Zunächst ist festzuhalten, dass bei Beschlüssen, mit denen ein Überprüfungsantrag abgewiesen wird, weil das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die von ihm überprüfte Maßnahme die Voraussetzungen einer Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG nicht erfüllt, sich die Rechtsmittelbefugnisse nach den allgemeinen Grundsätzen des AußStrG richten. Durch einen Beschluss, der einen Antrag auf Überprüfung mit der Begründung abweist, es liege keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG vor, sind nur der Bewohner, sein Vertreter und seine Vertrauensperson beschwert (6 Ob 80/09x mwN; vgl 2 Ob 77/08z = RIS-Justiz RS0123867). Der von der Bewohnervertreterin erhobene Revisionsrekurs ist ein einseitiges Rechtsmittel. Dem Leiter der Einrichtung ein Rechtsmittelbeantwortungsrecht und damit ein weiteres „Recht auf Gehör" einzuräumen, ist auch nicht geboten, weil das Verfahren zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen nicht dem Art 6 EMRK unterliegt (7 Ob 226/06w; 6 Ob 80/09x). Die Revisionsrekursbeantwortung des Einrichtungsleiters war daher zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0121226).

Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Dabei ist zunächst die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bereich wesentlich; der räumliche Umfang der Beschränkung spielt für die Freiheitsbeschränkung keine Rolle. Auch die Bewegungsbeschränkung auf die Einrichtung in ihrer Gesamtheit unter Wahrung freier Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Areals der Einrichtung ist daher eine Freiheitsbeschränkung (8 Ob 121/06m mwN). Eine Freiheitsbeschränkung kann zwar nur an jemandem vorgenommen werden, der grundsätzlich (noch) über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen Fortbewegung (mit Ortsveränderung) verfügt. Auf die Bildung eines (vernünftigen) Fortbewegungswillens und darauf, ob sich der betroffene Bewohner der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bewusst ist, kommt es dabei allerdings nicht an (8 Ob 121/06m; 7 Ob 226/06w, je mwN). Dass eine alternative Möglichkeit besteht, die Einrichtung zu verlassen, ändert an einer Freiheitsbeschränkung dann nichts, wenn der Bewohner aufgrund seiner psychischen Erkrankung diese Möglichkeit nicht kennt und ihm jegliches Bewusstsein für diese Möglichkeit fehlt (8 Ob 121/06m).

Der vorliegende Fall ist allerdings dadurch gekennzeichnet, dass für den Bewohner zwei Möglichkeiten bestehen, seinen Aufenthaltsbereich im Altersheim und dieses selbst zu verlassen, ohne auf die Hilfe Dritter angewiesen zu sein. Auch wenn seine kognitiven Fähigkeiten nicht dazu ausreichen, den der elektrischen Glasschiebetür zugeordneten Öffnungsschalter jederzeit wahrzunehmen und sinngemäß zu benützen, so vermag er doch durch unmittelbares Auseinanderschieben der Schiebetürelemente den Weg in den Eingangsbereich und damit auch ins Freie zu finden. Es ist ihm auch möglich, die mit Mauerwerkstapete beklebte Fluchttür zum Stiegenhaus zu öffnen, in dem er gegen den Öffnungsbalken drückt. Dass beide Türen so ausgestaltet sind, dass sie nicht geradezu zum Verlassen des Bereichs einladen bzw schon von weitem als Tür ins Freie zu erkennen sind, ändert nichts daran, dass nicht davon gesprochen werden kann, dem Bewohner würde das Verlassen seines Aufenthaltsbereichs (ohne Hilfe einer dritten Person bzw in Abhängigkeit von deren Willen) unmöglich gemacht. Der hier zu beurteilende Sachverhalt kann daher nicht mit der für den Bewohner nicht erkennbaren Alternative für den Weg aus dem Gebäude (8 Ob 121/06m: jegliches Bewusstsein für diese Möglichkeit fehlt) verglichen werden. Die Verringerung des Anreizes, den normalen Aufenthaltsbereich zu verlassen ist anders als die Lenkung dementer Personen mit einem für sie nicht zu überwindenden Labyrinth oder der Anbringung schwerer Türen, die von dem Betroffenen nicht mehr geöffnet werden können, keine Unterbindung der Ortsveränderung.

Der erkennende Senat schließt sich daher der Bart/Engel (in Heimrecht, § 3 HeimAufG, Rz 8) folgenden Auffassung der Vorinstanzen an, dass hier keine Freiheitsbeschränkung anzunehmen ist, zumal es dem Bewohner möglich bleibt, den Ausgang zu finden und das Heim zu verlassen. Hiefür ist insbesondere maßgeblich, dass der Bewohner selbst dann, wenn ihn die tapezierte Fluchttür von vornherein abhalten sollte (was aber nicht immer der Fall ist), die Station zu verlassen, und er auch nicht in der Lage ist, den Türöffner für die elektrische Schiebetür zu finden, er diese doch durch einfaches Auseinanderdrücken, was dem naheliegenden Versuch entspricht, durch einen Spalt hindurch zu kommen, öffnen kann.

Wenn die Bewohnervertreterin die Feststellung vermisst, dass der Bewohner nach Verlassen der Station aufgrund des elektronisch gesteuerten Alarms (Desorientiertensystem) nicht nur vom Personal gesucht, sondern von diesem auch auf die Station zurückgeführt wird, was auch eine Freiheitsbeschränkung bilde, ist ihr entgegenzuhalten, dass die Installation des Desorientiertensystems nicht zum Gegenstand des Antrags auf Feststellung unzulässiger freiheitsentziehender Maßnahmen gemacht wurde.

Dem insgesamt unberechtigten Revisionsrekurs musste daher ein Erfolg versagt bleiben.

Textnummer

E92470

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0040OB00149.09D.1119.000

Im RIS seit

19.12.2009

Zuletzt aktualisiert am

19.10.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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