TE Vfgh Erkenntnis 2011/9/26 KI-1/11

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Veröffentlicht am 26.09.2011
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Index

83 Natur- und Umweltschutz
83/01 Natur- und Umweltschutz

Norm

B-VG Art138 Abs1 Z1
BG über den Umweltsenat §5
EU-Grundrechte-Charta Art47
EMRK Art6 Abs1
Richtlinie des Rates vom 27.06.85, 85/337/EWG, über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Richtlinie) idF der Richtlinie 2003/35/EG Art10a
UVP-G 2000 §23b, §40 Abs1
VfGG §46 Abs1
VwGG §41 Abs1, §42 Abs2 Z3, Abs3

Leitsatz

Zulässigkeit des Antrags einer Umweltorganisation auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes; Feststellung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Entscheidung über die Beschwerde gegen den Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie betreffend die Genehmigung des Brenner Basistunnels

Spruch

              I. Der Verwaltungsgerichtshof ist zur Entscheidung über die Beschwerde des Transitforums Austria - Tirol, Verein zum Schutz des Lebensraumes in der Alpenregion, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 15. April 2009, Z BMVIT-220.151/0002-IV/SCH2/2009, zuständig.

              II. Der entgegenstehende Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. September 2010, Z2009/03/0072, wird aufgehoben.

              III. Der Bund (Verwaltungsgerichtshof) ist schuldig, der antragstellenden Partei zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.

              1. Mit dem vorliegenden, auf Art138 Abs1 Z1 B-VG (in eventu: Art138 Abs1 Z2 B-VG) und §46 Abs1 VfGG gestützten Antrag begehrt die antragstellende Partei die Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und dem Unabhängigen Umweltsenat.

Diesem Begehren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

              1.1. Mit Bescheid vom 15. April 2009 erteilte die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die von der mitbeteiligten Partei beantragte Genehmigung (Trassengenehmigung, eisenbahnrechtliche Baubewilligung, Rodungsbewilligung, Bewilligung nach dem Mineralrohstoffgesetz, Genehmigung nach dem UVP-G 2000) mit Nebenbestimmungen. In der Rechtsmittelbelehrung wurde festgehalten, dass gegen diesen Bescheid kein ordentliches Rechtsmittel zulässig sei, und auf die Möglichkeit der Erhebung einer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof hingewiesen.

              1.2. Die dagegen erhobenen Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof, u.a. jene der antragstellenden Partei, wurden von diesem mit Beschluss vom 30. September 2010, 2009/03/0067, 2009/03/0072, mit der Begründung zurückgewiesen, dass gegen den bekämpften Bescheid noch das Rechtsmittel der Berufung an den Unabhängigen Umweltsenat zulässig sei. Dabei verwies der Verwaltungsgerichtshof auf seinen am selben Tag zu 2010/03/0051, 2010/03/0055, gefassten Beschluss, in dem er Näheres zur Frage der unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz in Genehmigungsverfahren nach dem UVP-G ausgeführt hatte. Weiters wies der Verwaltungsgerichtshof auf die Möglichkeit der Einbringung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung an den Unabhängigen Umweltsenat hin.

              1.3. Dem daraufhin von der antragstellenden Partei gestellten, mit der Einbringung der Berufung gegen den Genehmigungsbescheid vom 15. April 2009 verbundenen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde mit Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 28. Jänner 2011 stattgegeben. Gleichzeitig übermittelte diese Behörde die Berufung und die damit in Zusammenhang stehenden Verwaltungsakten an den Unabhängigen Umweltsenat.

              1.4. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. Juni 2011, B254/11, wurde der gegen diesen Bescheid erhobenen, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde der mitbeteiligten Partei nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung stattgegeben und der Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 28. Jänner 2011 auf Grund der Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter aufgehoben.

              1.5. In der Folge wies der Unabhängige Umweltsenat mit Bescheid vom 20. Juli 2011 die Berufung der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 15. April 2009 als unzulässig zurück: Da der Verfassungsgerichtshof den Wiedereinsetzungsbescheid aufgehoben habe, sei die Berufung an den Unabhängigen Umweltsenat nicht innerhalb der gesetzlichen Berufungsfrist eingebracht worden. Daher konnte die Berufung nur als unzulässig zurückgewiesen werden.

              In seinem Bescheid führt der Unabhängige Umweltsenat weiters Folgendes aus:

              "Der Umweltsenat übersieht nicht, dass die

vorliegende Entscheidung des Umweltsenates für das berufungswerbende Transitforum eine Rechtsweg- und Rechtsschutzverweigerung zur Konsequenz hat, da der Verwaltungsgerichtshof im gegenständlichen Fall seine Zuständigkeit mit einer Begründung verneint hat, deren administrative Befolgung der Verfassungsgerichtshof als mit der Grundrechtsordnung unvereinbar qualifiziert hat. Da der Verfassungsgerichtshof durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter als verletzt beurteilt hat, sieht sich der Umweltsenat außerstande, im gegenständlichen Fall in irgendeiner Form eine Sachentscheidung zu treffen."

              2. Die antragstellende Partei stützt den vorliegenden Antrag auf den Umstand, dass nun sowohl der Unabhängige Umweltsenat als auch der Verwaltungsgerichtshof jeweils die Zuständigkeit zur Entscheidung in der Sache verneinen würden, da beide Behörden die Berufung als unzulässig zurückgewiesen hätten (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

              "Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes stellt definitiv eine negative Entscheidung über die Zuständigkeit dar - er verweigert eine Sachentscheidung. Dasselbe gilt für den Umweltsenat aufgrund der nun vorliegenden Entscheidung vom

20.7.2011 - mehr noch er hält fest: '... sieht sich der

Umweltsenat außerstande, im gegenständlichen Fall in irgendeiner Form eine Sachentscheidung zu treffen (S 2, Mitte, des vorliegenden Bescheides).'

              ...

              Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in anderen ähnlich gelagerten Fällen entschieden hat, liegt auch in einer derartigen Fallkonstellation ein Kompetenzkonflikt, der von ihm gem. §Art138 B-VG zu entscheiden ist, zumal dem Verfassungsgesetzgeber nicht zugesonnen werden kann, dass er insofern eine Verfassungslücke in Kauf genommen hätte. In Fortführung dieser ständigen Rechtsprechung wird der Verfassungsgerichtshof daher auch §46 Abs1 VfGG in diesem Sinne auslegen.

              Insgesamt gesehen wurde bzw wird dem Antragsteller sohin von keinem der beiden Gerichte bzw der Behörde gerade jener Rechtsschutz gewährt, der im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28.6.2011, B254/11 als Grundpfeiler dargestellt wird. Eine dem Rechtsstaatsprinzip entsprechende Auslegung des §46 Abs1 VfGG gebietet daher die Annahme, es bestehe in solchen Fällen ein negativer Kompetenzkonflikt (vgl. VfSlg. 13.030/1992 uvam).

              Ein solcher Konflikt liegt dann vor, wenn der Verwaltungsgerichtshof über die Zuständigkeit falsch entschieden hat. Diese Voraussetzung ist aufgrund der jüngsten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes evident. Es besteht ein negativer Kompetenzkonflikt im Sinne des Art138 Abs1 Z1 B-VG, zu dessen Entscheidung der Verfassungsgerichtshof berufen ist. Lediglich hilfsweise stützt sich der Antrag auch auf Art138 Abs1 Z2 leg cit, für den Fall, als der Unabhängige Umweltsenat in EU-rechtskonformer Auslegung als ordentliches Gericht iSd §46 Abs1 Z2 VfGG qualifiziert werden sollte.

              ...

              Nachdem der Verwaltungsgerichtshof ehedem seinen Beschluss, womit er die Beschwerde als unzulässig abgewiesen hat, auf eine falsche Rechtsmeinung gestützt hat (Stichwort: eingeschränkte Kognitionsbefugnis) steht zu befürchten, dass auch der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung in Unkenntnis der wirklichen Rechtslage (Stichwort: volle Kognitionsbefugnis) erfolgt ist, weshalb auch der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 8.7.2009, AW 2009/03/0013-5, mit welchen dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung keine Folge gegeben wurde, aufzuheben sein wird."

              3. Der Unabhängige Umweltsenat übermittelte "die

Bezug habenden Verwaltungsakten erster und zweiter Instanz", sah aber von der Erstattung einer Äußerung zum vorliegenden Antrag ab.

              4. Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Äußerung, in der sie insbesondere erläutert, weshalb der Antrag zurückzuweisen sei:

              4.1. Zum einen habe der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde der antragstellenden Partei nicht wegen Unzuständigkeit, sondern mangels Erschöpfung des Instanzenzuges zurückgewiesen; auch der Unabhängige Umweltsenat habe die Berufung nicht aus dem Grund der Unzuständigkeit, sondern auf Grund der Fristversäumnis zurückgewiesen. Im Übrigen sei der Bescheid des Unabhängigen Umweltsenats nur die Folge der Aufhebung des Wiedereinsetzungsbescheides der Bundesministerin gewesen, weshalb die Zuständigkeit des Unabhängigen Umweltsenats nicht von diesem selbst, sondern von der Bundesministerin verneint worden sei.

              4.2. Zum anderen bestehe zwischen Verwaltungsgerichtshof und Unabhängigem Umweltsenat ein Verhältnis der Über- und Unterordnung und sei ein negativer Kompetenzkonflikt von vornherein ausgeschlossen, da gegen die Zurückweisung durch den Unabhängigen Umweltsenat die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof offenstehe.

              4.3. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach eine rechtsschutzfreundliche Auslegung die Annahme eines negativen Kompetenzkonflikts gebiete, sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar: Erstens habe der Verwaltungsgerichtshof die Zulässigkeit des Verwaltungsgerichtsweges nicht schlichtweg verneint, sondern lediglich die vorherige Befassung des Unabhängigen Umweltsenats gefordert. Zweitens lägen dieser Rechtsprechung anders als im vorliegenden Fall keine mehrpoligen Rechtsverhältnisse zugrunde, sodass die Aspekte des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der Rechtskraft zugunsten anderer Verfahrensparteien keine Rolle gespielt hätten. Hingegen wäre die mitbeteiligte Partei von einer stattgebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes unmittelbar nachteilig betroffen.

              5. Der Verwaltungsgerichtshof hat den Beschwerdeakt übermittelt und von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.

II.

              Die maßgebliche Rechtslage stellt sich dar wie folgt:

              1. Die entscheidungsrelevanten Bestimmungen des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes 2000, BGBl. 697/1993 idF BGBl. I 87/2009 (in der Folge: UVP-G 2000), lauten:

"3. ABSCHNITT

UMWELTVERTRÄGLICHKEITSPRÜFUNG FÜR BUNDESSTRASSEN UND

HOCHLEISTUNGSSTRECKEN

              ...

Anwendungsbereich für Hochleistungsstrecken

              §23b. (1) Für folgende Vorhaben von Hochleistungsstrecken, die nicht bloß in Ausbaumaßnahmen auf bestehenden Eisenbahnen bestehen, ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung (§1) nach diesem Abschnitt durchzuführen:

              1. Neubau von Eisenbahn-Fernverkehrsstrecken oder

ihrer Teilabschnitte, Neubau von sonstigen Eisenbahnstrecken oder ihrer Teilabschnitte auf einer durchgehenden Länge von mindestens 10 km,

              2. Änderung von Eisenbahnstrecken oder ihrer Teilabschnitte auf einer durchgehenden Länge von mindestens 10 km, sofern die Mitte des äußersten Gleises der geänderten Trassen von der Mitte des äußersten Gleises der bestehenden Trasse mehr als 100 m entfernt ist.

              (2) - (4) ...

Verfahren, Behörde

              §24. (1) Wenn ein Vorhaben gemäß §23a oder §23b einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen ist, hat der Bundesminister/die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie die Umweltverträglichkeitsprüfung und ein teilkonzentriertes Genehmigungsverfahren durchzuführen. In diesem Genehmigungsverfahren hat er/sie alle jene nach den bundesrechtlichen Verwaltungsvorschriften für die Ausführung des Vorhabens erforderlichen materiellen Genehmigungsbestimmungen anzuwenden, die ansonsten von ihm/ihr oder einem/einer anderen Bundesminister/in in erster Instanz zu vollziehen sind. Der Landeshauptmann kann mit der Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung und des teilkonzentrierten Genehmigungsverfahrens ganz oder teilweise betraut werden, wenn dies im Interesse der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis gelegen ist.

              (2) - (11) ...

              ...

6. ABSCHNITT

GEMEINSAME BESTIMMUNG

Behörden und Zuständigkeit

              ...

              §40. (1) In den Angelegenheiten des ersten und

zweiten Abschnittes ist der Umweltsenat, auch im Fall einer Delegation gemäß §39 Abs1 vierter Satz, nicht jedoch in Verfahren gemäß §45, Berufungsbehörde und sachlich in Betracht kommende Oberbehörde im Sinne der §§5, 68 und 73 AVG. Er entscheidet auch über Wiederaufnahmsanträge nach §69 AVG.

              (2) Die Berufung ist von der Partei binnen vier

Wochen einzubringen.

              (3) ..."

              2. §5 des Bundesgesetzes über den Umweltsenat, BGBl. I 114/2000 (in der Folge: USG), lautet:

"Kompetenzen des Umweltsenates

              §5. Der Umweltsenat entscheidet über Berufungen in Angelegenheiten des ersten und zweiten Abschnittes des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes, BGBl. Nr. 697/1993. Er ist in diesen Angelegenheiten sachlich in Betracht kommende Oberbehörde im Sinn der §§5, 68 und 73 AVG und entscheidet über Anträge auf Wiederaufnahme nach §69 AVG."

              3. Die entscheidungsrelevanten Bestimmungen des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 - VwGG, BGBl. 10/1985 idF BGBl. I 111/2010, lauten:

"Prüfung des angefochtenen Bescheides

              §41. (1) Der Verwaltungsgerichtshof hat, soweit er nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde oder wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften gegeben findet (§42 Abs2 Z2 und 3) und nicht §38 Abs2 anwendbar ist, den angefochtenen Bescheid auf Grund des von der belangten Behörde angenommenen Sachverhaltes im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte (§28 Abs1 Z4) oder im Rahmen der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§28 Abs2) zu überprüfen. Ist er der Ansicht, daß für die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Bescheides in einem der Beschwerdepunkte oder im Rahmen der Erklärung über den Umfang der Anfechtung Gründe maßgebend sein könnten, die einer Partei bisher nicht bekanntgegeben wurden, so hat er die Parteien darüber zu hören und, wenn nötig, eine Vertagung zu verfügen.

              (2) In den Fällen des Art132 B-VG hat der Gerichtshof den Sachverhalt unter Bedachtnahme auf §36 Abs9 festzustellen.

Erkenntnisse

              §42. (1) Der Verwaltungsgerichtshof hat alle Rechtssachen, soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt, mit Erkenntnis zu erledigen. Das Erkenntnis hat, abgesehen von den Fällen der Säumnisbeschwerden (Art132 B-VG), entweder die Beschwerde als unbegründet abzuweisen oder den angefochtenen Bescheid aufzuheben.

              (2) Der angefochtene Bescheid ist aufzuheben

              1. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes,

              2. wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde,

              3. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, und zwar weil

a)

der Sachverhalt von der belangten Behörde in einem

wesentlichen Punkt aktenwidrig angenommen wurde

oder

b)

der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt einer

Ergänzung bedarf oder

c)

Verfahrensvorschriften außer acht gelassen wurden,

bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem

anderen Bescheid hätte kommen können.

              (3) Durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides nach Abs2 tritt die Rechtssache in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des angefochtenen Bescheides befunden hatte.

              (4) ... "

              4. Art10a der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985

L 175, idF der Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. 2003 L 156/17 (in der Folge: UVP-RL), lautet:

"Artikel 10a

              Die Mitgliedstaaten stellen im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, die

              a) ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ

              b) eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsverfahrensrecht bzw. Verwaltungsprozessrecht eines Mitgliedstaats dies als Voraussetzung erfordert,

Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten.

              Die Mitgliedstaaten legen fest, in welchem Verfahrensstadium die Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen angefochten werden können.

              Was als ausreichendes Interesse und als

Rechtsverletzung gilt, bestimmen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder Nichtregierungsorganisation, welche die in Artikel 1 Absatz 2 genannten Voraussetzungen erfuellt, als ausreichend im Sinne von Absatz 1 Buchstabe a) dieses Artikels. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die im Sinne von Absatz 1 Buchstabe b) dieses Artikels verletzt werden können.

              Dieser Artikel schließt die Möglichkeit eines vorausgehenden Überprüfungsverfahrens bei einer Verwaltungsbehörde nicht aus und lässt das Erfordernis einer Ausschöpfung der verwaltungsbehördlichen Überprüfungsverfahren vor der Einleitung gerichtlicher Überprüfungsverfahren unberührt, sofern ein derartiges Erfordernis nach innerstaatlichem Recht besteht.

              Die betreffenden Verfahren werden fair, gerecht,

zügig und nicht übermäßig teuer durchgeführt.

              Um die Effektivität dieses Artikels zu fördern,

stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Öffentlichkeit praktische Informationen über den Zugang zu verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Überprüfungsverfahren zugänglich gemacht werden."

III.

              Der Verfassungsgerichtshof hat zur Zulässigkeit des Antrags erwogen:

              1. Gemäß Art138 Abs1 Z1 B-VG iVm §46 Abs1 VfGG

besteht ein vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidender verneinender Kompetenzkonflikt u.a. dann, wenn ein Gericht und eine Verwaltungsbehörde ihre Zuständigkeit in derselben Sache verneint haben, obwohl eine der beiden Behörden zuständig gewesen wäre.

              Bei der Beurteilung, ob die jeweilige Verwaltungsbehörde oder das jeweilige Gericht die Zuständigkeit verneint hat, ist nicht ausschließlich auf die Formulierung des Spruchs abzustellen, sondern muss auch auf die Gründe der Entscheidung Bedacht genommen werden (vgl. VfSlg. 5407/1966, 14.295/1995, 14.769/1997, 14.991/1997).

              2. Die Voraussetzungen eines negativen Kompetenzkonfliktes sind in jenen Fällen nicht gegeben, in denen die Verwaltungsbehörde ihre Zuständigkeit zur Entscheidung in der Sache nicht schlechthin verneint, sondern den Antrag etwa mangels Legitimation, mangels Parteieigenschaft, wegen entschiedener Sache oder wegen Fristversäumnis zurückweist (vgl. zB VfSlg. 383/1925, 3490/1959, 14.175/1995, 14.343/1995, 14.497/1996, 18.575/2008, 18.699/2009).

              Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor: Der Unabhängige Umweltsenat hat die mit Bescheid vom 20. Juli 2011 ausgesprochene Zurückweisung der Berufung zwar auch, aber nicht nur mit der Versäumung der Berufungsfrist begründet. Vielmehr führt der Unabhängige Umweltsenat aus, er sehe sich auf Grund des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 28. Juni 2011, B254/11, "außerstande, im gegenständlichen Fall in irgendeiner Form eine Sachentscheidung zu treffen". Damit verneint er schon deshalb seine Zuständigkeit. Eine solche Auslegung entspricht auch dem von Art138 B-VG verfolgten - und im konkreten Fall auch von unionsrechtlichen Geboten getragenen - Rechtsschutzanliegen, wonach sichergestellt werden soll, dass die Durchsetzung eines Rechtsanspruchs nicht schon daran scheitert, dass sich die in Betracht kommenden Verwaltungsbehörden und Gerichte für unzuständig erklären (vgl. zB VfSlg. 14.295/1995).

              3. Auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach ein Kompetenzkonflikt iSd Art138 B-VG zwischen einer Verwaltungsbehörde und dem Verwaltungsgerichtshof schon deshalb ausgeschlossen sei, weil die Bundesverfassung die Nachprüfung der Bescheide der Verwaltungsbehörden durch den Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich vorsehe (vgl. VfSlg. 14.884/1997; VfGH 10.3.1998, B2002/97, B2003/97, KI-18/97), ist auf die vorliegende Konstellation nicht übertragbar, zumal angesichts des zurückweisenden Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes von einer Nachprüfung im Sinne der genannten Judikatur nicht gesprochen werden kann.

              Der Antrag auf Entscheidung des verneinenden Kompetenzkonflikts ist daher zulässig.

IV.

              Der Verfassungsgerichtshof hat in der Sache erwogen:

              1. Zu klären ist, ob der Verwaltungsgerichtshof oder der Unabhängige Umweltsenat seine Zuständigkeit in der Sache zu Unrecht verneint hat. Maßgeblich für die Beurteilung dieser Frage ist, ob der Anwendung der in §40 Abs1 UVP-G 2000 und §5 USG vorgesehenen Beschränkung der Zuständigkeit des Unabhängigen Umweltsenates auf Angelegenheiten des ersten und zweiten Abschnitts des UVP-G 2000 der Vorrang des Unionsrechts entgegensteht, wie es der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 30. September 2010, 2009/03/0067, 2009/03/0072, angenommen hat.

              2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mit näherer Begründung in seinem Erkenntnis vom 28. Juni 2011, B254/11, ausgesprochen hat, erfüllt der Verwaltungsgerichtshof bei verfassungs- und konventionskonformer Wahrnehmung seiner gesetzlichen Befugnisse zur Sachverhaltskontrolle die Anforderungen an ein Gericht mit hinreichender Kontrollbefugnis in Tatsachenfragen iSd Art6 Abs1 EMRK und iSd Art47 Abs2 Grundrechtecharta (vgl. EGMR 21.9.1993, Fall Zumtobel, Appl. 12.235/86, ÖJZ 1993, 782, uvam., jüngst EGMR 10.12.2009, Fall Koottummel, Appl. 49.616/06; vgl. VfSlg. 15.427/1999, 18.309/2007, 18.446/2008, 18.927/2009; vgl. auch EuGH 21.1.1999, Rs. C-120/97, Upjohn Ltd., Slg. 1999 I-00223, und 22.5.2003, Rs. C-462/99, Connect Austria, Slg. 2003 I-05197).

              Insbesondere verwehrt §41 Abs1 VwGG dem Verwaltungsgerichtshof in Verfahren nach Art131 Abs1 Z1 B-VG die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und -annahmen der Behörde nicht. Die Vorschriften des §41 Abs1 iVm §42 Abs3 VwGG ermöglichen es dem Verwaltungsgerichtshof, in einer mit dem gerichtlichen Verfahren vergleichbaren und wirksamen Weise ausreichende Tatsachengrundlagen zu erarbeiten, um die maßgebliche Rechtsfrage beurteilen zu können (VfGH 28.6.2011, B254/11).

              3. Zur Erfüllung des Gebots wirksamen Rechtsschutzes ist im vorliegenden Zusammenhang daher keine Vorschrift des Unionsrechts unmittelbar anzuwenden, welche die Zuständigkeit einer unabhängigen Verwaltungsbehörde herbeiführen und jene des Verwaltungsgerichtshofes zur Entscheidung über die Beschwerde gegen den Genehmigungsbescheid im Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren beseitigen würde.

              Angesichts dessen hätte der Verwaltungsgerichtshof über die Beschwerde der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 15. April 2009 eine Sachentscheidung treffen müssen.

V.

              1. Der Verwaltungsgerichtshof hat dadurch, dass er die Beschwerde der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid vom 15. April 2009 zurückgewiesen hat, seine Zuständigkeit in der Sache zu Unrecht abgelehnt.

              2. Es ist daher auszusprechen, dass die Entscheidung über die gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie gerichtete Beschwerde in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes fällt. Der entgegenstehende Beschluss dieses Gerichtshofes ist aufzuheben.

              3. Der Kostenausspruch gründet sich auf §52 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- und die Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

              4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

VfGH / Kompetenzkonflikt, Umweltschutz, Umweltverträglichkeitsprüfung, Eisenbahnrecht, Verwaltungsgerichtshof Zuständigkeit, EU-Recht Richtlinie, Rechtsschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2011:KI1.2011

Zuletzt aktualisiert am

20.09.2012
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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