TE OGH 2010/11/16 5Ob194/10f

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Veröffentlicht am 16.11.2010
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder Carolina Susanna P*****, geboren am *****, und Leonardo Mattia P*****, geboren am *****, beide wohnhaft in *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters Renato G*****, vertreten durch Dr. Andreas Eustacchio, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. Juli 2010, GZ 45 R 403/10p-21, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Gemeinschaftsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0117100). Eine solche liegt hier nicht vor:

1. Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Damit wird - entsprechend dem Erwägungsgrund 12 der Präambel - die internationale Zuständigkeit vorrangig „nach dem Kriterium der räumlichen Nähe“ bestimmt. Was unter „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinn der Brüssel IIa-VO zu verstehen ist, wird in dieser Verordnung nicht definiert. Dieser Begriff ist nicht nach den jeweiligen nationalen Bestimmungen, sondern autonom entsprechend den Zielen und Zwecken der Brüssel IIa-VO auszulegen (Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band I, 2010, Art 8 Brüssel IIa-VO Rn 11 mwN). Die Zuständigkeitsprüfung bezieht sich in temporärer Hinsicht auf den „Zeitpunkt der Antragstellung“.

2.1. Nach der Entscheidung des EuGH vom 2. 4. 2009, C-523/07, ist der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ iSd Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen.

2.2. Zum Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ (dort nach Art 3 Abs 1 lit a Brüssel IIa-VO) liegt mit der Entscheidung 1 Ob 115/09g = EFSlg 124.678 auch bereits Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor.

3. Soweit das Rekursgericht im Lichte des Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO auf den „Daseinsmittelpunkt“ abstellt, steht dies mit den zuvor dargestellten, in der Entscheidung des EuGH vom 2. 4. 2009, C-523/07, angesprochenen Kriterien und auch mit der Entscheidung 1 Ob 115/09g = EFSlg 124.678 in Einklang. Die Berufung des Rekursgerichts auf die unter EFSlg 122.223 wiedergegebene Entscheidung stellt zwar offenkundig ein Fehlzitat dar, doch ist die vom Rekursgericht angesprochene Dauer des Aufenthalts auch nach der bezeichneten Entscheidung des EuGH ein maßgeblicher Aspekt des gewöhnlichen Aufenthalts.

4. Die Vorinstanzen gehen hier insbesondere deshalb von einem gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Österreich aus, weil diese schon seit mehr als einem Jahr vor der Antragstellung im Inland leben, hier auch gemeldet sind, die Schule besuchen und mit der deutschen Sprache vertraut sind. Eine unvertretbare Auslegung von Gemeinschaftsrecht ist in dieser Beurteilung nicht zu erkennen.

Mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs somit unzulässig und zurückzuweisen.

Schlagworte

Zivilverfahrensrecht,Gruppe: Internationales Privatrecht und Zivilverfahrensrecht,Europarecht,Familienrecht

Textnummer

E95742

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0050OB00194.10F.1116.000

Im RIS seit

21.12.2010

Zuletzt aktualisiert am

24.07.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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