TE OGH 2011/7/21 10ObS48/11y

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Veröffentlicht am 21.07.2011
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Engelmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj M*****, vertreten durch seine Mutter F*****, ebendort, gegen die beklagte Partei Land Wien, Neues Rathaus, 1082 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. März 2011, GZ 10 Rs 15/11s-16, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. Oktober 2010, GZ 16 Cgs 170/10x-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 21. 2. 2008 geborene Kläger leidet an einer primären Entwicklungsverzögerung mit Störung der Sprach- und Sozialentwicklung und autoaggressiven Verhaltensmustern.

Die beklagte Partei erkannte dem Kläger mit Bescheid vom 22. 3. 2010 Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ab 1. 3. 2010 zu.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Gewährung einer höheren Pflegegeldstufe.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens mit der Begründung, dass der durchschnittliche Pflegebedarf des Klägers nur 65 Stunden monatlich betrage.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. 3. 2010 Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von monatlich 224,30 EUR unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder im Ausmaß von 60 EUR monatlich zu zahlen. Es traf die Feststellung, dass der Kläger im Vergleich mit einem gesunden gleichaltrigen Kind aufgrund seiner Leidenszustände folgende Hilfestellungen benötigt:

Da der Kläger nur Flaschennahrung (Milch, Gries) trinkt und dazu allein nicht in der Lage ist, beträgt der zeitliche Mehraufwand täglich mindestens 30 Minuten (20 Stunden monatlich).

Das An- und Auskleiden, insbesondere auch der Windelwechsel werden durch die heftige Gegenwehr erschwert. Der zeitliche Mehraufwand beträgt 20 Minuten täglich, das sind 10 Stunden monatlich.

Es ist meistens nötig, den Kläger zu den täglichen Verrichtungen zu holen bzw zu führen. Es besteht keine Kooperationsbereitschaft; vielmehr leistet er dabei heftigen Widerstand. Der tägliche Mehraufwand beträgt 30 Minuten, das sind 15 Stunden monatlich.

Der Kläger neigt zu autoaggressiven Verhaltensweisen; er schlägt häufig mit dem Kopf gegen die Wand oder gegen andere Einrichtungsgegenstände. Er schlägt sich auch selbst mit der Hand gegen den Kopf und reibt immer wieder das Kinn gegen die Wand, wobei es zu Hautabschürfungen kommt. Für das Eingreifen einer Pflegeperson ist ein täglicher Aufwand von 30 Minuten, das sind 15 Stunden monatlich, erforderlich.

Im Vergleich mit einem gesunden Kind muss der Kläger zusätzlich zu verschiedenen Therapien und Behandlungen ausgeführt werden:

Für die einmal wöchentlichen Besuche des sozialpädiatrischen Ambulatoriums ist eine Fahrzeit von zwei Mal 30 Minuten zu absolvieren, die Behandlungszeit beträgt 60 Minuten; insgesamt ergibt sich ein Aufwand von 8 Stunden monatlich. Der Kläger wird weiters an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde behandelt, wo alle drei Monate eine Entwicklungskontrolle erfolgt. Ausgehend von einer Fahrtzeit von zwei Mal 45 Minuten und einer Behandlungszeit von drei Stunden ergibt sich ein Aufwand von 1 ½ Stunden monatlich. Der Kläger genießt eine mobile Frühförderung einmal wöchentlich im Ausmaß von 1 ½ Stunden. Daraus ergibt sich ein Zeitaufwand von sechs Stunden monatlich. Zur monatlichen Kontrolle wird der Kläger ins Zentrum für Entwicklungsförderung im 22. Wiener Gemeindebezirk gebracht. Bei einer Fahrtzeit von zwei Mal 1 ½ Stunden und einer Behandlungszeit von 2 ½ Stunden errechnet sich ein Aufwand von monatlich 5,5 Stunden. Insgesamt besteht ein Bedarf für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn von 21 Stunden monatlich.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Kläger verglichen mit einem gesunden Kind einen monatlichen Pflegebedarf von 81 Stunden aufweise und daher Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es führte aus, das Erstgericht sei entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Gutachtenserörterung davon ausgegangen, dass die wöchentliche mobile Frühförderung eine therapeutische Unterstützung sei, die ausschließlich daheim erfolge und die Anwesenheit der Mutter des Klägers erfordere. Verglichen mit einem gleichaltrigen gesunden Kind sei dafür ein sechsstündiger Zeitaufwand zu veranschlagen, der im Rahmen der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zu berücksichtigen sei. Im Hinblick auf das Kleinkindalter des Klägers und seine primäre Entwicklungsverzögerung sei eine Anwesenheit der ihm vertrauten Pflegeperson auch während der Therapie - selbst wenn diese in der gewohnten Umgebung stattfinde - erforderlich.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei, die zulässig und berechtigt ist, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts von der bisherigen Rechtsprechung zur Mobilitätshilfe im weiteren Sinn abweicht.

Der Kläger brachte keine Revisionsbeantwortung ein.

Die beklagte Partei macht in ihrer Revision geltend, die Vorinstanzen seien von einem Gesamtpflegebedarf von 81 Stunden ausgegangen, in dem 21 Stunden an Bedarf für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn enthalten sei. Diese 21 Stunden für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn umfassten auch sechs Stunden monatlich für mobile Frühförderung. Berücksichtige man diese sechs Stunden monatlich nicht, dann betrage der gesamte Pflegebedarf nur 75 Stunden, sodass nur das Pflegegeld der Stufe 1 zuzuerkennen wäre. Wie sich aus der mündlichen Erörterung des medizinischen Sachverständigengutachtens ergebe, werde die mobile Frühförderung beim Kläger daheim durchgeführt. Eine Verrichtung im Haus sei jedoch nicht der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zurechenbar. Diese beziehe sich ausschließlich auf Verrichtungen außer Haus und auf Hilfeleistungen außerhalb des Wohnbereichs des Pflegebedürftigen. Auch wenn die Anwesenheit der Mutter bei der mobilen Frühförderung erforderlich sei, sei der damit verbundene Zeitaufwand daher nicht der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zuzurechnen. Da die „mobile Frühförderung“ als therapeutisches Verfahren bzw als medizinische Behandlung anzusehen sei, sei der damit verbundene Aufwand bei der Beurteilung des Pflegeaufwands unberücksichtigt zu lassen, sodass sich ein Pflegebedarf von nur 75 Stunden monatlich ergebe, der lediglich den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 1 rechtfertige. Im Fehlen von Feststellungen dazu, wo die Therapie stattfinde, liege ein sekundärer Feststellungsmangel.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu:

1. Infolge Antragstellung am 15. 2. 2010 ist das Wiener Pflegegeldgesetz (WPGG) LGBl 1993/42 idF LGBl 2010/56 anzuwenden. Gemäß dessen § 4 Abs 2 besteht Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich beträgt; Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 besteht für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 75 Stunden monatlich beträgt. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen ist nur jenes Maß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (§ 4 Abs 3 WPGG). Da § 4 Abs 3 WPGG auf den Betreuung und Hilfe umfassenden „Pflegebedarf" insgesamt und nicht bloß auf den Betreuungsaufwand Bezug nimmt, wird auch für Hilfsverrichtungen bei Kindern eine konkret-individuelle Prüfung des zeitlichen Ausmaßes des Hilfsbedarfs angeordnet (10 ObS 68/05f = SSV-NF 19/63 mwN zur gleichlautenden Bestimmung des § 2 Abs 3 OÖEinstV; 10 ObS 10/08f).

2. Mobilitätshilfe im weiteren Sinn (§ 2 Abs 2 der Einstufungsverordnung zum WPGG, zur Pensionsordnung und zum Unfallfürsorgegesetz 1967 - im Folgenden: EinstVO) ist immer dann erforderlich, wenn der Pflegebedürftige die Verrichtungen außer Haus, die seine Anwesenheit erfordern, nur in Begleitung einer Pflegeperson erledigen kann. Dies gilt bei Kindern und Jugendlichen insbesondere für die Begleitung zu krankheits- und therapiebedingten Untersuchungen, zu Behandlungen und Kontrollen bei Ärzten und Therapeuten, und zur Schule (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld2 Rz 482) . Ebenso zählt zur Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, wenn im Hinblick auf das Alter eines behinderten Kindes die Anwesenheit einer vertrauten Person auch während der außer Haus erfolgenden Behandlung oder Therapie unbedingt erforderlich ist. Damit regelmäßig verbundene Wartezeiten sowie die Behandlungs- oder Therapiezeiten sind in einem solchen Fall deshalb bei der Ermittlung des zeitlichen Ausmaßes der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zu berücksichtigen, da es mit dem Zweck des Pflegegeldes nicht vereinbar wäre, ein schwerstbehindertes Kleinkind nach Übergabe in eine Therapieeinrichtung seinem Schicksal zu überlassen (RIS-Justiz RS0123197). Bei Kindern und Jugendlichen kann die konkret-individuelle Prüfung des behinderungsbedingten Mehraufwands auch zu einer Überschreitung des für die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn vorgesehenen fixen Zeitwerts von 10 Stunden an Pflegebedarf führen, was gerade bei behinderungsbedingt häufiger notwendiger Begleitung zu Arzt oder Therapie von Bedeutung ist. Gemäß § 2 Abs 4 der EinstVO kann (unbeschadet der Bestimmung des § 4 Abs 7 Z 3 des WPGG) bei pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres ein Zeitwert für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn im Ausmaß von bis zu 50 Stunden monatlich berücksichtigt werden.

3. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Verrichtungen medizinischer Art wie Krankenbehandlung, Therapie oder medizinische Hauskrankenpflege keinen Pflegebedarf im Sinne der einschlägigen Pflegegeldgesetze darstellen. Es sind daher therapeutische Maßnahmen an Behinderten, die der Erhaltung oder Verbesserung des Gesundheitszustands dienen, auch dann nicht der Betreuung oder Hilfe zuzurechnen, wenn sie von Familienangehörigen oder sonstigen Pflegepersonen selbstständig nach einer erfolgten Einschulung durch Fachkräfte durchgeführt werden. Derartige therapeutische Maßnahmen sind deshalb bei der Bemessung des Pflegeaufwands nicht zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0106399 [T10] 10 ObS 10/08f = SSV-NF 22/10; 10 ObS 269/03m = SSV-NF 18/6; 10 ObS 158/99d = SSV-NF 13/76;). So sind die Unterstützung oder Mithilfe bei logopädischen Übungen, Therapiehandlungen nach Bobath oder Vojta, Spiel- und Gehörtraining nach Cochlearimplantat bzw nach angeborener Schwerhörigkeit, physiotherapeutische Übungen und ergotherapeutisches Training nicht durch Pflegegeld abzugelten (Greifender/Liebhart, Pflegegeld2 Rz 17 mwN).

3. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht keine Feststellung dazu getroffen, ob die „mobile Frühförderung“ in einer Therapieeinrichtung oder beim Kläger zu Hause durchgeführt wird, noch kann davon ausgegangen werden, dass die Vertreterin des Klägers (dessen Mutter) im Verfahren erster Instanz letzteres zugestanden hätte. Ein schlüssiges gerichtliches Zugeständnis kann nur aus ausdrücklichen Parteierklärungen, nicht aber aus bloßem Schweigen der Partei (hier zur Gutachtenserörterung mit dem medizinischen Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Streitverhandlung) abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0107488). Ferner steht bisher nicht fest, ob es sich bei der „mobilen Frühförderung“ um eine von einer Fachkraft durchgeführte Therapiemaßnahme zur Erhaltung und Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers handelt, während deren Dauer die Mithilfe oder Beaufsichtigung durch die Mutter nötig ist.

Wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird, begründet das Fehlen dieser Feststellungen einen rechtlichen Feststellungsmangel:

Findet die Maßnahme außerhalb der vom Kläger bewohnten Wohnung in einer Therapieeinrichtung statt, wäre nicht nur die Fahrtzeit, sondern im Hinblick auf sein Kleinkindalter und die Schwere seiner Behinderung auch die mit der Maßnahme verbundenen Wartezeiten sowie Therapiezeiten bei der Ermittlung des zeitlichen Ausmaßes der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zu berücksichtigen. Sollte hingegen feststehen, dass die „mobile Frühförderung“ als Therapiemaßnahme zur Erhaltung und Verbesserung des Gesundheitszustands beim Kläger zu Hause stattfindet (wovon das Berufungsgericht ausgegangen ist), lägen die Voraussetzungen für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nicht vor. Im Hinblick auf die oben wiedergegebene Rechtsprechung könnte in diesem Fall die Zeit der mit der „mobilen Frühförderung“ verbundenen Beaufsichtigung des Klägers durch seine Mutter nicht als (sonstiger) Pflegeaufwand berücksichtigt werden.

Erst nach Vorliegen entsprechender Feststellungen wird die Rechtssache abschließend beurteilt werden können. Dies führt zur notwendigen Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen.

Schlagworte

12 Sozialrechtssachen,

Textnummer

E98354

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00048.11Y.0721.000

Im RIS seit

02.10.2011

Zuletzt aktualisiert am

03.06.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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