TE OGH 2011/8/3 4R316/11m

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Veröffentlicht am 03.08.2011
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Curd Steinhauer als Vorsitzenden sowie den Richter Mag. Werner Hofmann und die Richterin Mag. Martina Elhenicky in der Firmenbuchsache der Z***** GmbH, *****, wegen Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31.12.2009, über die Rekurse der Gesellschaft und des Geschäftsführers ***** X***** gegen den Beschluss des Landesgerichtes Eisenstadt vom 3.5.2011, 44 Fr 864/11a-4, in nicht öffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Beiden Rekursen wird Folge gegeben, die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Im Firmenbuch des Landesgerichtes Eisenstadt ist zu FN 308601a die Z***** GmbH mit dem Sitz in ********** eingetragen. Geschäftsführer sind seit 1.4.2008 ********** Z***** und ***** X*****. Stichtag für den Jahresabschluss ist der 31. Dezember.

Mit (nicht im Akt befindlichen) Zwangsstrafverfügungen vom 24.3.2011 verhängte das Landesgericht Eisenstadt über die Gesellschaft und den Geschäftsführer ***** X***** jeweils die gemäß § 283 Abs 2 UGB vorgesehene Zwangsstrafe von EUR 700,-- wegen nicht rechtzeitiger Vorlage des Jahresabschlusses zum 31.12.2009.

In ihren dagegen erhobenen, irrtümlich als „Berufung“ bezeichneten und vom Erstgericht als rechtzeitig behandelten Einsprüchen brachten ***** X***** und die Gesellschaft übereinstimmend Folgendes vor:

Aufgrund eines Wechsels der Buchhaltungskanzlei von der L***** auf die M***** ist es trotz mehrmaliger Aufforderungen bisher nicht möglich gewesen, alle Unterlagen vollständig und rechtzeitig von der bisherigen steuerlichen Vertretung zu bekommen.

Mit dem angefochtenen Beschluss verhängte das Landesgericht Eisenstadt im ordentlichen Verfahren neuerlich Zwangsstrafen von von je EUR 700,-- über die Gesellschaft und den Geschäftsführer ***** X*****. In seiner Begründung verwies es auf die in § 277 Abs 1 UGB verankerte Pflicht zur Einreichung des Jahresabschlusses spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag, und auf die Neufassung des § 283 UGB, der das Zwangsstrafverfahren zur Erzwingung der Einreichung des Jahresabschlusses regelt, durch das Budgetbegleitgesetz 2011. Der Jahresabschluss zum 31.12.2009 hätte spätestens am 30.9.2010 beim Firmenbuchgericht eingereicht werden müssen, sei jedoch erst unmittelbar nach Erlassung der Zwangsstrafverfügungen am 29.3.2011 eingereicht worden. Der Geschäftsführer müsse die Erstellung und Offenlegung des Jahresabschlusses zwar nicht selbst machen, jedoch nachweislich alles unternehmen, um die rechtzeitige Erfüllung der gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten. Die im Einspruch geltend gemachten Gründe, vor allem aber die Tatsache, dass der Jahresabschluss nicht innerhalb der gesetzlichen Frist, sondern erst unmittelbar nach Erlassung der Zwangsstrafverfügungen eingereicht worden sei, rechtfertigten nicht die Einstellung des Zwangsstrafverfahrens.

Gegen diesen Beschluss richten sich die – wiederum als „Berufung“ bezeichneten – Rekurse des Geschäftsführers ***** X***** und der Gesellschaft jeweils mit dem Antrag, „von der Einhebung der Zwangsstrafe abzusehen“, also das Verfahren einzustellen.

Die Rekurse sind im Sinne einer Aufhebung zur Verfahrensergänzung berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

              1. Die Offenlegungspflicht und ihre Durchsetzung:

              Schon das Erstgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften (und gemäß § 283 Abs 7 UGB seit 1.1.2011 auch die Gesellschaften selbst) den Jahresabschluss und Lagebericht sowie gegebenenfalls den Corporate Governance-Bericht spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag mit dem Bestätigungsvermerk oder dem Vermerk über dessen Versagung oder Einschränkung beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Gesellschaft einzureichen (offen zu legen) haben. Diese Offenlegungspflicht, die in Umsetzung einschlägiger EU-Richtlinien, insbesondere der Richtlinie des Rates 68/151/EWG vom 9.3.1968 („Publizitätsrichtlinie“) geschaffen wurde, wird von den Rekurswerbern nicht bestritten; sie hätten den Jahresabschluss zum 31.12.2009 spätestens am 30.09.2010 einreichen müssen.

Das Verfahren zur Durchsetzung der Offenlegungspflicht wurde mit Wirkung ab 1.1.2011 grundlegend reformiert. Bislang war stufenweise vorzugehen: als erster Schritt nach Ablauf der neunmonatigen Offenlegungsfrist war eine Nachfrist, verbunden mit einer Strafandrohung, zu setzen; erst nach fruchtlosem Ablauf der Nachfrist durfte die angedrohte Strafe verhängt werden. Gemäß § 283 Abs 1 UGB in seiner am 1.1.2011 in Kraft getretenen Fassung ist nun die Zwangsstrafe sofort nach Ablauf der Offenlegungsfrist zu verhängen. Dabei ist nach § 283 Abs 2 UGB so vorzugehen, dass ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung eine Zwangsstrafe von EUR 700,- verhängt wird, wenn die Offenlegung nicht bis zum letzten Tag der Offenlegungsfrist erfolgt und auch nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist.

Von einer Zwangsstrafverfügung kann nur abgesehen werden, wenn der Geschäftsführer offenkundig durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der fristgerechten Offenlegung gehindert war. In diesem Fall kann – soweit bis dahin noch keine Offenlegung erfolgt ist – mit der Verhängung der Zwangsstrafverfügung bis zum Ablauf von vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses, welches der Offenlegung entgegen stand, zugewartet werden.

              Gegen die Zwangsstrafverfügung können der Geschäftsführer und die Gesellschaft binnen 14 Tagen Einspruch erheben. Darin sind die Gründe für die Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht anzuführen. Mit der rechtzeitigen Erhebung des begründeten Einspruchs tritt die Zwangsstrafverfügung außer Kraft. Über die Verhängung der Zwangsstrafe ist dann im ordentlichen Verfahren mit Beschluss zu entscheiden. Ist nicht mit Einstellung des Zwangsstrafverfahrens vorzugehen, so kann – ohne vorherige Androhung – wieder eine Zwangsstrafe von EUR 700,- bis EUR 3.600,- verhängt werden.

              2. Unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis:              

              Welche Einspruchsgründe zur Einstellung des Zwangsstrafverfahrens nach Durchführung des ordentlichen Verfahrens führen können, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Es liegt aber nahe, dass es sich dabei – abgesehen von den hier nicht vorliegenden Fällen der ohnehin rechtzeitigen Offenlegung, des Nichtbestehens einer Offenlegungsverpflichtung oder der dauerhaften Unmöglichkeit der Offenlegung – ebenfalls nur um unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignisse im Sinn des § 283 Abs 2 UGB handeln kann, die hier zwar nicht offenkundig sein, aber jedenfalls die Organe an der fristgerechten Offenlegung gehindert haben müssen.

Zur Beantwortung der Frage, was unter einem „unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignis“ zu verstehen ist, kann auf die reichhaltige Lehre und Rechtsprechung zu § 146 ZPO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) zurückgegriffen werden, wo der selbe Begriff verwendet wird. Auch die Gesetzesmaterialien (981 d.B. XXIV. GP, zu Art 34) verweisen darauf:

Unter Ereignis ist demnach in der Regel jedes Geschehen oder jede Tatsache zu verstehen (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny² II/2 § 146 ZPO Rz 4). Unvorhergesehen ist es dann, wenn es die Partei tatsächlich nicht mit einberechnet hat und sie dessen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf die ihr bzw. ihrem Vertreter persönlich zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (subjektiver Maßstab); die Partei muss aber alle ihr zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Prozesshandlung fristgerecht vornehmen zu können. Der Begriff „unvorhergesehen“ ist somit durch den Begriff „unverschuldet“ zu ergänzen (Deixler-Hübner aaO, Rz 6). Mangels einer dem § 146 Abs 1 letzter Satz ZPO vergleichbaren Bestimmung reicht im Zwangsstrafverfahren – wie bisher (RIS-Justiz RS0123571) - schon ein minderer Grad des Versehens (leichte Fahrlässigkeit) aus, um die Unvorhersehbarkeit zu beseitigen. Unabwendbar ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt durch die Partei nicht verhindert werden konnte, auch wenn sie dessen Eintritt voraussah (objektives Kriterium; Deixler-Hübner aaO Rz 7).

              Das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis muss für die konkrete Versäumung auch kausal sein. Nur wenn die Versäumung ausschließlich auf dieses Ereignis zurückzuführen ist, kann dies einen tauglichen Einspruchsgrund darstellen. Die Gesellschaftsorgane sind daher verpflichtet, alles zu tun, um trotz des eingetretenen Ereignisses den Jahresabschluss rechtzeitig einzureichen. Es muss von ihnen erwartet werden, dass sie dabei alles unternehmen, was ihnen persönlich zugemutet werden kann, um die rechtzeitige Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten, wenn auch dabei der Bogen der Zumutbarkeit nicht überspannt werden darf (vgl. zum Wiedereinsetzungsverfahren Deixler-Hübner aaO, RZ 8 mwN; in diesem Sinne, wenn auch mit etwas anderer Begründung, schon die Rechtsprechung zur alten Fassung des § 283 UGB, vgl. wiederum RIS-Justiz RS0123571).

              Gelingt es den Organen (oder ihren Hilfspersonen, siehe gleich unten 3.) trotz aller zumutbarer Bemühungen nicht, den Jahresabschluss rechtzeitig (also 9 Monate nach dem Stichtag) einzureichen, so ist von ihnen wenigstens zu erwarten, dass sie das Versäumte unverzüglich nachholen, sobald das Hindernis in Form des unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses weggefallen ist. Aus der Bestimmung des § 283 Abs 2 3. Satz UGB, wonach mit der Verhängung einer Zwangsstrafverfügung bis zu vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses zugewartet werden kann, ist zu schließen, dass die Offenlegungspflicht nach Wegfall des Hindernisses wieder „auflebt“ (Dokalik/Birnbauer, Das neue Verfahren zur Erzwingung der Offenlegung nach den §§ 277 ff UGB, GesRZ 2011, 24) und binnen längstens vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu erfüllen ist. Offenbar geht der Gesetzgeber davon aus, dass eine Nachfrist von (maximal) vier Wochen grundsätzlich ausreicht, um einen ausständigen Jahresabschluss (fertig) zu erstellen und nachzureichen. Auch die Nichteinhaltung der Nachfrist ab Wegfall des Hindernisses führt also zur Strafverhängung, sofern nicht erneut ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eintritt, welches das Organ auch an der Einhaltung dieser Frist hindert. Die Einstellung des Verfahrens kann nur erfolgen, wenn der Gesellschaft, ihren Organen und ihren Hilfspersonen zum Zeitpunkt der Entscheidung keinerlei Säumnis vorgeworfen werden kann.

              3. Zurechnung von Hilfspersonen:

              Nach der noch zur alten Rechtslage ergangenen Rechtsprechung des Rekursgerichtes (vgl. zuletzt etwa 4 R 335/10d mwN) müssen sich die Organe (und damit auch die Gesellschaft selbst) das Verschulden einer Hilfsperson wie ein eigenes zurechnen lassen. Es wäre nämlich mit der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Effizienz des Zwangsstrafverfahrens nicht vereinbar, wenn die zur Offenlegung verpflichteten Personen und Gesellschaften jene strengen Anforderungen, die bei der Erfüllung der Offenlegungspflicht an sie gestellt werden, durch Beiziehung von Hilfspersonen auf bloße Überwachungspflichten reduzieren könnten. Der Gesetzeszweck einer effizienten Durchsetzung der Offenlegungspflicht darf nicht dadurch unterwandert werden, dass bei Verschulden von Hilfspersonen die Verhängung einer Zwangsstrafe zu unterbleiben hätte, obwohl der betreffende Jahresabschluss noch immer nicht offen gelegt ist.

              An dieser Rechtsprechung, die sich mit der Judikatur des Obersten Gerichtshofes zum Wiedereinsetzungsverfahren (RIS-Justiz RS0111777) deckt, ist nach Inkrafttreten der Neufassung des § 283 UGB umso mehr festzuhalten, als der Gesetzgeber nunmehr ausdrücklich Analogien zum Wiedereinsetzungsverfahren in das Zwangsstrafverfahren eingeführt hat („unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis“). Der Oberste Gerichtshof hat sich in seinen Entscheidungen zur Gehilfenzurechnung im Wiedereinsetzungsverfahren (vgl. etwa 1 Ob 373/98d = SZ 72/51) auf die wohlbegründete und überzeugende Lehrmeinung Ertls („Der Wiedereinsetzungswerber und seine Gehilfen“ in RZ 1998, 3) gestützt. Dieser kommt aufgrund einer teleologischen Interpretation des § 146 ZPO zum Ergebnis, dass sich ein Wiedereinsetzungswerber nicht nur das eigene (grobe) Verschulden, sondern auch das seines Anwalts und dessen Substituten, Konzipienten und Kanzleikräften zurechnen lassen muss, und zwar unabhängig von einem allfälligen Organisationsverschulden des Anwalts:

              „Würde dem Wiedereinsetzungswerber das Verschulden all dieser Hilfspersonen nicht zugerechnet, dann bleibt es nämlich im Anwaltsprozess sanktionslos, was böse Folgen für die zügige Führung von Prozessen hat und der Gegenpartei nicht zugemutet werden soll. Das gilt nicht nur für die eigentlichen Vertretungshandlungen, sondern auch für die zugehörigen Vorbereitungshandlungen. Hätte die Partei ihren Prozess nicht in die Hände des Anwalts gelegt, sondern ihn selbst geführt, so wäre es ihre Sache, die eigenen Hilfspersonen – also etwa die eigene Kanzlei – zu überwachen oder deren Tätigkeit eben selbst auszuüben, womit sie jedenfalls durch § 146 ZPO zu sanktionieren wäre.“

              Diese Überlegungen sind – bei aller Unterschiedlichkeit zwischen der Versäumung einer prozessualen Ausschlussfrist und der materiell-rechtlichen Frist zur Offenlegung von Jahresabschlüssen – auch für das Zwangsstrafverfahren fruchtbar zu machen. Hier wie dort geht es um eine Sanktion für eine Fristversäumnis; hier wie dort soll verhindert werden, dass durch die „Auslagerung“ von Handlungspflichten Versäumnisse sanktionslos werden und dadurch ein Schaden – dort des Prozessgegners, hier der an der Offenlagung interessierten Öffentlichkeit – durch die faktische Verlängerung von Fristen entsteht. In Anlehnung an Ertl kann gesagt werden: Hätten die Geschäftsführer die (ihnen nach §§ 190ff, 277ff UGB obliegende) Erstellung und Einreichung des Jahresabschlusses samt den zugehörigen Vorbereitungshandlungen wie etwa die Buchführung nicht in die Hände des Steuerberaters gelegt, sondern selbst durchgeführt, so wäre es ihre Sache, die eigenen Hilfspersonen zu überwachen oder deren Tätigkeit selbst auszuüben, womit sie jedenfalls durch § 283 UGB zu sanktionieren wären.

              All dies kann – was besonders im vorliegenden Fall relevant ist – freilich stets nur gelten, soweit und solange die Hilfspersonen auch tatsächlich als solche bestellt sind. Endet die Tätigkeit einer Hilfsperson für die Gesellschaft bzw. deren Organe aus welchem Grund auch immer, so sind ihre nach diesem Zeitpunkt gesetzten Handlungen oder Unterlassungen nicht mehr der Gesellschaft oder deren Organen zuzurechnen, sondern können gegebenenfalls den Charakter eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses annehmen.

              4. Grundrechtliche Aspekte:

Durch die Novellierung des § 283 UGB, insbesondere auch durch die Einfügung des Wortes „zeitgerechten“ vor „Befolgung“ (der Offenlegungspflicht), wurde der vom Gesetzgeber schon bisher beabsichtigte repressive Charakter der firmenbuchrechtlichen Zwangsstrafen (vgl. dazu die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs in 6 Ob 282/08a und 6 Ob 252/09s) weiter betont. Es handelt sich nunmehr eindeutig um eine Strafe für das nicht zeitgerechte Einreichen des Jahresabschlusses. Damit stellt sich auch die Frage der Anwendbarkeit der für das Strafverfahren geltenden Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind für die Einordnung eines Verfahrens als „strafrechtlich“ im Sinne (insbesondere) des Art 6 EMRK drei Kriterien maßgeblich: die Qualifikation des Delikts als strafrechtlich gemäß der nationalen Rechtsordnung, der Charakter des Delikts und die Schwere der aufzuerlegenden Strafe (RIS-Justiz RS0120945). Dabei lässt der EGMR schon eines dieser Kriterien genügen, um die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK zu begründen. So wurde etwa entschieden, dass die Verhängung eines Steuerzuschlags wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung durch das Finanzamt Strafcharakter hat, auch wenn ein solcher Zuschlag bloß geringfügig (im Anlassfall: rund EUR 300,--) und nach nationalem Recht dem Steuerrecht zuzuordnen ist; entscheidend sei, dass die Verhängung auf einer allgemeinen Rechtsvorschrift beruht, die auf alle Steuerzahler gleiche Anwendung findet, und dass der Zuschlag nicht als finanzielle Entschädigung für entstandenen Schaden, sondern als Bestrafung mit abschreckendem Charakter gedacht ist (EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01).

Diese Überlegungen treffen auf das österreichische Zwangsstrafverfahren umso mehr zu, als der Strafcharakter hier vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich gewollt und in den Materialien (981 dB XXIV. GP, zu Art. 34) ausdrücklich angeführt ist, und auch die angedrohten Strafen von bis zu EUR 3.600,-- (bei großen Kapitalgesellschaften gemäß § 283 Abs 5 UGB sogar bis zu EUR 21.600,--) pro Organ bzw. Gesellschaft nicht mehr als bloß geringfügig anzusehen sind. Nach Ansicht des Rekursgerichtes sind die strafrechtlichen Bestimmungen der EMRK daher auf das Zwangsstrafverfahren grundsätzlich anwendbar.

Zwangsstrafen im Firmenbuchverfahren gehören – so wie die in der zitierten Entscheidung angesprochenen Steuerzuschläge - nicht dem Kernbereich des Strafrechts an, sodass strafrechtliche Garantien nicht zur vollen Anwendung gelangen müssen (vgl. neuerlich EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01). So kann im Zwangsstrafverfahren auf die in Art 6 EMRK vorgesehene öffentliche mündliche Verhandlung und Urteilsverkündung verzichtet werden. Sehr wohl gebietet es aber die Fairness des Verfahrens, auf die von den zu Bestrafenden zu ihrer „Verteidigung“ vorgebrachten Argumente einzugehen, ihre „Entlastungszeugen“ anzuhören und die Unschuldsvermutung zu respektieren. Die Art und Weise, wie diese Verfahrensgarantien zu gewährleisten sind, ergibt sich dabei aus dem jeweils anzuwendenden Verfahrensrecht.

Ebenso anwendbar ist aus den genannten Gründen auch das Rückwirkungsverbot des Art 7 Abs 1 EMRK. Ein Verstoß gegen die Offenlegungspflicht kann nur dann zur Verhängung einer Zwangsstrafe führen, wenn er zur Zeit seiner Begehung strafbar war. Bis 31.12.2010 war es Voraussetzung der Strafbarkeit, dass das säumige Organ die ihm unter Strafandrohung gesetzte Nachfrist ungenutzt verstreichen lassen hatte (RIS-Justiz RS0113939); ohne Strafandrohung war ein Verstoß gegen die Offenlegungspflicht also nicht strafbar. Durch die am 1.1.2011 in Kraft getretene Novelle ist nun die Strafandrohung als Voraussetzung der Strafbarkeit weggefallen. Gemäß Satz 2 der Übergangsbestimmung des § 906 Abs 23 UGB ist die neue Rechtslage auf Verstöße gegen die in § 283 Abs 1 UGB genannten Pflichten anzuwenden, die nach dem 1.1.2011 gesetzt werden oder fortdauern. Daraus könnte geschlossen werden, dass auch alle vor dem 1.1.2011 begonnenen Verstöße nach neuer Rechtslage zu ahnden sind, wenn sie nicht spätestens am 1.1.2011 beendet wurden; damit würden rückwirkend auch solche Verstöße strafbar, die es bis dahin mangels Strafandrohung noch nicht waren.

Was die Strafverhängung betrifft, ist diese Problematik weitgehend dadurch entschärft, dass Zwangsstrafverfügungen nach neuer Rechtslage ohnehin nur dann verhängt werden dürfen, wenn die Offenlegung nicht bis zum 28. Februar 2011 nachgeholt wurde und auch nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist. Damit wird im Ergebnis nur eine nach In-Kraft-Treten der Novelle andauernde Säumnis sanktioniert.

Relevant bleibt das Rückwirkungsverbot jedoch im Hinblick auf das Auftreten von unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignissen, die die fristgerechte Offenlegung hindern, und auf die Zurechnung von Hilfspersonen: Nach der Rechtsprechung des Rekursgerichtes zur alten Rechtslage war keine Zwangsstrafe zu verhängen, wenn während der vom Gericht gesetzten Nachfrist Hindernisse auftraten, die die Einreichung des Jahresabschlusses innerhalb der Nachfrist unmöglich machten. Die neue Rechtslage kann daher nicht so ausgelegt werden, dass nur dann von der Verhängung einer Zwangsstrafe abzusehen wäre, wenn das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis die Einreichung des Jahresabschlusses zum Fälligkeitstermin (neun Monate nach dem Stichtag) gehindert hätte. Dies würde nämlich eine mit dem Rückwirkungsverbot nicht vereinbare Schlechterstellung jener Fälle, in denen bis zum 31.12.2010 keine Nachfrist gesetzt wurde, gegenüber den Fällen bedeuten, in denen eine Nachfrist gesetzt wurde und in dieser Frist (somit lange nach dem gesetzlichen Einreichtermin) ein beachtlicher Hinderungsgrund aufgetreten ist.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die im Budgetbegleitgesetz 2011 „verpackte“ Novelle sehr kurzfristig in Kraft gesetzt wurde; die Beschlussfassung im Nationalrat erfolgte erst am 20.12.2010, die Kundmachung im Bundesgesetzblatt am 30.12.2010. Bis dahin konnten sich die Organe von Kapitalgesellschaften darauf verlassen, dass sie wegen der Nichtvorlage fälliger Jahresabschlüsse nicht ohne vorherige Strafandrohung unter Nachfristsetzung bestraft werden würden. Es gebietet daher das aus der EMRK abzuleitende Verhältnismäßigkeitsgebot, den Organen eine angemessene Übergangsfrist zur „Umstellung“ einzuräumen. Dies hat der Gesetzgeber mit der zweimonatigen Frist (bis 28.2.2011) des § 906 Abs 23 UGB getan.

Die Übergangsbestimmung des § 906 Abs 23 UGB ist daher so auszulegen, dass auch unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignisse, die zwar nach Ablauf der neunmonatigen Offenlegungsfrist, jedoch vor dem 1.3.2011 eingetreten sind, der Verhängung einer Zwangsstrafe entgegen stehen.

              5. Verfahrensrechtliche Aspekte:

Beim Zwangsstrafverfahren handelt es sich gemäß § 15 FBG um ein Außerstreitverfahren, auf das die allgemeinen Bestimmungen des Außerstreitgesetzes (§§ 1 – 80 AußStrG mit Ausnahme der §§ 72 – 77) anzuwenden sind und das folglich vom Untersuchungsgrundsatz und einer weitgehenden Manuduktionspflicht des Gerichtes für unvertretene Parteien geprägt ist.

Gemäß § 13 Abs 1 AußStrG hat das Gericht von Amts wegen für den Fortgang des Verfahrens zu sorgen und dieses so zu gestalten, dass eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung des Verfahrensgegenstands und eine möglichst kurze Verfahrensdauer gewährleistet sind. Gemäß § 14 AußStrG hat das Gericht die Parteien, die nicht durch einen Rechtsanwalt oder Notar vertreten sind, über die bei dem Gegenstand des Verfahrens in Betracht kommenden besonderen Vorbringen und Beweisanbote zu belehren, die der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienen können, und sie zur Vornahme der sich anbietenden derartigen Verfahrenshandlungen anzuleiten. Gemäß § 16 AußStrG hat das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen aufgeklärt werden, und sämtliche Hinweise auf solche Tatsachen entsprechend zu berücksichtigen; umgekehrt haben die Parteien vollständig und wahrheitsgemäß alle ihnen bekannten, für die Entscheidung des Gerichtes maßgebenden Tatsachen und Beweise vorzubringen bzw. anzubieten und alle darauf gerichteten Fragen des Gerichtes zu beantworten.

Diese Grundsätze erlauben es nicht, den von einer Zwangsstrafverfügung betroffenen Parteien – besonders, wenn sie wie hier bei der Einspruchserhebung (noch) nicht anwaltlich vertreten sind – eine strenge Behauptungs- und Beweislast in dem Sinne aufzubürden, dass sie, um die Einstellung des Verfahrens erreichen zu können, schon im Einspruch den lückenlosen und schlüssigen Nachweis eines sie an der rechtzeitigen Offenlegung hindernden unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses erbringen müssen. Selbst die formstrengere Zivilprozessordnung sieht Anleitungspflichten des Gerichtes bei unklarem oder unvollständigem Vorbringen vor (§§ 182 f., 435 ZPO).

Im Einspruch sind gemäß § 283 Abs 2 6.Satz UGB die Gründe für die Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht anzugeben; schon im Hinblick auf den begrenzten Platz auf dem von der Justiz zur Verfügung gestellten Einspruchsformular ist hier aber nur eine zusammengefasste, stichwortartige Darstellung der Gründe zu erwarten. Reichen diese Angaben nicht aus, um beurteilen zu können, ob ein Einstellungsgrund vorliegt oder nicht, so hat das Gericht gemäß §§ 15 FBG, 14 AußStrG für deren Vervollständigung – auch durch Angabe von Beweismitteln - zu sorgen. Wird danach ein Sachverhalt behauptet, der tatsächlich die Einstellung des Verfahrens rechtfertigt, so sind die angebotenen, allenfalls auch weitere Beweise aufzunehmen und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Nur wenn das Vorbringen im Einspruch so gelagert ist, dass eine Einstellung von Vornherein nicht infrage kommt, etwa weil der ins Treffen geführte Grund kein Hindernis für die rechtzeitige Offenlegung sein kann, ist auch im ordentlichen Verfahren sofort wieder eine Zwangsstrafe zu verhängen.

              Dies mag zwar zu einer Mehrbelastung der Firmenbuchgerichte gegenüber der bisherigen Praxis führen, wo vor Verhängung einer Zwangsstrafe sehr selten Hinderungsgründe mitgeteilt wurden und die erstmalige Geltendmachung solcher Gründe im Rekurs schon am Neuerungsverbot des § 49 Abs 2 AußStrG scheiterte. Es ist aber im Sinne eines rechtsstaatlichen, an der EMRK und den Grundsätzen des Außerstreitgesetzes orientierten Verfahrens in Kauf zu nehmen, worauf auch schon die Gesetzesmaterialien hinweisen (981 d.B. XXIV. GP, zu Art. 34).

              6. Vorliegender Fall:

              Der Geschäftsführer und die Gesellschaft haben sich in ihren Einsprüchen darauf berufen, dass es ihnen nach einem Wechsel der Buchhaltungskanzlei trotz mehrmaliger Aufforderungen bisher nicht möglich gewesen sei, alle Unterlagen vollständig und rechtzeitig von der bisherigen steuerlichen Vertretung zu bekommen. Durchaus im Widerspruch dazu behaupten sie nun in ihren Rekursen, der Geschäftsführer habe „nach Durchsicht der Unterlagen“ feststellen müssen, dass die Firmenbucheingaben bezüglich des Jahresabschlusses 2009 noch nicht erledigt gewesen seien, weshalb es zu einer Verspätung gekommen sei.

              Der Rekursentscheidung sind auch im außerstreitigen Firmenbuchverfahren (§ 15 FBG) die in erster Instanz vorgebrachten Tatsachen und angebotenen Beweismittel (zuzüglich allenfalls zulässiger Neuerungen, § 49 AußStrG) sowie die Erhebungsergebnisse und Tatsachenfeststellungen des erstinstanzlichen Verfahrens (soweit sie nicht durch die Ergebnisse des Rekursverfahrerns eine Berichtigung erfahren haben, § 53 AußStrG) zugrunde zu legen. Ungeachtet des Umstandes, dass sich der Rekurs auf kein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis mehr beruft, das eine Einstellung des Zwangsstrafverfahrens rechtfertigen könnte, ist daher bei der Rekursentscheidung das Vorbringen in den Einsprüchen zu berücksichtigen.

              Sollte die frühere Buchhaltungskanzlei L***** tatsächlich die für die Einreichung des Jahresabschlusses 2009 erforderlichen Unterlagen nicht vollständig und rechtzeitig herausgegeben haben, so wäre dies ein schuldhaftes Verhalten, das sich die Gesellschaft und die Geschäftsführer im Sinne der oben dargelegten Judikatur so lange zurechnen lassen müssten, als diese Buchhaltungskanzlei für sie tätig war. Sie wären dann auf allfällige Schadenersatzansprüche gegen die L***** verwiesen.

              Nun wurde aber das die rechtzeitige Offenlegung verhindernde Verhalten im September 2010 gesetzt und wäre mangels Strafandrohung nach dem oben zur Rückwirkungsproblematik Gesagten bis Ende Februar 2011 straffrei geblieben. Ab dann wäre der Verstoß auch ohne Androhung strafbar gewesen, doch soll die L***** laut Rekursvorbringen mit Ende 2010 ihre Tätigkeit in Österreich eingestellt haben, womit sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als Gehilfin der Geschäftsführer und der Gesellschaft angesehen werden könnte. Damit könnte die Nichtherausgabe der Unterlagen – entsprechende Bemühungen der Geschäftsführer zur Wiedererlangung vorausgesetzt - tatsächlich ein (nunmehr von außen kommendes) unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis sein, das sie an der rechtzeitigen Einreichung des Jahresabschlusses gehindert hat.

              Im Sinne der Unschuldsvermutung ist nicht zu unterstellen, dass die Geschäftsführer nicht alles unternommen haben, was ihnen persönlich zugemutet werden kann, um die rechtzeitige Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten. Es wäre vielmehr Sache des Erstgerichtes gewesen, dies sowie alle übrigen Sachverhaltselemente durch geeignete Erhebungen im ordentlichen Verfahren zu klären. Die Verhängung von Zwangsstrafen lediglich aufgrund des zwar unvollständigen, aber das Vorliegen eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses nicht von vornherein ausschließenden Vorbringens in den Einsprüchen begründet eine gemäß § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen aufzugreifende Mangelhaftigkeit des Verfahrens.

              Eine Verfahrensergänzung durch das Rekursgericht kommt im Hinblick auf die Unabsehbarkeit des Umfanges des Verfahrensstoffes (vgl. Klicka in Rechberger, Außerstreitgesetz § 57 RZ 1) und auch deshalb nicht in Frage, weil es nicht Aufgabe des Rekursgerichtes sein kann, das gesamte in erster Instanz unterbliebene Ermittlungsverfahren nachzuholen. Die angefochtenen Beschlüsse sind daher gemäß § 57 Z 5 AußStrG aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück zu verweisen.

              Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren von Amts wegen Beweise (etwa die Einvernahme der Geschäftsführer oder von Vertretern der früheren oder auch jetzigen Buchhaltungskanzlei) über die behauptete Nichtherausgabe der Unterlagen und die Bemühungen der Geschäftsführer zu deren Wiedererlangung - auch in zeitlicher Hinsicht - aufzunehmen haben. Auf dieser Grundlage wird es Feststellungen zu den oben aufgezählten Tatfragen zu treffen und danach zu beurteilen haben, ob ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis im Sinne des § 283 Abs 2 UGB vorgelegen hat. Gegebenenfalls wird auch die Einhaltung der vierwöchigen Nachfrist ab Wegfall des Hindernisses zu prüfen sein. Erst dann kann gesagt werden, ob die Verhängung von Zwangsstrafen oder die Einstellung des Verfahrens gerechtfertigt ist.

Textnummer

EW0000515

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2011:00400R00316.11M.0803.000

Im RIS seit

23.09.2011

Zuletzt aktualisiert am

23.09.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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