TE OGH 2011/8/30 10Ob68/11i

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Veröffentlicht am 30.08.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Horätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj B*****, geboren am 6. August 2000, vertreten durch die Mutter Mag. *****, diese vertreten durch Mag. Thomas M. Egerth, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs des Vaters Dr. F*****, vertreten durch Beneder Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 27. April 2011, GZ 23 R 179/11p-69, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Purkersdorf vom 16. Februar 2011, GZ 1 PS 65/10v-62, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Minderjährige ist das eheliche Kind von Mag. ***** und Dr. F*****. Die Eltern leben seit 10. 6. 2002 in getrennten Haushalten.

Die Mutter beantragte am 18. 6. 2003 die Zuweisung der alleinigen Obsorge (ON 1).

Der Vater beantragte die Abweisung dieses Antrags (ON 7).

Im Verfahren wurde ein psychologisches Gutachten eingeholt, in welchem die bestellte Sachverständige zu dem Ergebnis gelangte, die vom Vater angestrebte gemeinsame Obsorge scheitere derzeit an der mangelnden Kommunikationsfähigkeit beider Elternteile. Sie seien derzeit nicht in der Lage, einen Konsens hinsichtlich der Belange des Kindes zu finden. Für eine Übertragung der Obsorge an die Mutter sprächen die Beziehungs-, Betreuungs- und Umgebungskontinuität sowie ihre besseren zeitlichen Möglichkeiten für die Betreuung des Kindes (ON 13).

In der Tagsatzung am 5. 3. 2004 (ON 23) wurde unter anderem festgehalten, dass Einigkeit darüber bestehe, dass die Minderjährige ihren hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter habe und in Zukunft haben werde. Das Erstgericht kündigte in der Folge mit einer Note von 27. 9. 2004 (ON 39) entsprechend der Erörterung in der Tagsatzung im Scheidungsverfahren vom 17. 9. 2004 eine Beschlussfassung dahingehend an, dass die Obsorge für die Minderjährige in Hinkunft der Mutter allein zustehe und dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt werde. Gleichzeitig räumte das Erstgericht den Eltern eine Äußerungsmöglichkeit binnen 14 Tagen ein.

Da keine Äußerungen erfolgten, wurde mit dem in Rechtskraft erwachsenen Beschluss des Erstgerichts vom 22. 10. 2004 (ON 42) die Obsorge für die Minderjährige dem Vater entzogen, sodass sie in Hinkunft der Mutter allein zukommt, und dem Vater ein näher festgelegtes Besuchsrecht eingeräumt. Begründet wurde dieser Beschluss vom Erstgericht mit der Einigung der Eltern im Obsorge- und Besuchsrechtsverfahren, welcher keine pflegschaftsbehördlichen Bedenken entgegenstünden. In der Folge gab es immer wieder Auseinandersetzungen um das Besuchsrecht sowie um Informationsrechte, die der Vater geltend machte.

Mit Beschluss des Erstgerichts vom 27. 9. 2005, 1 C 94/03t, wurde die Ehe zwischen den Eltern der Minderjährigen gemäß § 55a EheG geschieden. Zuvor hatten sie am selben Tag vor Gericht einen Vergleich geschlossen, in dem sie zu den Rechten und Pflichten zur Minderjährigen als gemeinsames Kind auf den Pflegschaftsakt des Erstgerichts verwiesen.

In der Folge beantragte der Vater mit Schriftsatz vom 17. 3. 2010 (ON 45 in Band 2) das gemeinsame Sorgerecht für die Minderjährige. Er begründete seinen Antrag im Wesentlichen damit, dass er sich darüber im Klaren sei, dass die gemeinsame Obsorge nur einvernehmlich erfolgen könne. Er lade daher die Mutter ein, ein entsprechendes Einvernehmen herzustellen. Im Übrigen sei er der Auffassung, dass das österrreichische Scheidungs- und Obsorgerecht moderner gestaltet werden könnte und die gemeinsame Obsorge der Normalfall sein sollte.

Die Mutter beantragte die Abweisung des Antrags. Der Vater ignoriere seit geraumer Zeit ihr Obsorgerecht, indem er sich weigere, mit ihr Gespräche über die Minderjährige betreffende Belange zu führen. Er rede bzw telefoniere nur mehr direkt mit der Minderjährigen (ON 49 in Band 2).

Der Vater wiederholte mit Schriftsatz vom 7. 10. 2010 (ON 52 in Band 2) seinen Antrag auf gemeinsame Obsorge, wobei der Lebensmittelpunkt der Minderjährigen bei der Mutter verbleiben solle. Er verwies insbesondere auf Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Beschwerdesache Zaunegger gegen Deutschland, Bsw 22028/04, und vertrat die Auffassung, eine gemeinsame Obsorge würde auch langwierige gerichtliche Besuchsrechtsstreitigkeiten zwischen den Eltern vermeiden, was im Interesse des Kindes liege.

Die Mutter sprach sich weiterhin gegen eine gemeinsame Obsorge aus, da sich seit der Entscheidung über die Obsorge die Verhältnisse im Hinblick auf das Kindeswohl nicht verändert hätten, der Vater weiterhin jegliche Kommunikation mit ihr verweigere und daher seit neun Jahren in keiner die Minderjährige betreffenden Angelegenheit eine einvernehmliche Lösung zwischen den Eltern erzielt worden sei (ON 55 in Band 2).

Der Vater hielt dem im Wesentlichen entgegen, dass die Schwierigkeiten bei der Konsensfindung betreffend die Minderjährige auf das Verhalten der Mutter zurückzuführen seien und eine gemeinsame Obsorge auch im wohlverstandenen Interesse der Minderjährigen liege (ON 58 in Band 2).

In der Tagsatzung am 21. 12. 2010 konnte lediglich eine Einigung hinsichtlich des Besuchsrechts des Vaters erzielt werden (ON 61 in Band 2).

Das Erstgericht wies mit dem nunmehr gegenständlichen Beschluss den Antrag des Vaters auf Übertragung der gemeinsamen Obsorge für die Minderjährige an die Eltern ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, dass es nach der eindeutigen Regelung des § 177a ABGB für die gemeinsame Obsorge einer Vereinbarung der Eltern bedürfe. Die Möglichkeit, gegen den Willen eines Elternteils die gemeinsame Obsorge festzulegen, sei in der österreichischen Rechtsordnung nicht vorgesehen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters keine Folge. Es verwies auf die bereits vom Erstgericht dargelegte Rechtslage und legte mit ausführlicher Begründung dar, dass gegen diese Rechtslage auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verfassungsgerichtshofs keine Bedenken bestünden. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Beschwerdesachen Zaunegger gegen Deutschland, Bsw 22028/04, und Sporer gegen Österreich, Bsw 35637/03, der Grundsatz abgeleitet werden könnte, dass grundsätzlich immer eine gemeinsame Obsorge beider Elternteile Platz zu greifen habe, es sei denn, das Kindeswohl lasse im Einzelfall die Alleinobsorge eines Elternteils notwendig erscheinen. Zu dieser erheblichen Rechtsfrage fehle eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne einer Stattgebung seines Antrags abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) - Ausspruch des Rekursgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG ab.

Der Revisionsrekurswerber vertritt  - zusammengefasst - weiterhin die Rechtsansicht, die §§ 177, 177a ABGB seien in verfassungs- und menschenrechtskonformer Weise dahingehend auszulegen, dass eine Vereinbarung zwischen den Elternteilen dann nicht erforderlich sei, wenn die gemeinsame Obsorge am Besten dem Kindeswohl entspreche. Sollte der Oberste Gerichtshof die Rechtsansicht der Vorinstanzen teilen, wonach die §§ 177, 177a ABGB nicht dahingehend ausgelegt werden könnten, dass das Gericht ohne Einigung der Eltern die gemeinsame Obsorge bestimmen könne, so werde die Stellung eines Antrags auf Aufhebung der §§ 177 Abs 2, 177a Abs 1 und 2 ABGB wegen Verfassungswidrigkeit an den Verfassungsgerichtshof angeregt.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1.) Auszugehen ist davon, dass der Mutter aufgrund des - auch im seinerzeitigen Einvernehmen mit dem Vater ergangenen - rechtskräftigen Beschlusses des Erstgerichts vom 22. 10. 2004 die Obsorge für die Minderjährige allein zusteht. In dem zwischen den Eltern vor ihrer einvernehmlichen Scheidung am 27. 9. 2005 geschlossenen Vergleich wurde in der Frage der Rechte und Pflichten der Eltern zur Minderjährigen keine davon abweichende Vereinbarung getroffen, sondern es wurde ausdrücklich auf den Pflegschaftsakt und damit auf die rechtskräftige Obsorgeentscheidung des Erstgerichts vom 22. 10. 2004 verwiesen. Es stand daher der Mutter auch nach der Scheidung der Ehe die Obsorge für die Minderjährige weiterhin allein zu.

2.) Ist die Obsorge einmal einem Elternteil allein - durch das Gericht oder eine Vereinbarung der Eltern - übertragen worden, so ist eine Änderung dieser Regelung, abgesehen vom Fall einer einvernehmlichen Regelung - schon im Interesse der Erziehungskontinuität - nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB - also die Gefährdung des Kindeswohls - gegeben sind (vgl Hopf in KBB3 §§ 177-177a ABGB Rz 9 mwN; RIS-Justiz RS0047841 ua). Das Pflegschaftsgericht kann daher nur dann in das Obsorgerecht eingreifen, wenn die im § 176 ABGB umschriebenen Tatbestände vorliegen. Es ist somit für die Entziehung der Obsorge nicht maßgeblich, ob die Verhältnisse beim anderen Elternteil an sich besser sind. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen bzw durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes konkret gefährden. Maßnahmen des Gerichts nach § 176 ABGB setzen daher eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustands voraus. Nach der Rechtsprechung sind auch Maßnahmen nach § 176 ABGB aus besonders wichtigen Gründen im Einzelfall zulässig - etwa wenn eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes gegeben ist. Weil allein der Umstand, dass es dem Kind beim anderen Elternteil oder beim Dritten besser geht in der Regel nicht ausschlaggebend ist, soll nach Möglichkeit der status quo beibehalten werden, weil nach der Rechtsprechung der Kontinuität der Erziehung größte Bedeutung beigemessen wird. Für eine Änderung der Obsorge ist es daher unbedingt erforderlich, dass dadurch eine beachtliche Verbesserung der Lage des Kindes und dessen Zukunftserwartungen erzielt werden kann (Deixler-Hübner in Klet?cka/Schauer, ABGB-ON §§ 176-176b Rz 3 ff mwN ua).

3.) Der Vater hat sich bei seinem Antragsvorbringen auf eine nachträgliche Änderung des Sachverhalts gegenüber der rechtskräftigen Obsorgeentscheidung des Erstgerichts vom 22. 10. 2004 gar nicht berufen. Er hat auch keine Gründe, die eine Änderung der Obsorgeregelung nach den dargestellten Kriterien des § 176 ABGB rechtfertigten, behauptet. Der Umstand, dass nach Ansicht des Vaters eine gemeinsame Obsorge der Eltern dem Kindeswohl besser entspreche als die Alleinobsorge der Mutter, rechtfertigt für sich allein noch nicht einen Eingriff in die bestehende Obsorgeregelung. Im Übrigen stellt die Fähigkeit und der Wille der Eltern, die Verantwortung für die Kinder (weiterhin) gemeinsam zu tragen, eine im Interesse des Kindeswohls unverzichtbare Voraussetzung für eine gemeinsame Obsorge der Eltern nach der Scheidung dar (vgl Pfurtscheller in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 177 Rz 18; P. Haidenthaller, Schwerpunkte der Kindschaftsrechts-Reform 2001, JBl 2001, 622 ff [641] mwN; VfGH 10. 10. 1995, G 154/93 ua, VfSlg 14.301; 22. 6. 1989, G 142/88 ua, VfSlg 12.103 ua). Aus dem Akteninhalt ergibt sich zweifelsfrei, dass kein Einvernehmen der Eltern über die (gemeinsame) Obsorgebetrauung besteht und auch kein einvernehmliches Vorgehen der Eltern bei der Ausübung der Obsorge erwartet werden kann.

4.) Selbst wenn man daher im Sinne der Rechtsansicht des Revisionsrekurswerbers davon ausginge, dass das Gericht auch ohne entsprechende Einigung der Eltern die gemeinsame Obsorge bestimmen könnte, wäre dadurch für den Rechtsstandpunkt des Revisionsrekurswerbers im vorliegenden Fall nichts gewonnen, weil die für eine Änderung der Obsorgeregelung nach § 176 ABGB erforderlichen Voraussetzungen jedenfalls nicht vorliegen. Die Frage, ob eine Änderung der Obsorgeregelung im Sinn des § 176 ABGB gerechtfertigt ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, sodass ihr grundsätzlich keine erhebliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zukommt (RIS-Justiz RS0114625).

5.) Ausgehend von der dargelegten Rechtsansicht kommt es auf die vom Rekursgericht als Grund für die Zulassung des ordentlichen Revisionsrekurses angegebene Rechtsfrage nicht mehr an. Der Revisionsrekurs des Vaters war daher mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

Schlagworte

Familienrecht

Textnummer

E98427

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0100OB00068.11I.0830.000

Im RIS seit

06.10.2011

Zuletzt aktualisiert am

15.05.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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