TE Vwgh Erkenntnis 2011/5/19 2009/21/0214

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Veröffentlicht am 19.05.2011
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
25/04 Sonstiges Strafprozessrecht;
32/07 Stempelgebühren Rechtsgebühren Stempelmarken;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
41/02 Staatsbürgerschaft;

Norm

AVG §1;
AVG §67a Abs1;
B-VG Art129a Abs1 Z2;
FrÄG 2009;
FrPolG 2005 §39 Abs5 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §39;
FrPolG 2005 §74 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §74 Abs2 Z3;
FrPolG 2005 §74;
FrPolG 2005 §76 Abs3;
FrPolG 2005 §77 Abs5;
FrPolG 2005 §82 Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §82;
FrPolG 2005 §83;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs3;
VwRallg;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):2009/21/0224

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die verbundenen Beschwerden I.) der Bundesministerin für Inneres, 1014 Wien, Herrengasse 7 (hg. Zl. 2009/21/0214), und II. 1.) der S, 2.) des T, 3.) des Tu, und 4.) des A, alle vertreten durch Dr. Bernhard Glawitsch, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Graben 9 (hg. Zl. 2009/21/0224), jeweils gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 23. Juni 2009, Zlen. VwSen 401002/8/SR/Sta, VwSen 401003/3/SR/Sta, VwSen 401004/3/SR/Sta, VwSen 401005/3/SR/Sta, VwSen 420585/8/SR/Sta, VwSen 420586/2/SR/Sta, VwSen 420587/2/SR/Sta und VwSen 420588/2/SR/Sta, betreffend u. a. § 82 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird, soweit er "Haftbeschwerden gemäß §§ 82f FPG" als unzulässig zurückweist und im Kostenpunkt, auf Grund der Beschwerde II. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und im Übrigen auf Grund beider Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern 1. S, 2. T, 3. Tu und 4. A Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 (zusammen EUR 4.425,60) binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

S und ihre Kinder T, Tu und A, alle russische Staatsangehörige (der tschetschenischen Volksgruppe), reisten am 2. Oktober 2008 illegal nach Österreich ein und beantragten die Gewährung von internationalem Schutz. Diese Anträge wurden mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 10. November 2008 gemäß § 5 Asylgesetz 2005 zurückgewiesen und es wurde die Ausweisung der Genannten nach Polen gemäß § 10 leg. cit. verfügt. Dagegen erhobene Beschwerden wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 16. Jänner 2009 ab.

Nach erfolglosen Abschiebungsversuchen ordnete die Bundespolizeidirektion Linz am Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses des Asylgerichtshofes (22. Jänner 2009) zur Sicherung der Abschiebung das gelindere Mittel der täglichen Meldung bei einer näher bezeichneten Polizeidienststelle an. Nachdem weiter geplante Abschiebungsversuche wegen Erkrankungen gescheitert waren, erteilte die Bundespolizeidirektion Linz am 20. März 2009 den Auftrag, die Genannten gemäß § 77 Abs. 5 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG festzunehmen und in das Polizeianhaltezentrum Wien Roßauer Lände zu überstellen. Auf Grund dessen erfolgten letztlich am 24. März 2009 Festnahmen und dann Anhaltungen der Genannten vom 24. bis zum 25. März 2009, beendet durch ihre Abschiebung nach Polen am Landweg über Tschechien.

Mit Schriftsatz vom 30. April 2009 erhoben sie 1. gegen ihre Anhaltung "in Schubhaft … Haftbeschwerde gemäß §§ 82f FPG" und

2. in eventu gegen die Anhaltung "als Maßnahme unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" Maßnahmenbeschwerde "gem. §§ 67a Abs. 1 Z 2, 67c AVG".

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. Juni 2009 wies die belangte Behörde die Maßnahmenbeschwerde als unbegründet ab und die denselben Anhaltezeitraum betreffenden "Haftbeschwerden gemäß §§ 82f FPG" als unzulässig zurück.

Begründend führte die belangte Behörde nach Darstellung der Rechtslage - auf das im vorliegenden Zusammenhang Wesentliche zusammengefasst - aus, das Vorliegen von Schubhaft scheitere gemäß § 76 Abs. 3 FPG am Fehlen eines sie anordnenden Bescheides. Die Fremden seien von 24. März 2009, ca. 12.30 Uhr, bis 25. März 2009, 03.05 Uhr, zum Zweck der Abschiebung nach Polen auf Grund der Bestimmungen des FPG im PAZ Wien Roßauer Lände angehalten worden. Entsprechend ihrem Beschwerdevorbringen erstrecke sich die Prüfung ausschließlich auf die Rechtmäßigkeit dieser Anhaltung.

Ihre Festnahme sei gemäß § 39 Abs. 2 Z. 1 FPG erfolgt. § 77 Abs. 5 FPG stelle "weder eine Festnahme- noch eine Haftbestimmung" dar. Wie aus § 74 Abs. 1 FPG zu ersehen sei, könne die Festnahme auch ohne Erlassung eines Schubhaftbescheides angeordnet werden. Diese Anordnung habe der Gesetzgeber mit der Bezeichnung "Festnahmeauftrag" umschrieben. Die Festnahmen fänden im § 74 Abs. 2 Z. 3 FPG eine rechtliche Deckung und sie seien erschließbar deshalb erfolgt, um gegen die genannten Fremden einen Auftrag zur Abschiebung (§ 46 FPG) erlassen zu können. Unbestritten ziele die fremdenpolizeiliche Maßnahme ausschließlich darauf ab, die Fremden "auszuweisen" und nach Polen abzuschieben. Verbunden mit dem Festnahmeauftrag seien die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes angewiesen worden, die Genannten zum Zweck der Vornahme der Abschiebung in das PAZ Wien Roßauer Lände zu überstellen. Unabhängig von der Inanspruchnahme einer unzutreffenden Rechtsgrundlage sei die Festnahme gemäß § 39 Abs. 2 Z. 1 FPG vorgenommen worden. Die Haft sei auch notwendig und verhältnismäßig gewesen (wird näher ausgeführt).

Gemäß § 39 Abs. 5 FPG sei "in den vorliegenden Fällen" die Anhaltung bis zu 48 Stunden zulässig. Die Zeitspanne der tatsächlichen Anhaltung zum Zweck der Abschiebung habe weniger als 15 Stunden betragen und die Zeit von der Festnahme bis zur Abfahrt des Sammeltransportes umfasst. Auch wenn die Festnahme und Anhaltung auf eine Norm gestützt worden sei, die weder eine Festnahme- noch eine Anhaltevorschrift darstelle, sei die belangte Behörde bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des behördlichen Verhaltens nicht auf diese Norm beschränkt, weil "die Vorgangsweise und die unverändert gebliebene Intention der Behörde, bezogen auf den unbestrittenen und unverändert gebliebenen relevanten Sachverhalt, im FPG ihre Deckung" fänden. Es sei daher von der Rechtmäßigkeit des behördlichen Handelns auszugehen.

Ein Freiheitsentzug müsse - so argumentierte die belangte Behörde weiter - ausdrücklich gesetzlich vorgesehen sein. Auch der Gesetzgeber sei verpflichtet, entsprechende Gesetze zu erlassen und diese inhaltlich ausreichend bestimmt zu formulieren. Die von einer im Weg der Auslegung erschließbaren Festnahme- und Anhaltebestimmung ausgehende Fremdenpolizeibehörde meine, § 77 Abs. 5 FPG stelle eine lex specialis zu § 74 Abs. 2 Z. 3 FPG dar und solle entgegen der Beschränkung der Haftzeit durch § 39 Abs. 5 FPG eine Anhaltung in Haft bis zu 72 Stunden ermöglichen. Dem Gesetzgeber könne jedoch nicht unterstellt werden, dass er mit der vorgenommenen Regelung "Auftrag an die Betroffenen, an einem bestimmten Ort Aufenthalt zu nehmen", eine "Fest- und Haftbestimmung" habe schaffen wollen, die nur über den Umweg der Auslegung erschlossen werden könne und die - versteckt in den Bestimmungen über das gelindere Mittel - trotz ihrer Unbestimmtheit über die ausdrücklich und abschließend geregelten Festnahme- und Anhaltebestimmungen hinausgehen solle.

Gegen diesen Bescheid richten sich I. die Amtsbeschwerde der Bundesministerin für Inneres (soweit die Maßnahmenbeschwerden als unbegründet abgewiesen werden) und II. die Parteibeschwerde der genannten Fremden. Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Beschwerden nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde und der jeweiligen Erstattung von Gegenschriften erwogen:

Die §§ 13 Abs. 1 bis 3, 39, 74 und 77 sowie 82 Abs. 1 des FPG (§ 39 und § 74 in der hier maßgeblichen Fassung vor dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009) lauten:

"Grundsätze bei der Vollziehung der Aufgaben und Befugnisse

der Fremdenpolizei

Grundsätze bei der Vollziehung

§ 13. (1) Die Fremdenpolizeibehörden und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen zur Erfüllung der ihnen in diesem Bundesgesetz übertragenen Aufgaben alle rechtlich zulässigen Mittel einsetzen, die nicht in Rechte einer Person eingreifen.

(2) In die Rechte einer Person dürfen sie bei der Erfüllung dieser Aufgaben nur dann eingreifen, wenn eine solche Befugnis in diesem Bundesgesetz vorgesehen ist und wenn entweder andere gelindere Mittel zu Erfüllung dieser Aufgaben nicht ausreichen oder wenn der Einsatz anderer Mittel außer Verhältnis zum sonst gebotenen Eingriff steht. Erweist sich ein Eingriff in die Rechte von Personen als erforderlich, so darf er dennoch nur geschehen, soweit er die Verhältnismäßigkeit zum Anlass und zum angestrebten Erfolg wahrt.

(3) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, die ihnen von diesem Bundesgesetz eingeräumten Befugnisse und Aufträge der Fremdenpolizeibehörden mit unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durchzusetzen. Die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt ist dem Betroffenen anzudrohen und anzukündigen. Sie haben deren Ausübung zu beenden, sobald der angestrebte Erfolg erreicht wurde, sich zeigt, dass er auf diesem Wege nicht erreicht werden kann oder der angestrebte Erfolg außer Verhältnis zu dem für die Durchsetzung erforderlichen Eingriff steht. Eine Gefährdung des Lebens oder eine nachhaltige Gefährdung der Gesundheit ist jedenfalls unzulässig.

...

Festnahme

§ 39. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einen Fremden zum Zwecke einer für die Sicherung des Verfahrens unerlässlichen Vorführung vor die Behörde festzunehmen, wenn

1. sie ihn bei Begehung einer Verwaltungsübertretung nach § 120 auf frischer Tat betreten oder

2. er seiner Verpflichtung nach § 32 Abs. 1 nicht nachkommt.

(2) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einen Fremden festzunehmen,

1. gegen den ein Festnahmeauftrag (§ 74 Abs. 1 oder 2) besteht, um ihn der Behörde vorzuführen;

2. der innerhalb von sieben Tagen nach der Einreise bei nicht rechtmäßigem Aufenthalt betreten wird oder

3. der auf Grund einer Übernahmserklärung (§ 19) eingereist ist.

(3) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, Asylwerber und Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, zum Zwecke der Vorführung vor die Behörde festzunehmen, wenn

1. gegen diesen eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§ 10 AsylG 2005) erlassen wurde;

2. gegen diesen nach § 27 AsylG 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde;

3. gegen diesen vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§ 53 oder 54), oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§ 60) verhängt worden ist oder

4. auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird.

(4) In den Fällen der Abs. 1 Z 1, Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 kann die Festnahme unterbleiben, wenn gewährleistet ist, dass der Fremde das Bundesgebiet unverzüglich über eine Außengrenze verlässt.

(5) Die zuständige Fremdenpolizeibehörde ist ohne unnötigen Aufschub über die erfolgte Festnahme zu verständigen. Die Anhaltung eines Fremden ist in den Fällen des Abs. 1 bis zu 24 Stunden und in den Fällen der Abs. 2 und 3 bis zu 48 Stunden zulässig; darüber hinaus ist Freiheitsentziehung nur in Schubhaft möglich. Dem festgenommenen Fremden ist die Vornahme der Festnahme über sein Verlangen schriftlich zu bestätigen.

(6) Fremde, für die ein Übernahmeauftrag zwecks Durchbeförderung (§ 74 Abs. 3) erlassen worden ist, sind von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach der Einreise in Anhaltung zu übernehmen; die Anhaltung ist bis zu 72 Stunden zulässig. Kann die Durchbeförderung während dieser Zeit nicht abgeschlossen werden, so ist eine weitere Freiheitsentziehung nur zulässig, wenn die Behörde die Schubhaft anordnet. Eine Verständigung der Behörde von der Übernahme eines solchen Fremden ist nicht erforderlich.

Festnahmeauftrag und Übernahmeauftrag

§ 74. (1) Die Behörde kann die Festnahme eines Fremden auch ohne Erlassung eines Schubhaftbescheides anordnen (Festnahmeauftrag), wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen für die Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes vorliegen und

1. der Fremde ohne ausreichende Entschuldigung einer ihm zu eigenen Handen zugestellten Ladung, in der dieses Zwangsmittel angedroht war, nicht Folge geleistet hat oder

2. der Aufenthalt des Fremden nicht festgestellt werden konnte, sein letzter bekannter Aufenthalt jedoch im Sprengel der Behörde liegt.

(2) Ein Festnahmeauftrag kann gegen einen Fremden auch dann erlassen werden,

1. wenn die Voraussetzungen zur Verhängung der Schubhaft nach § 76 Abs. 1 vorliegen und nicht aus anderen Gründen die Vorführung vor die Fremdenpolizeibehörde erfolgt;

2. wenn er seiner Verpflichtung zur Ausreise (§ 67, § 10 AsylG 2005) nicht nachgekommen ist oder

3. wenn gegen den Fremden ein Auftrag zur Abschiebung (§ 46) erlassen werden soll.

(3) Für einen Fremden, der durchbefördert (§ 48) werden soll, ist ein Übernahmeauftrag zu erlassen.

(4) Festnahme- und Übernahmeauftrag ergehen in Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt; sie sind aktenkundig zu machen.

(5) In den Fällen des Abs. 1 und 2 ist dem Beteiligten auf sein Verlangen sogleich oder binnen der nächsten 24 Stunden eine Durchschrift des Festnahmeauftrages zuzustellen.

Gelinderes Mittel

§ 77. (1) Die Behörde kann von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann. Gegen Minderjährige hat die Behörde gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn, sie hätte Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann.

(2) Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel ist, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 99 Abs. 1 Z 1 von Amts wegen erfolgt.

(3) Als gelinderes Mittel kommt insbesondere die Anordnung in Betracht, in von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen oder sich in periodischen Abständen bei dem dem Fremden bekannt gegebenen Polizeikommando zu melden.

(4) Kommt der Fremde seinen Verpflichtungen nach Abs. 3 nicht nach oder leistet er ohne ausreichende Entschuldigung einer ihm zugegangenen Ladung zur Behörde, in der auf diese Konsequenz hingewiesen wurde, nicht Folge, ist die Schubhaft anzuordnen. Für die in der Unterkunft verbrachte Zeit gilt § 80 mit der Maßgabe, dass die Dauer der Zulässigkeit verdoppelt wird.

(5) Die Anwendung eines gelinderen Mittels steht der für die Durchsetzung der Abschiebung, der Zurückschiebung oder Durchbeförderung erforderlichen Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt nicht entgegen. Soweit dies zur Abwicklung dieser Maßnahmen erforderlich ist, kann den Betroffenen aufgetragen werden, sich für insgesamt 72 Stunden nicht übersteigende Zeiträume an bestimmten Orten aufzuhalten.

Besonderer Rechtsschutz

Beschwerde an den unabhängigen Verwaltungssenat

§ 82. (1) Der Fremde hat das Recht, den unabhängigen Verwaltungssenat mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen,

1.

wenn er nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist;

2.

wenn er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz oder das Asylgesetz 2005 angehalten wird oder wurde oder

              3.              wenn gegen ihn die Schubhaft angeordnet wurde. ..."

Die genannten Fremden haben nach der oben wiedergegebenen Formulierung ihrer Anträge im Schriftsatz vom 30. April 2009 als Primärantrag gegen ihre nach dem FPG erfolgte Anhaltung eine mit dem bekämpften Bescheid als unzulässig zurückgewiesene "Haftbeschwerde gemäß §§ 82f FPG" eingebracht. In eventu haben sie eine von der vorliegenden Amtsbeschwerde allein angesprochene, im angefochtenen Bescheid als unbegründet abgewiesene Maßnahmenbeschwerde erhoben.

Die Zurückweisung der erstgenannten Beschwerde erweist sich schon deshalb als rechtswidrig, weil eine Beschwerde an den unabhängigen Verwaltungssenat gemäß § 82 Abs. 1 FPG unter anderem dann vorgesehen ist, wenn ein Fremder nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist (Z. 1) oder wenn er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird oder wurde (Z. 2). § 82 FPG steht somit nicht nur für Beschwerden gegen die Anhaltung in Schubhaft zur Verfügung, sondern für jede Beschwerde, die sich gegen eine auf das FPG gestützte Anhaltung richtet. Vorliegend war daher von einer zulässigen Beschwerde nach § 82 Abs. 1 Z. 2 FPG auszugehen. Daran ändert - anders als die belangte Behörde offenbar meint - der Umstand nichts, dass die "Haftbeschwerde" als gegen die Anhaltung "in Schubhaft" gerichtet bezeichnet wurde, weil sie ihrem gesamten Inhalt nach eindeutig auf die Rechtswidrigerklärung der Anhaltung im Zeitraum vom 24. bis zum 25. März 2009, mag diese auch nicht als Schubhaft zu qualifizieren sein, zielte. Somit hätte der Hauptantrag nicht zurückgewiesen werden dürfen, sondern wäre einer inhaltlichen Erledigung zu unterziehen gewesen.

Der angefochtene Bescheid war daher, soweit er "Haftbeschwerden gemäß §§ 82f FPG" als unzulässig zurückweist, auf Grund der Beschwerde II. gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Im Übrigen weist der angefochtene Bescheid die gegen die Anhaltung "als Maßnahme unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" erhobene Maßnahmenbeschwerde ab. Diese stellte nach dem klaren Inhalt ihrer Formulierung jedoch einen Eventualantrag für den Fall dar, dass die Anhaltung nicht bereits - wie im Hauptantrag begehrt - gemäß den §§ 82 und 83 FPG als rechtswidrig festgestellt werde.

Ein Eventualantrag ist im Verwaltungsverfahren zulässig. Das Wesen eines solchen Antrages liegt darin, dass er unter der aufschiebenden Bedingung gestellt wird, dass der Primärantrag erfolglos bleibt. Wird bereits dem Primärantrag stattgegeben, so wird der Eventualantrag gegenstandslos. Wird ein Eventualantrag vor dem Eintritt des Eventualfalles erledigt, belastet dies jedoch die Erledigung mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Februar 2007, Zl. 2005/21/0041).

Da der letztgenannte Antrag im Verhältnis zu dem im Rahmen der "Haftbeschwerde" gestellten Hauptantrag als Eventualantrag formuliert war, führt die Aufhebung des (zurückweisenden) Abspruches über diesen Hauptantrag notwendig auch zur Aufhebung des Abspruches über den Eventualantrag: Gemäß § 42 Abs. 3 VwGG tritt nämlich durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides im Umfang der genannten Zurückweisung die Rechtssache insoweit in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des angefochtenen Bescheides befunden hatte. Damit fällt uno actu und rückwirkend auch die Voraussetzung für die Entscheidung über die als Eventualantrag erhobene Maßnahmenbeschwerde weg. Auf Grund der Rückwirkung des aufhebenden Erkenntnisses in Ansehung des Hauptantrages ist nun davon auszugehen, dass es der belangten Behörde mangels Entscheidung über den Hauptantrag an einer Zuständigkeit zur inhaltlichen Behandlung des eventualiter gestellten Antrages fehlte (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 28. April 2008, Zl. 2005/12/0148 mwN).

Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid hinsichtlich der abweisenden Entscheidung über die Maßnahmenbeschwerde auf Grund beider Beschwerden gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.

In der Sache ist aber noch anzumerken, dass dem wiedergegebenen § 77 Abs. 5 FPG keine Grundlage für die Festnahme eines Fremden entnommen werden kann. Die genannte Bestimmung enthält - entgegen der in der Amtsbeschwerde auch vertretenen Auffassung - keine Basis für einen an die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gerichteten Auftrag, etwa einen solchen zur Festnahme eines Fremden.

Eine Ermächtigung der Behörde zur Anordnung der Festnahme ist insoweit ausschließlich auf die im § 74 FPG normierten Fälle begrenzt. § 39 FPG regelt die Ermächtigung der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zur Festnahme eines Fremden. Die §§ 39 und 74 FPG bilden somit (außerhalb der Schubhaft, die fallbezogen gemäß § 76 Abs. 3 FPG mangels Erlassung eines entsprechenden Bescheides ausscheidet) die gesetzliche Grundlage für die Anordnung und den Vollzug von Festnahmen und Anhaltungen im FPG. § 77 Abs. 5 FPG bringt lediglich zum Ausdruck, dass die Anordnung des gelinderen Mittels (u.a.) einer auf die vorgenannten Bestimmungen gestützten Festnahme nicht entgegensteht und lässt einen näher umschriebenen Auftrag an den Betroffenen zu, bei dessen Nichtbefolgung insbesondere die Verhängung von Schubhaft - obwohl sonst nicht erforderlich - in Betracht kommt. Die genannte Norm bildet aber keine autonome Rechtsgrundlage für eine Festnahme sowie für einen (auf diese folgenden) Freiheitsentzug.

Fallbezogen folgt hieraus, dass die genannten Fremden ohne einen - auf einen der Fälle des § 74 Abs. 2 (etwa Z. 2 oder Z. 3) FPG gestützten - ausdrücklichen Festnahmeauftrag, also rechtswidrig, angehalten worden waren. Die auf eine untaugliche Grundlage gestützte Festnahme wird aber entgegen der Meinung der belangten Behörde auch dadurch, dass eine andere (aber nicht herangezogene) Rechtsgrundlage zur Verfügung gestanden wäre, nicht zu einer rechtmäßigen Maßnahme. Somit reicht es auch nicht aus, dass ein Festnahmeauftrag nach § 74 FPG lediglich zulässig gewesen wäre, wenn ein solcher tatsächlich nicht ergangen ist. Über die dem § 82 Abs. 1 Z. 2 FPG zu unterstellende, primär erhobene Beschwerde wäre somit ein entsprechender, die Rechtswidrigkeit feststellender Ausspruch zu treffen gewesen.

An diesem Ergebnis würde im Übrigen selbst eine (im Beschwerdefall noch nicht gegebene) Anwendbarkeit des § 39 Abs. 5 FPG in der Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009, BGBl. I Nr. 122, nichts ändern: Auch im Zusammenhalt mit dieser Norm bildet § 77 Abs. 5 FPG nämlich keine autonome Rechtsgrundlage für eine Festnahme oder Anhaltung. Mit der Einfügung von "§ 77 Abs. 5" im zweiten Halbsatz des zweiten Satzes im § 39 Abs. 5 FPG durch die genannte Novelle sollte nur klargestellt werden, dass in den Konstellationen des § 77 Abs. 5 FPG die dort angeordnete zeitliche Höchstgrenze von 72 Stunden auch zur Anwendung gelangen soll (vgl. ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 29); das setzt aber das Vorliegen eines dem Gesetz entsprechenden Festnahmeauftrages voraus.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. Mai 2011

Schlagworte

sachliche Zuständigkeit in einzelnen AngelegenheitenBesondere RechtsgebieteMaßgebender ZeitpunktAuslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2011:2009210214.X00

Im RIS seit

08.06.2011

Zuletzt aktualisiert am

09.01.2015
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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