TE AsylGH Erkenntnis 2011/03/29 D4 303088-2/2011

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Veröffentlicht am 29.03.2011
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Spruch

D4 303088-2/2011/2E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. SCHERZ als Vorsitzende und die Richterin Mag. STARK als Beisitzerin über die Beschwerde der XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.01.2011, FZ. 05 03.088-BAL, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

I. Die Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl I 122/2009 als unbegründet abgewiesen.

 

II. In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid / Spruchpunkt II. und III. gemäß § 66 Abs. 4 AVG ersatzlos behoben.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang:

 

Die beschwerdeführende Partei reiste zusammen mit ihrer Ehegattin und ihrem Sohn am 07.03.2005 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Nach Einvernahmen am 25.03.2005, 31.03.2005 und am 25.01.2006 wies das Bundesasylamt am 14.06.2006 den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 für zulässig und verfügte gemäß § 8 Abs. 2 Asylgesetz 1997 die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation.

 

Mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 21.12.2007 Zl. 303.088-C1/4E-XII/37/06 wurde der Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.06.2006 nicht Folge gegeben und diese gemäß § 7 Asylgesetz 1997 abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation nicht zulässig sei und unter Spruchpunkt III. dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 3 Asylgesetz 1997 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 21.12.2008 erteilt.

 

Begründend wurde ausgeführt, dass der Ehegattin des Beschwerdeführers subsidiärer Schutz gewährt worden sei und dass dem Beschwerdeführer als Familienangehörigen einer subsidiär Schutzberechtigten der gleiche Schutzumfang wie der seiner Ehefrau zu gewähren sei.

 

In dem am selben Tag ergangenen, die Ehefrau des Beschwerdeführers betreffenden Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates wurde festgestellt, dass diese aufgrund ihres schlechten psychischen Gesundheitszustandes einer wöchentlichen integrativen Gestalttherapie bedürfe und, dass es zum einen schwierig sein würde, die Behandlung im Herkunftsland fortzusetzen und, dass zum anderen eine - womöglich zwangsweise durchgesetzte - Rückkehr dorthin die Leiden der Ehefrau des Beschwerdeführers massiv verstärken könnte. Eine Rückkehr der Ehefrau des Beschwerdeführers würde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen.

 

In weiterer Folge stellten der Beschwerdeführer und seine Familienmitglieder jährlich Anträge auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

 

Im Rahmen der Einvernahme am 14.12.2010 beim Bundesasylamt, Außenstelle Linz, wurde die Ehefrau des Beschwerdeführers über ihre gesundheitlichen Probleme befragt. Diese führte aus weder Medikamente einzunehmen noch eine Therapie zu besuchen. Sie sei schon lang nicht mehr - seit Anfang 2010 - beim Psychologen gewesen und fühle sich gut. Auch eine integrative Gestaltungstherapie besuche sie nicht.

 

Mit Bescheid vom 04.01.2011 erkannte das Bundesasylamt, Außenstelle Linz, der Ehefrau des Beschwerdeführers den zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab, entzog dieser die mit Bescheid des UBAS vom 21.12.2007 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gem. § 9 Abs. 4 AsylG 2005 und wies die Ehefrau des Beschwerdeführers gem. § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus.

 

Begründend wurde ausgeführt, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers an keiner schweren oder lebensbedrohlichen Krankheit leide. Dies ergebe sich aus ihren eigenen Angaben im Rahmen der Einvernahme vom 14.12.2010. Auch wenn sie eine Bestätigung der Psychologin vom 12.12.2010 vorlege, bleibe ihre Aussage keine wöchentliche integrative Gestalttherapie mehr zu besuchen, aufrecht.

 

Im Rahmen der Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesasylamt, Außenstelle Linz, wurde dieser unter anderem auch zu seinen Bindungen in Österreich befragt. Er führte aus, während der Saisonarbeiten Deutschkurse besucht zu haben. Derzeit sei er zwar nicht berufstätig, hätte jedoch eine Zusicherung für April 2011.

 

Am 16.12. 2010 legte der Beschwerdeführer folgende ihn betreffende Dokumente vor:

 

Bestätigung des Caritas-Kindergarten, XXXX darüber, dass der Beschwerdeführer seit Mai 2008 in den Betrieben, Pfarr-Caritas-Kindergarten XXXX bis jeweils Ende November des gleichen Jahres als Gartenpfleger beschäftigt war und seine Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit, sehr umsichtig und verwaltungsvoll erledigt hätte. Es sei beabsichtigt den Beschwerdeführer ab April 2011 erneut anzustellen und ihn wieder mit diesen Arbeiten zu betrauen.

 

Zertifikat des XXXX über den erfolgreichen Abschluss der Bildungsveranstaltung "Deutsch - Integrationskurs Stufe 2" vom 29.01.2010

 

Zertifikat des XXXX über den erfolgreichen Abschluss der Bildungsveranstaltung "Deutsch - Integrationskurs Stufe 3" vom 19.02.2010

 

Lohn und Gehaltsverrechnungszettel des Pfarrkindergartens XXXX betreffend Juli bis November 2010.

 

Weiters gab der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den ihn - im Rahmen der Einvernahme - übergebenen Länderfeststellungen ab, in dem er Berichte aus dem Internet bzw. aus der Zeitung zur Lage in seiner Heimat vorlegte. Weiters führte er aus, im Jahr 1994 an Tuberkulose erkrankt zu sein und im Jahr 2005 sofort nach der Einreise ins Krankenhaus XXXX gebracht worden zu sein. Er müsse nunmehr auch in Österreich behandelt werden und müsse auch zwei verschiedene Sprays gegen Asthma einnehmen. Er legte auch einen Arztbrief vom 06.03.2009 vor, aus welchem hervorgeht, dass eine Dauertherapie erforderlich sei. Er müsse auch weiter noch immer wieder kontrolliert werden. Ebenso legte er einen Arztbrief vom 21.12.2010 eines Lungenfacharztes mit der Diagnose Asthma, mit der derzeit funktionell pulmonaler Beeinträchtigung, fibröse Lungenveränderung bei Zustand nach TBS und einer medikamentösen Therapieempfehlung sowie einer Empfehlung zu einer Lungenfunktionskontrolle in sechs Monaten vor.

 

In einer handschriftlichen Stellungnahme führte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Ehefrau aus, dass in Tschetschenien und Dagestan täglich unschuldige Menschen ums Leben kommen würden, Unordnung herrsche und Personen kaukasischer Abstammung kein Recht hätten, sich frei zu bewegen. Männer würden grundlos angehalten, geschlagen und falls sie nicht getötet werden würden, invalide sein. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung führten sie aus, ohne Medikamente nicht überleben zu können. Es herrsche völlige Korruption und Vernichtung der Menschen, die sich nicht Kadyrow unterordnen würden. Weiters verwiesen sie auf den Mord an einem Tschetschenen in Wien und darauf, dass dieser von Kadyrow angeordnet worden sei.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Linz, vom 04.01.2011 wurde der dem Beschwerdeführer zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, die ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 21.12.2007 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gem. § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

Begründend wurde ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer der subsidiär Schutz im Familienverfahren zu seiner Frau aufgrund deren subsidiären Schutzgewährung erteilt worden sei. Seiner Ehefrau sei dieser subsidiäre Schutz entzogen worden. Er würde derzeit im Heimatland nicht bedroht werden und unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände hätte nicht festgestellt werden können, dass im Fall einer Rückkehr eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention erfolgen oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

 

Zum Privat und Familieleben in Österreich wurde ausgeführt, dass im Heimatland die Eltern, Schwiegereltern und weitere 20 Verwandte leben würden. Weiters wurde folgendermaßen ausgeführt:

 

"Es existieren unter Berücksichtigung aller bekannten Tatsachen keine Umstände, welche einer Ausweisung von ihnen aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich in die Russische Föderation entgegenstünden."

 

Zu Tschetschenien und der Russischen Föderation wurde folgendes Relevantes festgestellt:

 

Allgemeine Lage

 

Politik / Wahlen

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Föderationssubjekte der Russischen Föderation. Ihre historisch verwurzelten Unabhängigkeitsbestrebungen führten in jüngster Geschichte zu zwei Kriegen mit dem föderalen Zentrum Russland. Nach dem Kollaps der Sowjetunion rief der kurz zuvor gewählte Präsident Dschochar Dudajew 1991 die Unabhängigkeit Tschetscheniens aus. 1994 entsandte Russland Kräfte zur Zerschlagung der Unabhängigkeitsbewegung, der erste Tschetschenienkrieg begann. Dieser endete 1996 mit einem Waffenstillstandsabkommen, und einer de facto Unabhängigkeit der Teilrepublik unter Präsident Aslan Maschadow. Im Dezember 1999 begann vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Situation in und um Tschetschenien mit dem erneuten Einmarsch russischer Truppen der zweite Tschetschenienkrieg. Im Jahr 2000 wurde Achmad Kadyrow zum Chef der russischen Verwaltungsbehörde der Republik ernannt. Eine neue, nach einem Referendum im März 2003 verabschiedete Verfassung gesteht Tschetschenien mehr Autonomie zu, die Stellung der Republik als integraler Teil Russlands wurde jedoch ausdrücklich betont. Achmad Kadyrow wurde zum Präsidenten gewählt, im Jahr darauf wurde er durch einen Bombenanschlag ermordet.

 

2006 wurde sein Sohn Ramsan Kadyrow zum Premierminister, 2007 per Dekret zum Präsidenten Republik Tschetschenien ernannt.

 

Seit 2004 wird der Kandidat für die Präsidentschaft Tschetscheniens vom russischen Präsidenten ernannt, dieser muss im Anschluss vom tschetschenischen Parlament bestätigt werden. Offiziell beträgt eine Amtsperiode fünf Jahre, es gibt keine Einschränkungen wie viele Amtszeiten jemand im Amt bleiben kann. Der tschetschenische Präsident hängt jedoch vom Wohlwollen des russischen Präsidenten ab.

 

Mit den Parlamentswahlen im Oktober 2008 wurde das Zweikammerparlament durch ein Einkammerparlament, bestehend aus 41 Mitgliedern die für fünf Jahre gewählt werden, ersetzt. In diesem sind - genauso wie in jenem zuvor - vor allem Anhänger Kadyrows vertreten. (Freedom House: Freedom in the World 2009: Chechnya (Russia), 16.07.2009)

 

Seit Anfang September 2010 nennt sich Ramsan Kadyrow nicht mehr "Präsident", sondern "Oberhaupt" der Republik Tschetschenien.

 

(Ria Novosti: Kadyrow ist kein Präsident mehr, 02.09.2010, http://de.rian.ru/politics/20100902/257211253.html, Zugriff 09.12.2010)

 

Das tschetschenische Parlament hatte sich im Juni 2008 selbst aufgelöst. Bei den darauffolgenden Parlamentswahlen im Oktober 2008 traten sieben Parteien an, 589.687 Wähler waren registriert. Die Kreml-Partei "Einiges Russland" erhielt rund 85% der Wählerstimmen. Die Wahlbeteiligung lag Kadyrow zufolge bei beinahe 100%.

 

(Radio Free Europe/Radio Liberty: Chechnya Prepares For Pre-Term, And Pre-Determined, Parliamentary Elections, 11.10.2009, http://www.rferl.org/Content/Chechnya_Prepares_ For_PreTerm_And_PreDetermined_Parliamentary_Elections/1328987.html, Zugriff 09.12.2010 / Ria Novosti: Kremlin-backed party leads in local polls - preliminary results, 13.10.2008, http://en.rian.ru/russia/20081013/117699476.html, Zugriff 09.12.2010)

 

Am 11.10.2009 fanden in Russland Kommunalwahlen statt. Die Regierungspartei "Einiges Russland" hat russlandweit klar gewonnen, die Opposition beklagte massive Wahlfälschungen und Behinderungen. Erstmals seit Zusammenbruch der Sowjetunion fanden auch in Tschetschenien Kommunalwahlen statt, die Wahlen verliefen friedlich. In Grosny wurde der amtierende Bürgermeister Muslim Chutschijew mit 87% der Wählerstimmen wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung soll in der Hauptstadt bei 91,48% gelegen haben, in Tschetschenien insgesamt bei 86%. Einer Korrespondentin von Gazeta.ru zufolge, die als Wahlbeobachterin für die Kommunistische Partei in Grosny tätig war, ist die tatsächliche Wahlbeteiligung in ihrem Wahllokal erheblich unter den offiziellen Angaben gelegen.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor Volume 6 - Issue 187, 13.10.2009 / Die Presse: Russland Regierungspartei dominiert Regionalwahlen, 12.10.2009,

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/514362/index.do?_vl_backlink=/home/politik/aussenpolitik/index.do, Zugriff 09.12.2010)

 

Im Jänner 2010 wurde Tschetschenien mit fünf Republiken des Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Nordossetien-Alanien, Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien) und dem Gebiet Stawropol aus dem Föderationskreis Südrussland herausgelöst und administrativ in einer kleineren Einheit, dem Föderationskreis Nordkaukasus, zusammengefasst. Zum präsidentiellen Gesandten wurde Alexandr Chloponin ernannt.

 

(RFE/RL: Chechen Legislators Target Federal Envoy, 02.04.2010, http://www.rferl.org/content/Chechen_Legislators_Target_Federal_Envoy/2001071.html, Zugriff 09.12.2010 / The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor Volume 7 - Issue 68, 08.04.2010)

 

In Tschetschenien hat Präsident Ramsan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert. Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft sind auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt wenig Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors.

 

(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Konflikt und allgemeine Sicherheitslage

 

Präsident Medwedew erklärte am 16. April 2009 den seit zehn Jahren andauernden "Antiterrorkampf" in Tschetschenien offiziell für beendet. Seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows sind erhebliche Zeichen der Normalisierung festzustellen, jedoch finden noch weiterhin kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt. Bei den aktiven Rebellen haben islamistische Kräfte die Oberhand gewonnen, die die Errichtung eines "Kaukasischen Emirates" im gesamten Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien, Gebiet Stawropol) anstreben und ihre Aktivitäten immer mehr in die Nachbarrepubliken, insbesondere Inguschetien und Dagestan, verlagert haben. Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist noch nicht eingetreten. Im August und September 2009 kam es zu zwei Selbstmordanschlägen in Grozny. Seit 1999 forderte der Konflikt erhebliche Opfer: u. a. 10.000 - 20.000 getötete Zivilisten (belastbare Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial"), 5.000 bis 7.000 getötete und ca. 18.000 verletzte Angehörige der Sicherheitskräfte (Zahlen des Verteidigungsministeriums, die teilweise widersprüchlich sind).

 

Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wird von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 - 700 aktive Rebellen geben). Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NRO haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für die erste Jahreshälfte 2009 74 Entführungsfälle registriert (Gesamtjahr 2008: 42). Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

 

(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Im Februar 2010 erklärte der Russische Oberste Gerichtshof das "Kaukasus Emirat" zu einer terroristischen Organisation und verbot diese offiziell. Die Anerkennung als terroristische Organisation erlaubt es den Exekutivbehörden, nicht nur aktive Kämpfer zu verfolgen, sondern auch Komplizen und Ideologen, die die Organisation etwa durch "informatorische Unterstützung" unterstützen. Die Generalstaatsanwalt versprach, dass Unterstützer des Kaukasus Emirats der Anti-Extremismus Gesetzgebung unterliegen würden.

 

(Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor Volume 7 - Issue 41, 02.03.2010)

 

Die für eine Einschätzung der Situation bedeutsamen Entwicklungen in Tschetschenien betreffen vor allem den signifikanten Rückgang militärischer Aktivitäten, sowohl was deren Intensität als auch deren Umfang betrifft, sowie die allgemeine Verbesserung der Sicherheitslage. Groß angelegte Militäraktionen wurden tatsächlich beendet, die Zahl bewaffneter Auseinandersetzungen ist über die Jahre hinweg deutlich gesunken, und der allgemeine Umfang sowie die Intensität des Konfliktes sind rückläufig.

 

Dieser Umstand ermöglichte den teilweisen Rückzug russischer Truppen aus Tschetschenien. Die fortgesetzten Kämpfe beschränken sich hauptsächlich auf die spärlich bevölkerte Bergregion im Süden Tschetscheniens und können nicht mehr als wahllos bezeichnet werden. Die noch stattfindenden militärischen Aktivitäten führen zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung. Die Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage verbunden mit den bereits erfolgten und laufenden föderalen und lokalen Wiederaufbauprogrammen ermöglichte die Rückkehr Binnenvertriebener in ihre Häuser. Auch wenn die Zahl der Binnenvertriebenen nach wie vor sehr hoch ist (79.000), schätzt UNHCR, dass seit dem Jahr 2002 Zehntausende nach Hause zurückkehren konnten.

 

(UNHCR: Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von Asylsuchenden aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien, 07.04.2009)

 

Auch nach der offiziellen Beendigung der Anti-Terror-Operation (ATO) auf dem gesamten Gebiet Tschetscheniens im April 2009 fanden weiterhin ATO auf tschetschenischem Territorium statt. Gesetzlich ist bei ATO ist beim Einsatz von Waffen, Kampfgerät und sonstigen Maßnahmen die Einhaltung von Proportionalität vorgeschrieben - der Einsatz hat proportional zu der jeweiligen Situation zu geschehen, und nur als letztes verfügbares Mittel. Mit der Aufhebung der ATO wurde erwartet, dass alle temporär stationierten Einheiten Tschetschenien verlassen würden. Dies galt aber nicht für die rund 20.000 dauerhaft stationierten Einheiten des Verteidigungs- und Innenministeriums.

 

(CoE - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Following his visit to the Russian Federation on 2 - 11 September 2009, 24.11.2009)

 

Auch 2010 fanden regelmäßig ATO auf dem Gebiet Tschetscheniens statt. Diese dauern von wenigen Stunden bis hin zu einigen Tagen. Bei diesen ATO kommen immer wieder Sicherheitskräfte ums Leben, ebenso wie Personen, von denen die Sicherheitskräfte angeben, dass es Rebellen waren.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 7, Issue 54, 19.03.2010 / The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor - Volume 7, Issue 104, 28.05.2010 / The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 7, Issue 157, 13.08.2010 / Caucasian Knot:

Large-scale special operation against militants is on in Chechnya, 06.10.2010, http://chechnya.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/14721/, Zugriff 09.12.2010)

 

Einer Aussage des stellvertretenden Generalstaatsanwaltes des Föderationskreises Nordkaukasus, Iwan Sydoruk, im Oktober 2010 zufolge sind 2010 254 der insgesamt 352 extremistischen Verbrechen im Nordkaukasus in Tschetschenien begangen worden. Dies widerspricht Behauptungen von Republikschef Ramsan Kadyrow oder Premierminister Wladimir Putin. Obwohl es im August 2010 zu einem Rebellenangriff auf Kadyrows Heimatort Zenteroi, im Oktober 2010 zu einem Rebellenangriff auf das tschetschenische Parlament, sowie zu zahlreichen kleineren Anschlägen kam, gibt die tschetschenische Polizei an, dass es 2010 zu keinen Terrorakten in Tschetschenien gekommen sei.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 7, Issue 219, 08.12.2010 / The Moscow Times: Chechnya Is More Violent Than Reported, 29.10.2010,

http://www.themoscowtimes.com/columns//article/chechnya-is-more-violent-than-reported/421363.html, Zugriff 09.12.2010)

 

Seit Ende 2008 und insbesondere nach der Beendigung der offiziellen ATO 2009 wird auf eine neuerliche Verschlechterung der Sicherheitslage im gesamten Nordkaukasus, darunter auch in Tschetschenien, hingewiesen. In einigen Berichten ist etwa die Rede von intensivierter Rebellenaktivität und vermehrten Anschlägen auf Exekutivbehörden 2009, bzw. von einer steigenden Anzahl an Gewaltvorfällen im Allgemeinen. Ein Vergleich der 300 Tage vor und nach dem offiziellen Ende der ATO in Tschetschenien zeigt, dass in den 300 Tagen nach dem 16. April 2009 bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Rebellen mehr Zivilisten und Sicherheitskräfte, aber auch mehr Rebellen verletzt und getötet wurden, als in den 300 Tagen davor. Auch die Anzahl an Entführten stieg nach einem deutlichen Rückgang während der vorhergehenden Jahre 2009 erneut an.

 

Die in dem Schreiben des UNHCR 2009 ausgesprochene Empfehlung Asylanträge von Tschetschenen nicht mehr auf der Grundlage zu prüfen, dass eine "Situation allgemeiner Gewalt [...] in Tschetschenien vorherrsche" kann weiterhin als gültig betrachtet werden. Im Vergleich zu den Jahren vor 2003, in Anbetracht dessen diese Aussage getroffen wurde, stellt sich die derzeitige Sicherheitslage auch trotz der gestiegenen Anschlagszahlen seit 2009 besser dar. Großflächige Kampfhandlungen sind in Tschetschenien nicht ausgebrochen, groß angelegte "Satschistki" finden nicht mehr statt.

 

(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation -Sicherheitslage in Tschetschenien, 12.10.2010)

 

Die Sicherheitslage im gesamten Nordkaukasus hat sich über den Sommer 2009 verschlechtert, darunter auch in Tschetschenien. In Tschetschenien kam es zu einem Anstieg an Selbstmordattentaten, die sich primär gegen staatliche Einrichtungen und deren Vertreter richteten. Auch gemäßigte islamische Würdenträger werden gezielt Opfer von Mordanschlägen. Inwieweit die derzeitige Widerstandsbewegung von der lokalen Bevölkerung unterstützt wird kann nicht gesagt werden.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 6, Issue 204, 05.11.2009 / NZZ: Der Nordkaukasus driftet von Moskau weg, 28.9.2009;

http://www.nzz.ch/nachrichten/international/der_nordkaukasus_driftet_von_moskau_weg_1.3692101.html?printview=true, Zugriff 09.12.2010)

 

Entführungen laut Memorial: 2005: 325; 2006: 187; 2007: 35; 2008:

42; 2009:93. Die NRO weist bei diesen Zahlen darauf hin, dass sie lediglich rund ein Drittel des tschetschenischen Territoriums beobachtet.

 

(Länderanalysen.de: Russian Analytical Digest 70/09 - Chechnya After the Cancellation of Counter-Terrorist Operations, 21.12.2009 / Memorial Human Rights Center: Entführungen, spurloses Verschwinden, Tschetschenen im Strafvollzug, sabotierte Verbrechensaufklärung, die Wohnsituation der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, 2010)

 

Die Anzahl an extralegalen Tötungen und Fällen von Verschwundenen stieg 2009 merklich an, ebenso wie die Anzahl an Angriffen auf Exekutivbedienstete. Die Anzahl an durch Rebellen getötete Zivilisten und Soldaten stieg 2009 an. Trotz des Endes der ATO kam es über den Sommer 2009 zu einem Anstieg an Gewalt. Sowohl föderale Kräfte als auch ihre Opponenten verwenden weiterhin Antipersonenminen. Die Sicherheitskräfte unter dem Kommando Ramsan Kadyrows spielten eine zunehmende Rolle bei Entführungen, zum Teil in gemeinsamen Operationen mit den föderalen Kräften. Die Sicherheitskräfte sind Menschenrechtsorganisationen zufolge auch in Fälle von "Verschwinden" involviert.

 

(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2009 - Russia, 11.03.2010)

 

24.000 Hektar des tschetschenischen Territoriums sind noch vermint. Das tschetschenische Ministerium für Notfälle arbeitet an einer Entminung, diese schreitet aber nur langsam voran. Fallweise erhält das lokale Ministerium Unterstützung vom föderalen Notfallministerium.

 

(Caucasian Knot: Chechen MPs ask for Kremlin's help in de-mining, 06.05.2010, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/13280/, Zugriff 09.12.2010 / Caucasian Knot: Sappers from Russia's MfE defused about 100 explosive items in Chechnya, 06.10.2010, http://chechnya.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/14717/, Zugriff 09.12.2010)

 

Die Verminung ist in Tschetschenien ein drängendes Problem, es findet keine systematische Räumung statt. IKRK führt daher zur Vermeidung riskanten Verhaltens Aufklärungskampagnen durch, mikro-ökonomische Initiativen, sowie Projekte zur Verbesserung des Zugangs zu Wasser und Energiequellen.

 

(ReliefWeb: Northern Caucasus: ICRC remains active in an environment increasingly marked by violence, 07.04.2010, http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/EDIS-84ALPR?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7 , Zugriff 09.12.2010)

 

Amnestien

 

Das russische Parlament erließ am 22. September 2006 den Beschluss "Über die Verkündung einer Amnestie für Personen, die Verbrechen begangen haben in der Periode, als konterterroristische Operationen durchgeführt wurden auf dem Territorium von Subjekten der Russischen Föderation im Südlichen Föderativen Kreis" sowie die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen. Am folgenden Tag wurden sie im russischen Amtsblatt "Rossijskaja Gazeta" publiziert und traten damit in Kraft.

 

Zuvor waren schon mindestens dreimal Amnestien für Tschetschenien angeboten worden:

 

¿ im März 1997 für Verbrechen, die während des Ersten Tschetschenienkrieges begangen worden waren (9.12.1994-31.12.1996;

ca. 5'000 Personen);

 

¿ im Dezember 1999 für Personen, die in der Anfangszeit des Zweiten Tschetschenen-Krieges die Waffen niederlegten (1.8.-16.12. 1999; ca. 2'500 ergaben sich, 750 wurden amnestiert);

 

¿ am 6.6.2003 zur Feier der Annahme einer neuen tschetschenischen Verfassung für Verbrechen begangen zwischen dem 12.12.1993 und dem 1.8.2003.

 

Daneben begnadigten seit Jahren Achmatd Kadyrow, der unter Moskaus Aufsicht gewählte Präsident Tschetscheniens, sowie sein Sohn und Nachfolger, Ramsan Kadyrow, übergelaufene Freischärler. Nach übereinstimmender Schätzung der Menschenrechtsorganisation "Memorial" und offizieller tschetschenischer Quellen profitierten von dieser "grauen" Amnestie seit 2001 mindestens 7.000 Personen. Davon wurden nach offiziellen tschetschenischen Angaben gegen 5'000 in staatliche Strukturen und die Sicherheitskräfte integriert.

 

(BFM: Focus Russland - Zur Amnestie in Tschetschenien, 19.03.2007)

 

Am 22.09.2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13.12.1999 und dem 23.09.2006 im Nordkaukasus begangen wurden. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen ("Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen", sofern sie bis zum 15.01.2007 die Waffen niederlegen) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u.a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben.

 

(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Kadyrow nutzte die Amnestien zur Auffüllung seiner Truppen, viele der Menschen die die Anmestien 2003 und 2007 in Anspruch genommen haben, arbeiten nun in der tschetschenischen Miliz und der Leibwache Kadyrows. Im Grunde war die Bedingung für eine Amnestierung die Zustimmung des Kämpfers, sich diesen Truppen anzuschließen. Von beiden Amnestien waren Personen ausgeschlossen, die "schwere Verbrechen" begangen hatten. In einer Reihe von Fällen wurde jedoch die Entscheidung über eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung "unter Erwägung der Zweckdienlichkeit" getroffen. Unter den "Kadyrowzy" befinden sich also auch viele, die von Amnestien ausgenommen gewesen wären. Eine Rückkehr in ein nicht-militärisches Leben war im Rahmen der Amnestien kaum möglich.

 

(BBC Russian: Kreml dopuskaet amnistiu Sakaewu, 17.02.2009, http://news.bbc.co.uk/hi/russian/russia/newsid_7894000/7894940.stm, Zugriff 31.03.2009/Accord / EJ - Jeschednewnyj Schurnal: Amnistii ne podleschat, 22.09.2006, http://www.ej.ru/?a=note&id=4860, Zugriff 31.03.2009/Accord / NEWSru.com: Amnistija w Tschetschne prowalilas - Kadyrow sanjat wyborami, 2.09.2003, http://txt.newsru.com/russia/02sep2003/amnisty.html, Zugriff 31.03.2009/Accord / NG - Nowaja Gaseta: Prinuditelnaja amnistija, 21.04.2003, http://www.novayagazeta.ru/data/2003/28/13.html, Zugriff 31.03.2009/Accord)

 

Nachdem Kadyrow 2009 erklärt hatte es würde keine weiteren Amnestien für Kämpfer geben, bot er Mitte 2010 erneut Kämpfern, die keine schweren Verbrechen begangen haben, eine Rückkehr ins zivile Leben an.

 

(RFE/RL: Chechnya's Kadyrov Urges Militants To Surrender, 08.07.2010,

http://www.rferl.org/content/Chechnyas_Kadyrov_Urges_Militants_To_Surrender/2094633.html, Zugriff 09.12.2010)

 

Besondere Bedrohung

 

Im September 2008 begannen Menschenrechtsorganisationen und internationale Medien über eine Brandstiftungs-Kampagne der tschetschenischen Regierung in einigen Dörfern, um die Familien vermeintlicher Rebellen zu bestrafen. In vielen Fällen wurde erklärt, dass die Heime zur Bestrafung zerstört worden wären. Ramsan Kadyrow und der Bürgermeister von Grosny, Muslim Chutschijew sprachen explizit Drohungen aus. 2009 gab es zahlreiche Berichte über solche Fälle von Brandstiftung, jedoch ist über deren Ausmaß nichts Genaues bekannt.

 

Föderale und lokale Sicherheitskräfte, sowie die Privatmiliz von Ramsan Kadyrow, setzten Familien vermeintlicher Rebellen Repressalien aus, und begingen auch andere Missbräuche. Föderale und tschetschenische Kräfte waren Berichten zufolge in die Entführung von Verwandten von Rebellen involviert.

 

(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2009 - Russia, 11.03.2010 / Caucasian Knot: Week in the Caucasus:

review of main events of April 5-11, 12.04.2010, http://chechnya.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/13071/, Zugriff 09.12.2010 / Human Rights Watch: What Your Children Do Will Touch Upon You, Juli 2009 / BBC News: Chechen Problem Far from Over, 16.04.2009, http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7974652.stm, Zugriff 09.12.2010 / Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor Volume 6, Issue 191, 19.10.2009)

 

Zwischen Juli 2008 und Juli 2009 kam es zu rund 30 Fällen von Haus-Niederbrennungen, vermutlich durch tschetschenische Exekutivbehörden. Für gewöhnlich handelt es sich um Familien, deren Söhne oder Neffen vermeintlich in der Rebellenbewegung aktiv sind. Vor der Brandstiftung wurden die Familien meist von Behörden oder der Exekutive unter Druck gesetzt und bedroht, um ihre Familienangehörigen zur Aufgabe zu überreden. Bislang wurde niemand für die Brandstiftungen zur Rechenschaft gezogen. Seit Sommer 2009 erhielt Human Rights Watch weitere Berichte über Haus-Niederbrennungen, zuletzt im März 2010 in Schali.

 

(Human Rights Watch: Human Rights in Russia Hearing May 6, 2010, 06.05.2010)

 

Memorial berichtet regelmäßig über Fälle, in denen Eltern und Verwandte vermeintlicher Rebellen in Tschetschenien ungesetzlich festgenommen würden, und von Sicherheitskräften bedroht und dazu angehalten, ihre Kinder zu einer Heimkehr zu bewegen, bzw. ihre Unterstützung für die Rebellenbewegung zuzugeben.

 

(Caucasian Knot: HRC "Memorial": Chechen power agents use militants' relatives as "live shield", 09.09.2010, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/14373/, Zugriff 15.12.2010 / Caucasian Knot: Power agents forced resident of Chechnya to confess of links with liquidated militant, rights defenders say, 27.08.2010, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/14267/, Zugriff 15.12.2010)

 

In den ersten sechs Monaten 2010 wurden in Tschetschenien über 100 Personen festgenommen, die wegen der Mithilfe der Extremisten angeklagt werden.

 

(Ria Novosti: Kämpfe im Kaukasus: Putin bietet Terroristen Amnestie an - "Nesawissimaja Gaseta", 15.07.2010, http://de.rian.ru/safety/20100715/127115044.html, Zugriff 09.12.2010)

 

Es gibt Fälle, in denen Familienmitglieder erfolgreich in andere Teile der Russischen Föderation zogen. Eine besondere Bedrohung gilt des Weiteren für Personen, die durch Opposition zur Regierung von Kadyrow die Aufmerksamkeit der lokalen Behörden auf sich ziehen.

 

Ehemalige Kämpfer und deren Familienmitglieder sind im Allgemeinen nicht einer besonderen Bedrohung ausgesetzt, vor allem weil ein überwiegender Teil von ihnen heute für Kadyrow arbeitet. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Personen die Rebellen während des ersten Tschetschenienkrieges nicht-militärisch/logistisch unterstützt haben, verfolgt werden. Bei Personen, die die Rebellen während des zweiten Krieges oder aktuell unterstützt haben, könnte es sein, dass sie in einer gefährdeten Lage sind. Dies müsste im Einzelfall untersucht werden.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009 / Dr. Mikhail Roshchin - Institute for Eastern Studies, Vortrag für AsylGH am BMI, 26.03.2009)

 

Der Moskau Helsinki Gruppe zufolge könne auch Muslime, die für Wahhabiten gehalten werden oder solche sind, gefährdet sein. Zudem geht die Gruppe davon aus, dass jene Personen, die Probleme mit Kadyrov haben, auch in anderen Teilen der Russischen Föderation gefährdet sind.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009)

 

Innerstaatliche Fluchtalternative

 

Bewegungsfreiheit, Registrierung

 

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen wirken sich im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit von aus anderen Staaten zurückgeführten Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahe gelegt.

 

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u.a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.

 

Die Registrierungsregeln gelten einheitlich im ganzen Land; ihre Anwendung ist jedoch regional unterschiedlich. Viele Regionalbehörden wenden örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken restriktiv an. Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber zurückgeführten Personen im Besonderen bei der Niederlassung verstärkt. Nichtregierungsinstitutionen berichten auch, dass Registrierungsbehörden vereinzelt nicht kooperieren, wenn Tschetschenen sich in ihrem Kreis registrieren lassen oder dort wohnen möchten. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Praxis der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten.

 

Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Ihr Lebensstandard hängt stark davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Es kommt immer wieder zu Festnahmen wegen fehlender Registrierung oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren.

 

Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der sog "Kadyrowzy", die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel zehn Rubel, also ungefähr 25 Cent; für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher, z.B. an der inguschetisch-tschetschenischen Grenze bei 50 - 100 Rubel, etwa 1,25 - 2,50 Euro.

 

(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung sind gesetzlich gewährleistet, Die Regierung schränkte die Bewegungsfreiheit im Land und Migration jedoch ein. Personen mit dunklerer Hautfarbe aus dem Kaukasus oder Zentralasien wurden oft zur Überprüfung ihrer Dokumente herausgegriffen.

 

(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2009 - Russian Federation, 11.03.2010)

 

Es gibt einige Einschränkungen der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Alle Erwachsenen sind verpflichtet, ihren Inlandsreispass bei Reisen mitzuführen und um bestimmte staatliche Leistungen zu erhalten. Einige regionale Behörden haben Registrierungsvorschriften, die das Recht der Bürger ihren Wohnort frei zu wählen einschränken. Ziel hiervon sind meistens ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und aus Zentralasien.

 

(Freedom House, Freedom in the World 2010 - Russia, Mai 2010)

 

Das Hauptproblem für alle Migranten ist weiterhin die Registrierung. Vor allem in Moskau ist es schwierig, eine Registrierung zu erlangen, viele Hauseigentümer verweigern die Bestätigung von Mietern, um keine Abgaben zahlen zu müssen. Es gibt NRO, die in solchen Fällen Hilfe gewähren. Ist man bereit Bestechungsgelder zu zahlen, so ist eine Registrierung in der Russischen Föderation gemeinhin kein Problem. Dies gilt aber nicht nur für Tschetschenen, sondern alle anderen russischen Bürger.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009)

 

Eine Registrierung ist möglich, vor allem aufgrund der Korruption aber sehr teuer. Es ist kein Problem, nach Tschetschenien zu reisen. Es gibt Flüge nach Grosny, außerdem gibt es Züge und Busse.

 

(Dr. Mikhail Roshchin - Insitute for Eastern Studies, Vortrag für AsylGH am BMI, 26.03.2009)

 

Die bei der Registrierung bestehenden Probleme haben sich ebenfalls verbessert, Korruption besteht jedoch weiterhin.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009)

 

Lage von Tschetschenen in der Russischen Föderation

 

Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens vor allem in den nordkaukasischen Nachbarrepubliken Dagestan und Kabardino-Balkarien sowie in Südrussland (Regionen Krasnodar, Stawropol, Rostow, Astrachan). Dort ist eine Registrierung grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum (Registrierungsvoraussetzung) dort erheblich billiger ist. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen oft erst nach Intervention von Nichtregierungsorganisationen, Duma- Abgeordneten, anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich.

 

(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Die tschetschenische Diaspora lebt vor allem in Moskau. St. Petersburg, Jaroslawl, Nischni Nowgorod und Wolgograd. Es gibt keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Tschetschenen in diesen Städten leben. Auch im einigen kleineren Städten im Ural und Sibirien leben einige Tschetschenen sehr gut.

 

Während des Konflikts gab eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber Tschetschenen, die sich etwa in vermehrten Personenkontrollen bemerkbar machte. Seit sich die Lage in Tschetschenien verbessert hat, ist auch die Situation für Tschetschenen im Rest der Russischen Föderation besser. Für eine legale Arbeit ist eine Registrierung notwendig, viele arbeiten jedoch auch ohne Registrierung. Da die Familien- und Dorfbände sehr stark sind, kann man hier als Neuankömmling Hilfe erwarten, wenn bereits Familien- oder Dorfmitglieder in einer Stadt wohnen.

 

(Dr. Mikhail Roshchin - Insitute for Eastern Studies, Vortrag für AsylGH am BMI, 26.03.2009)

 

Der Tschetschenische Verein schätzt die Anzahl der in der Russischen Föderation aber außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen auf 560.000. Schätzungen zufolge leben davon etwa 150.000 bis 200.000 im Oblast Moskau, weitere größere Gruppen der tschetschenischen Diaspora gebe es in den Regionen Krasnodar, Stawropol und Rostow, sowie in den Oblasts Astrachan und Wolgograd. Viele der Migranten würden illegal im Oblast Moskau leben.

 

Die Situation für Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation hat sich vor allem in den letzten beiden Jahren verbessert. Die Situation hängt aber auch immer von der gesellschaftlichen Stellung und den einer Person/Familie zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln ab. In Moskau hat sich die Lage bezüglich Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit verbessert. Obwohl Rassismus und Xenophobie in der Russischen Föderation - vor allem Moskau und St. Petersburg - im Allgemeinen anwachsen, sind nunmehr insbesondere Personen aus Zentralasien vorrangiges Ziel diskriminierender Praktiken. Auch wenn die derzeitigen Gegenmaßnahmen der Regierung noch nicht fruchten, so gibt es jedoch erste Anzeichen, dass solche zumindest umgesetzt werden. Die Strafverfolgungsrate rassistischer Vorfälle liegt unter jener von anderen Hassverbrechen. Viele Tschetschenen können in Moskau ein durchaus normales Leben führen.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009)

 

Um einer Bedrohung durch staatliche Behörden zu entgehen, ist eine Umsiedlung innerhalb des Landes nicht möglich. Für jene Tschetschenen, die nicht von den Behörden gesucht werden, ist eine interne Relokation eine Möglichkeit. Es gibt in einigen Fällen gesellschaftliche Diskriminierung und Probleme, Unterkunft und Arbeit zu finden. Diese Probleme machen einen innerstaatlichen Umzug jedoch nicht unverhältnismäßig schwierig.

 

(UK Home Office, Operational Guidance Note: Russian Federation, 17.11.2008)

 

Menschenrechte

 

Allgemein

 

Im Nordkaukasus finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Hierzu sind seit 2005 zahlreiche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt hat. Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und Presse berichten, dass sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt haben.

 

Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wird von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600-700 aktive Rebellen geben). Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NRO haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für die erste Jahreshälfte 2009 74 Entführungsfälle registriert (Gesamtjahr 2008: 42). Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

 

(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verhängte dasselbe Gericht in der "Sache Ulman" Haftstrafen zwischen neun und 14 Jahren gegen vier Offiziere wegen der Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Ulman und Mittäter waren zuvor zwischen 2002 und 2005 zweimal von Geschworenengerichten freigesprochen worden, bis der russische Verfassungsgerichtshof diese Freisprüche kassierte und eine erneute gerichtliche Prüfung des Falls anordnete. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung von Ex-Oberst Budanow. Er war 2003 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin getötet hatte, und ist im Januar 2009 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.

 

(Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 04.04.2010)

 

Das wiederholte Verschwinden von Regierungsgegnern und Menschenrechtsaktivisten bleibt weitergehend unbestraft, und wird nicht mit der nötigen Gewissenhaftigkeit aufgeklärt. Gegen Familien vermeintlicher Mitglieder der illegalen bewaffneten Gruppen werden Vergeltungsmaßnahmen angewendet (Niederbrennen ihrer Wohnstätten, Bedrohung oder Entführung naher Verwandter der Verdächtigen oder der Verdächtigen selbst). Ein Klima der ständigen Einschüchterung der Medien und der Zivilgesellschaft herrscht vor. All dies findet in einer Atmosphäre der Personalisierung der Macht statt, die aufgrund ihrer Unverhältnismäßigkeit in einer Demokratie schändlich erscheint. Personen werden weiterhin entführt, gefoltert und ermordet, sowohl von Rebellen als auch von Sicherheitskräften.

 

(Council of Europe - Parliamentary Assembly: Legal remedies for human rights violations in the North-Caucasus Region, 04.06.2010)

 

Seit Ende 2008 ist nach einem Rückgang wiederum ein Anstieg von Entführungen und "Verschwinden" zu verzeichnen. Zudem berichten NRO über "Kurzzeit-Verschwinden" - Personen verschwinden und tauchen nach einigen Tagen wieder auf, oft nachdem sie Gewalt oder Folter ausgesetzt waren. Aus Angst würden diese nicht über die Repressalien sprechen. Obwohl die Entführer meist unbekannt bleiben, wurde oft die Beteiligung von Exekutivkräften unterstellt. In rund 20 Fällen geheimer Haft von Personen aus Wedeno wurden offizielle Untersuchungen eingeleitet. Die strafrechtliche Verfolgung in solchen Fällen ist dem CPT und PACE zufolge unzureichend.

 

2000 bis 2009: 3.074 Vermisste nach Schätzungen der Staatsanwaltschaft.

 

(CoE - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Following his visit to the Russian Federation on 2 - 11 September 2009, 24.11.2009)

 

Sicherheitskräfte in Tschetschenien verhaften Personen illegal und foltern sie, mit Straffreiheit für solche Missbräuche. Im Februar 2010 dokumentierte HRW vier Fälle von Verschwinden in der zweiten Hälfte 2009. In einem Fall wurde eine lokale Mitarbeiterin des Danish Refugee Council während eines Sondereinsatzes unter der persönlichen Leitung von Kadyrow in Grosny festgenommen und weggebracht.

 

(Human Rights Watch: Human Rights in Russia Hearing May 6, 2010, 06.05.2010)

 

Fälle von Folter, illegalen Verhaftungen und außergerichtlichen Exekutionen kommen weiterhin vor, wenn auch weniger als früher. Die Täter sind meist Exekutiv- und Sicherheitskräfte unter der Kontrolle von Kadyrov.

 

(Human Rights Watch: What Your Children Do Will Touch Upon You, Juli 2009)

 

Entführungen laut Memorial: 2005: 325; 2006: 187; 2007: 35; 2008:

42; 2009:93. Die NRO weist bei diesen Zahlen darauf hin, dass sie lediglich rund ein Drittel des tschetschenischen Territoriums beobachtet.

 

(Länderanalysen.de: Russian Analytical Digest 70/09 - Chechnya After the Cancellation of Counter-Terrorist Operations, 21.12.2009 / Memorial Human Rights Center: Entführungen, spurloses Verschwinden, Tschetschenen im Strafvollzug, sabotierte Verbrechensaufklärung, die Wohnsituation der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, 2010)

 

Berichte über Folter gehen - vor allem seit der Auflösung der berüchtigten Polizeieinheit ORB II - zurück, obgleich Fälle von Misshandlung und Folter auch in normalen Polizeiwachen weiterhin vorkommen können. Folter und Misshandlungen durch lokale Polizeikräfte kommen in Tschetschenien jedoch nicht mehr systematisch vor.

 

(Office for Foreigners (Poland)/CEDOCA, Documentation and Research Centre - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (Belgium)/Staatendokumentation des Bundesasylamtes (Austria): FFM Moscow 2008, 10.09.2009)

 

Die Anzahl an extralegalen Tötungen und Fällen von Verschwundenen stieg 2009 merklich an, ebenso wie die Anzahl an Angriffen auf Exekutivbedienstete. Die Anzahl an durch Rebellen getötete Zivilisten und Soldaten stieg 2009 an. Trotz des Endes der ATO kam es über den Sommer 2009 zu einem Anstieg an Gewalt. Sowohl föderale Kräfte als auch ihre Opponenten verwenden weiterhin Antipersonenminen. Die Sicherheitskräfte unter dem Kommando Ramsan Kadyrows spielten eine zunehmende Rolle bei Entführungen, zum Teil in gemeinsamen Operationen mit den föderalen Kräften. Die Sicherheitskräfte sind Menschenrechtsorganisationen zufolge auch in Fälle von "Verschwinden" involviert. Föderale und lokale Sicherheitskräfte, sowie die Privatmiliz von Ramsan Kadyrow, setzten Familien vermeintlicher Rebellen Repressalien aus, und begingen auch andere Missbräuche.

 

(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2009 - Russia, 11.03.2010)

 

Das UN-Menschenrechtskomitee drückte im Oktober 2009 seine Besorgnis über die andauernden Berichte über Folter, Misshandlungen, Verschwinden, willkürliche Verhaftungen, außergerichtliche Tötungen und geheime Anhaltungen durch Militär, Sicherheitskräfte und andere staatliche Akteure in Tschetschenien und anderen Teilen des Nordkaukasus. Die Täter solcher Verletzungen scheinen aufgrund des Mangels an systematischer effektiver Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung weitgehende Straffreiheit zu genießen. Insbesondere zeigte sich das Komitee besorgt über den Anstieg an Verschwundenen und Entführten zwischen 2008 und 2009.

 

(UN General Assembly: Joint study on global practices in relation to secret detention in the context of countering terrorism of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, the Working Group on Arbitrary Detention and the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, 19.02.2010,

http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/13session/A-HRC-13-42.pdf, Zugriff 13.12.2010)

 

Die Erfolge Ramsan Kadyrows größere Rebellenaktivitäten in seinem Einflussbereich niederzuhalten, wird begleitet von zahlreichen Berichten über außergerichtliche Hinrichtungen und Kollektivbestrafung.

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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