RS Vfgh 2011/3/9 G287/09

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Veröffentlicht am 09.03.2011
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Index

L5 Kulturrecht
L5060 Hort, Kindergarten

Norm

B-VG Art14 Abs5a
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
StGG Art14
EMRK Art9
EMRK 1. ZP Art2
Nö KindergartenG 2006 §3 Abs1, §12 Abs2, §19a, §29
StV St Germain 1919 Art63 Abs2

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit des Gebots der Anbringung von Kreuzen imKindergarten nach dem Niederösterreichischen Kindergartengesetz 2006;Individualantrag zulässig trotz Freiwilligkeit desKindergartenbesuchs im vorliegenden Fall; kein Ausdruck der Präferenzdes Staates für eine bestimmte Glaubensüberzeugung; keineVerpflichtung zu religiösen Handlungen; keine Verletzung desIndoktrinierungsverbots; teils Zurückweisung des Individualantrags;keine Verpflichtung zur Teilnahme an religiösen Feiern

Rechtssatz

Zurückweisung des Individualantrags, soweit er sich gegen die Wortfolge "religiösen und" in §3 Abs1 Nö KindergartenG 2006, LGBl 5060-2, richtet.

Keine Darlegung eines unmittelbaren Eingriffs in die Rechtssphäre der Antragsteller (Vater und seine mj Tochter).

Allgemeine Zielbestimmung des §3 Abs1 leg cit; Umschreibung der Aufgaben eines Kindergartens; keine unmittelbare Verpflichtung zur Durchführung von bzw zur Teilnahme an bestimmten religiösen Feiern. Im Fall der Aufhebung keine Konsequenzen hins gemeinsamer Aktivitäten im Kindergarten.

Zulässigkeit des Individualantrags hins §12 Abs2 Nö KindergartenG (Verpflichtung zur Anbringung eines Kreuzes, wenn die Mehrzahl der Kindergartenkinder einem christlichen Religionsbekenntnis angehört) trotz freiwilligen Kindergartenbesuches im vorliegenden Fall (Verpflichtung erst im Jahr vor Beginn der Schulpflicht; vgl §19a leg cit).

Keine Handlungsalternative; Kindergärten allgemein zugänglich; Unzumutbarkeit des Verzichts auf den Kindergartenbesuch, um so den Kontakt des Kindes mit religiösen Symbolen zu vermeiden.

Angefochtene Bestimmung zwar an Kindergartenbetreiber gerichtet, nach ihrem Inhalt und Zweck jedoch von einer solchen Wirkung auf die Gestaltung des Aufenthalts der Kinder im Kindergarten, dass damit nicht nur die tatsächliche Situation, sondern auch die - durch das Grundrecht auf negative Religionsfreiheit geprägte - Rechtssphäre dieser Kinder sowie jene der Eltern, welchen die Erziehung dieser Kinder obliegt, berührt wird. Antragsteller daher Normadressaten.

Keine Verletzung in Rechten nach Art9 Abs1 EMRK (Religionsfreiheit) bzw Art14 StGG (Glaubens- und Gewissenfreiheit).

Ergänzung des Art14 StGG durch Art63 Abs2 StV St Germain; harmonisierende Interpretation von Art9 Abs2 EMRK (materieller Gesetzesvorbehalt) und Art63 Abs2 StV St Germain; Konkretisierung des letzteren durch Art9 Abs2 EMRK; Ziel der "öffentlichen Ordnung" in Art63 Abs2 StV St Germain nicht auf sicherheitspolizeiliche Gefahren beschränkt; Grundrechtseingriff auch durch die Verfolgung der übrigen Eingriffsziele des Art9 Abs2 EMRK, insbesondere jenes des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer, gerechtfertigt.

Nicht nur (aktive) Religionsausübung durch Art9 EMRK und Art14 StGG geschützt, sondern auch Schutz vor Zwang zu religiösen Handlungen bzw zur Teilnahme an diesen.

Im vorliegenden Fall keine (staatliche) Einflussnahme. Aus dem Gesetz selbst lässt sich nicht ableiten, dass das Kreuz in der Absicht angebracht werden sollte, die den Kindergarten besuchenden Kinder mit dessen Hilfe in eine bestimmte religiöse Richtung zu beeinflussen.

Kreuz als Symbol der abendländischen Geistesgeschichte und religiöses Symbol christlicher Kirchen. Bei systematischer und verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes kann dem Gesetzgeber jedoch keine staatliche Äußerung einer Präferenz für eine bestimmte Religion oder gar einer Glaubensüberzeugung zugesonnen werden.

Mit den Vorgaben in §3 Nö KindergartenG Schaffung der Voraussetzungen für die Erreichung der bundesverfassungsgesetzlich festgelegten Ziele für die schulische Bildung vom Kindergartengesetzgeber intendiert; vgl Art14 Abs5a B-VG: Bildungsziele der Offenheit, Toleranz, Aufgeschlossenheit gegenüber dem religiösen und weltanschaulichen Denken anderer; she auch die Zielbestimmung des Art4 Nö Landesverfassung 1979; Bildungsziele des Art29 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes als Leitlinie staatlicher Erziehungsarbeit in Kindergärten.

Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche; Deutung des Symbols des Kreuzes als Ausdruck eines Staatskirchentums daher ausgeschlossen.

Anbringung von Kreuzen kein Ausdruck staatlicher "Glaubensüberzeugungen" oder Präferenzen; Deutungshoheit über das Kreuz beim einzelnen Kind bzw bei dessen Eltern.

Der VfGH vermag nicht zu erkennen, dass der bloße Anblick eines Kreuzes die Pflicht begründen könnte, gegenüber diesem Zeichen der Ehrerbietung oder religiöse Handlungen zu setzen, oder dass Kinder dadurch einem sonstigen Identifikations- oder Glaubenszwang ausgesetzt werden. Das Recht, einem beliebigen oder auch gar keinem Glauben anzugehören, ja sogar die von einem religiösen Symbol repräsentierten Glaubensüberzeugungen abzulehnen, wird durch die Anordnung des §12 Abs2 Nö KindergartenG daher nicht berührt.

Selbst unter der Annahme eines Eingriffs in das Recht auf (negative) Religionsfreiheit kein unverhältnismäßiger, mit dem Gesetzesvorbehalt des Art9 Abs2 EMRK unvereinbarer Eingriff. Keine Indoktrinierung und Missionierung; auch Rechte der Kinder christlichen Glaubens und ihrer Eltern zu berücksichtigen.

Kein Eingriff bzw keine Verletzung im Recht auf Bildung nach Art2

1. ZP EMRK.

Verpflichtung des Staates, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Eltern zu respektieren; jedoch keine Verpflichtung, eine Erziehung gemäß den besonderen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern in staatlichen Bildungseinrichtungen zu gewährleisten; Indoktrinierungsverbot; Hinweis auf Rechtsprechung des EGMR.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Glaubens- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit,Staatskirchenrecht, Kinder, VfGH / Individualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2011:G287.2009

Zuletzt aktualisiert am

21.05.2012
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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