TE AsylGH Erkenntnis 2011/03/22 D3 305950-1/2010

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Veröffentlicht am 22.03.2011
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Spruch

D3 305950-1/2010/26E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. KUZMINSKI als Vorsitzenden und den Richter Dr. CHVOSTA als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, StA. Russische Föderation (Tschetschenische Republik), gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.09.2006, Zl. 05 12.185-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.11.2010 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 7 AsylG 1997 i. d.F. BGBl I Nr. 101/2003 Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

Entscheidungsgründe:

 

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, gelangte am 09.08.2005 unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte am 10.08.2005 einen Asylantrag.

 

Am 16.08.2005 wurde er im Erstaufnahmezentrum Ost erstmals vom Bundesasylamt einvernommen. Er gab an, zunächst in Tschetschenien gelebt zu haben, jedoch ab 1999 mit seinen Eltern (mit Unterbrechungen) in Inguschetien aufhältig gewesen zu sein, am XXXX Frau XXXX nach moslemischem Brauch in XXXX geheiratet zu haben und anschließend mit seiner Frau in Tschetschenien gelebt zu haben, jedoch im August 2002 wieder nach Inguschetien zurückgefahren zu sein. Am 17.10.2004 habe er Inguschetien verlassen und habe sich in der Folge in Brest mit seiner Frau und der gemeinsamen, am XXXX geborenen, Tochter XXXX getroffen und wären sie von dort nach Polen gefahren, wo sie um Asyl angesucht hätten. Nach Zurückziehung der Asylanträge in Polen wären sie - über Umwege - nach Belgien gefahren, wo seine beiden Schwestern lebten, und hätten auch dort um Asyl angesucht. Nachdem man ihnen dort mitgeteilt habe, dass man sie nach Polen abschieben werde, seien sie über Deutschland nach Österreich eingereist und hätten nunmehr hier einen Asylantrag gestellt. Zu den Fluchtgründen befragt gab er an, dass er am XXXX von russischen Militärbehörden in XXXX verhaftet und für 2 Tage lang in einem Filtrationslager angehalten worden zu sein, wo er auch mit Strom gefoltert worden sei, und anschließend - nachdem er sich bereit erklärt habe, diverse Papiere zu unterschreiben - außerhalb der Stadt freigelassen worden sei. Der auferlegten Meldeverpflichtung sei er nicht nachgekommen, sondern in der Folge nach Inguschetien geflüchtet.

 

Am 19.08.2005 erfolgte eine zweite Einvernahme durch die Erstaufnahmestelle Ost, welche jedoch die Frage einer allfälligen Zuständigkeit Polens für die Führung des Asylverfahrens zum Gegenstand hatte.

 

Das Bundesasylamt holte weiters ein Gutachten bei dem Facharzt für gerichtliche Medizin, AO Univ. Prof. Dr. XXXX, ein, in dem festgestellt wurde, dass eine schräg verlaufende Narbe oberhalb des rechten Oberlippenabschnittes sowie auch im Bereich der Schleimhaut an der Innenseite bestehe und diese auf eine scharfe sowie auch stumpfe Gewalteinwirkung, z.B. durch Tritte (wie sie von dem Antragsteller angegeben wurden) zurückgeführt werden könnte, andere Verletzungsspuren lägen nicht vor. Bei der ärztlichen Untersuchung im Zulassungsverfahren wurde ein krankheitswerte psychische Störung, nämlich eine leichtgradige bzw. inkomplette PTSD festgestellt.

 

In der Folge wurde der Antrag zum Asylverfahren zugelassen und erfolgte am 09.12.2005 eine weitere Einvernahme durch das Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen. Der Beschwerdeführer fügte hinzu, dass seine zweite Tochter XXXX im XXXX in Österreich geboren sei. Er habe für seinen Aufenthalt in Inguschetien einen falschen Reisepass, lautend auf XXXX, gekauft. Am XXXX seien in ihr Haus in XXXX maskierte uniformierte Militärangehörige gedrungen und hätten begonnen, ihn mit Gewehrkolben zu schlagen und mit Füßen zu treten. Er trage den gleichen Familiennamen wie der XXXX, sei jedoch mit diesem nicht direkt verwandt. Seine Familie seien jedoch immer Sympathisanten von Dudajev und Maschadov gewesen. Ein Schul- und Klassenkamerad namens XXXX, der auf der Flucht vor den Militärs gewesen sei, hätte einige Male bei ihnen übernachtet und hätten sie ihn vermutlich deswegen verhaftet, um dessen Aufenthaltsort herauszufinden. Sie hätten ihn in ein Auto verfrachtet und zwei Tage lang auf einem Militärstützpunkt in einer Grube festgehalten. Er sei auch verhört und mit Strom gefoltert worden, außerdem mit Füßen getreten und Knüppeln geschlagen und sei auch psychologisch unter Druck gesetzt worden, indem sie behauptet hätten, dass auch eine Mutter in einer nahen Grube festgehalten werde, und falls er nichts erzählen würde, würde nicht nur er, sondern auch seine Mutter getötet werden. Er sei freigelassen worden unter der Bedingung, dass er sich "den Wahabiten" anschließe und einmal in der Woche Bericht erstatte. Er sei gezwungen worden, "alle möglichen Papiere" zu unterschreiben, und sei ihm gedroht worden, falls er nicht kooperiere, werde man sein Haus in die Luft sprengen und alle Verwandten töten. Er sei am XXXX bei Apfelgärten aus einem Auto geworfen worden. Am XXXX habe ein Freund namens XXXX, der bei der Kriminalpolizei arbeite, ihm geholfen, nach Inguschetien zu entkommen. In Inguschetien habe er unter falscher Identität gelebt. Nach den Ereignissen von Beslan sei es jedoch auch zu verschärften Säuberungsaktionen in Inguschetien gekommen. Er habe Angst gehabt, noch einmal verhaftet zu werden, und sei deswegen ausgereist.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Traiskirchen, vom 20.09.2006, Zl. 05 12.185-BAT, wurde unter Spruchteil I. der Asylantrag vom 10.08.2005 gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen, unter Spruchteil II. Jedoch festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Antragstellers in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 AsylG 1997 nicht zulässig sei und unter Spruchteil III. dem Antragsteller eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2007 erteilt.

 

In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits in wesentlichen Zügen wiedergegebenen Befragungen dargestellt und anschließend ausgeführt, dass er einen russischen Reisepass vorgelegt habe und zur Kernfamilie auch seine Ehegattin XXXX gehöre. In der Folge wurden Feststellungen zu Tschetschenien und Tschetschenen in der Russischen Föderation getroffen. Beweiswürdigend wurde (kurz) ausgeführt, dass das Vorbringen des Antragstellers der Entscheidung zugrunde gelegt werde. Nach Darlegung, dass es sich im vorliegenden Fall um ein Familienverfahren handle, wurde zu Spruchteil I. Insbesondere ausgeführt, dass ein Asylwerber konkrete, gegen ihn selbst gerichtete Verfolgungshandlungen glaubhaft machen müsse, um Asyl zu erlangen; die Schilderungen des Antragstellers würden jedoch nicht mehr die erforderliche Aktualität, die im Asylverfahren unerlässlich sei, aufweisen und habe das Asylverfahren nicht zur Aufgabe, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die aus Krieg, Bürgerkrieg, Revolution oder sonstigen Unruhen hervorgingen. Die vom Antragsteller vorgebrachten Ereignisse vermögen vor dem Hintergrund der in seiner Heimatregion allgemein herrschenden Umstände durchaus nachvollziehbar eine schwierige Lebenssituation darstellen, jedoch für sich allein betrachtet keinen Gewährungsgrund für Asyl, und sei daher der Asylantrag abzuweisen gewesen.

 

Zu Spruchteil II. wurde nach Darlegung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur ausgeführt, dass - wenn auch im vorliegenden Fall keine asylrelevante Verfolgung vorliege - sich das Heimatland des Antragstellers doch in einer schwierigen Phase befinde und unter Berücksichtigung individueller Faktoren, aber auch der bürgerkriegsähnlichen Situation sei die Behörde zur Ansicht gelangt, dass Gründe für die Annahme bestünden, dass der Antragsteller im Fall einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in der Russischen Föderation einer unmenschlichen Behandlung unterworfen zu werden, womit seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nicht zulässig sei und sei ihm daher auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen gewesen.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, und zwar gegen Spruchpunkt I., Berufung. Darin wurde insbesondere kritisiert, dass die Erstbehörde den Grundsatz der Wahrung des Parteiengehörs verletzt habe, da sie ihm keine Gelegenheit gegeben habe, zu den im Bescheid genannten Länderfeststellungen Stellung zu nehmen, außerdem seien diese unvollständig und meistens nicht auf seinen Einzelfall bezogen. Es wurden in der Folge andere Quellen, vor allem von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen, auszugsweise zitiert. Entgegen der Meinung der Erstbehörde habe er sein Heimatland nicht nur aufgrund der allgemeinen Lage verlassen, sondern sei er persönlich Opfer von Übergriffen seitens russischer Soldaten geworden, und stimme dieses Vorbringen u.a. auch mit der menschenrechtlichen Situation in Tschetschenien überein. Unter Hinweis auf weitere Berichte wurde seine persönliche Einvernahme im Rahmen einer Verhandlung beantragt.

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat führte am 02.05.2007 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. Der Beschwerdeführer wiederholte sein bisheriges Vorbringen und gab an, dass er sich bereits 1999 in Inguschetien aufgehalten habe, bis zu dem Vorfall im XXXX jedoch gelegentlich nach Tschetschenien zurückgefahren sei, ab dem XXXX jedoch immer in Inguschetien gelebt habe (bis zur Ausreise). In Inguschetien habe er, auch aufgrund des gefälschten Passes, auf den Namen XXXX zunächst keine Probleme gehabt, nach den Vorfällen in Beslan seien jedoch auch in Inguschetien oft Säuberungsaktionen durchgeführt worden, und hätten Mitarbeiter des FSB begonnen, alle Tschetschenen in Inguschetien festzunehmen, und sei er deswegen am 17.10.2004 ausgereist. Die Bestätigung, dass er Gefangener eines Filtrationslagers gewesen sei, beziehe sich auf den Vorfall wo er 2 Tage lang festgehalten worden sei. Dem Beschwerdeführer wurden eine Reihe von Dokumenten die Situation in Tschetschenien sowie Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens vorgehalten.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.08.2007, Zl. 05 12.185-BAT, wurde dem Antragsteller eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 01.09.2008 erteilt.

 

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 18.01.2008, Zl. 305.950-C1/7E-XIX/61/06, wurde die Berufung gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 20.09.2006, Zl. 05 12.185-BAT, gem. § 7 AsylG abgewiesen. In der Begründung des Bescheides wurde insbesondere ausgeführt, dass die Probleme, mit denen der Berufungswerber in Tschetschenien angeblich konfrontiert gewesen sei, offensichtlich auf die dortige allgemeine Bürgerkriegssituation zurückzuführen seien, jedoch nicht auf eine gezielte und asylrelevante individuelle Verfolgung hindeuten würden. Der nicht im Original vorgelegte "Filtrationslagerausweis" sei nicht geeignet, eine zweitägige Gefangenschaft zu bescheinigen, da auch nach den Angaben des Berufungswerbers selbst Dokumente in Tschetschenien gegen Geld gekauft werden könnten. Der Berufungswerber habe selbst angegeben, dass es nach seiner Ausreise nach Inguschetien zu keinen persönlichen Suchmaßnahmen oder sonstigen gegen ihn gerichteten Verfolgungsmaßnahmen gekommen sei. Da sich der letzte als verfolgungsrelevant dargestellte Vorfall im XXXX zugetragen habe, fehle es bezogen auf die Ausreise im Oktober 2004 am erforderlichen zeitlichen Konnex. Im gegenständlichen Fall seien daher nach Ansicht der Berufungsbehörde eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund nicht gegeben.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Asylwerber, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. XXXX, Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, welcher den angefochtenen Bescheid mit Erkenntnis vom 02.09.2010, Zl. 2008/19/0568, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behob. Dies wurde einerseits damit begründet, dass die belangte Behörde nicht ausreichend begründet habe, warum die Fluchtgründe des Beschwerdeführers nicht der Wahrheit entsprechen sollten und zweitens, dass die Behörde hilfsweise damit argumentiere, dass der Beschwerdeführer in Inguschetien unbehelligt habe wohnen können, wobei zugestanden werde, dass es zunehmend Säuberungsaktionen gegeben habe, welche jedoch auf keinem Konventionsgrund beruhten und nicht geeignet wären, einen Asylanspruch zu begründen. Die Behörde hätte die Lageänderung in Inguschetien dahingehend zu überprüfen gehabt, ob dem aus Tschetschenien stammenden und von dort geflohenen Beschwerdeführer in Inguschetien eine inländische Fluchtalternative verloren gegangen sei, ob der allfällige Verlust dieser inländischen Fluchtalternative auf eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers auch in Inguschetien zurückzuführen gewesen sei, spiele hingegen rechtlich keine Rolle.

 

Im fortgesetzten Verfahren beraumte der Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 19.11.2010 an, und räumte gleichzeitig das Parteiengehör zu länderspezifischen Feststellungen zu Tschetschenien und zur inländischen Fluchtalternative von Tschetschenien in Russland mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme bis längstens in der Beschwerdeverhandlung ein. Der Beschwerdeführer legte eine Heiratsurkunde vor, wonach er am XXXX seine (bereits nach islamischem Recht angetraute) Frau XXXX am Standesamt XXXX geheiratet habe. Zu der Beschwerdeverhandlung ließ sich die Behörde erster Instanz entschuldigen. Der Asylgerichtshof zog einen Dolmetscher für die tschetschenische Sprache bei. Der Beschwerdeführer legte zwei schriftliche Zeugenaussagen zum Beweise dafür, dass er die Widerstandskämpfer unterstützt habe, welche dem Dolmetscher zur schriftlichen Übersetzung übergeben wurden, vor. Er hielt sein bisheriges Vorbringen aufrecht und wollte dieses auch weder korrigieren noch ergänzen. Er sei Tschetschene und Moslem und am XXXX in XXXX/ Tschetschenien geboren. Dort habe er auch bis zum Beginn des zweiten Krieges im Jahr 1999 ständig gelebt. Anschließend übersiedelte er nach Inguschetien. Bis zum XXXX sei er immer wieder zwischen Tschetschenien und Inguschetien hin- und hergefahren, in der Folge habe er sich jedoch bis zu seiner Ausreise im Jahre 2004 ausschließlich in Inguschetien aufgehalten. Nach 11 Klassen Mittelschule habe er am pädagogischen Institut inskribiert, habe jedoch die Lehrerausbildung wegen des ersten Krieges nicht abschließen können und habe er in der Folge als Automechaniker (Autodidakt) gearbeitet. Er habe sich wohl in Tschetschenien nicht politisch betätigt, es hätten jedoch sowohl die Nachbarn als auch die Behörden gewusst, dass seine Familie sowohl mit Dudaev (XXXX) als auch mit Maschadov sympathisiert hätten. Er selbst habe wohl in einem der beiden Tschetschenienkriege selbst gekämpft, aber seine Freunde insbesondere XXXX und XXXX hätten gekämpft und er habe sie unterstützt. Er habe die Kämpfer mit Lebensmitteln unterstützt und habe er sie auch bei sich übernachten lassen und versteckt. XXXX, den die russischen Truppen mehrmals versucht hätten, festzunehmen und zu töten, sei es gelungen, in Unterhosen in sein Haus zu fliehen und habe er diesem geholfen, den Stadtteil zu verlassen, dies sei im Jahre 2001 gewesen. Mit XXXX sei er in die Schule gegangen. Auch er habe oft bei ihm übernachtet. Er habe gehört, dass dieser nach seiner Flucht getötet worden sei. XXXX hingegen sei nach Österreich geflohen und habe hier Asyl erhalten. Er habe auch für die Rebellen Medikamente gekauft. Er sei in der Früh des XXXX aufgrund einer konkreten Suche nach ihm, als er seine Mutter in Tschetschenien besucht habe, aus dem Bett gezerrt, geschlagen und in einem Fahrzeug weggebracht worden. Auf einem Militärstützpunkt in der Nähe von XXXX sei er in eine Grube geworfen worden, jedoch mehrmals herausgeholt worden, wobei er verhört und nach XXXX gefragt wurde. Auch über andere Personen sei er befragt worden. Weiters sei er aufgefordert worden, mit den Russen zusammenzuarbeiten und sich zu erkundigen, wo die Rebellen die Waffen versteckt hätten. Sie hätten ihm auch gedroht, dass sie auch seine Mutter töten würden, wenn er nicht mit ihnen zusammenarbeite. Da sie ihn gefoltert hätten, sei er bereit gewesen, mehrere Papiere, die sie ihm vorgelegt hätten, zu unterschreiben, er habe jedoch nicht gewusst, was auf diesen Papieren stehe. Sie hätten von ihm verlangt, dass er mit den "Wahabiten" Kontakt aufnehme und alles an die russische Seite weiterleite. Nach 2 Tagen Anhaltung hätten sie ihn am Stadtrand von

XXXX bei Apfelplantagen freigelassen. Nachdem er 2-3 Tage im Krankenhaus verbracht habe, sei er gleich nach Inguschetien geflohen, wobei ihm ein Freund namens XXXX, der bei der Polizei tätig gewesen wäre, geholfen habe. Er habe sich dann in der Folge einen Pass unter dem Namen XXXX besorgt. Er habe in Inguschetien keine konkreten Probleme mit Säuberungsaktionen mehr gehabt und sei auch nicht mehr verhaftet worden. Es seien jedoch nach dem Terroranschlag von Beslan die Säuberungsaktionen intensiviert worden und habe er Angst vor dem FSB gehabt, da er unter einer falschen Identität gelebt habe. Deswegen sei er ausgereist, und zwar zunächst nach Weißrussland, dann nach Polen und dann weiter nach Belgien, von wo er dann mit dem Zug nach Österreich gelangt sei. Seine Mutter und seine Schwester lebten noch in Tschetschenien, er habe mit ihnen telefonischen Kontakt. Es seien Ladungen für ihn gekommen, welche seine Verwandten ihm nach Österreich geschickt hätten, diese seien jedoch in Österreich nicht angekommen. Sein Freund XXXX, der nach wie vor bei der Polizei sei, habe ihm wohl telefonisch gesagt, dass er daheim keine Probleme hätte, jedoch anschließend seiner Schwester geraten, dass er in Österreich bleiben solle, da er ihm am Telefon nicht alles habe sagen können. Er habe in Österreich schon als Lagerarbeiter und in einer Pizzeria gearbeitet und werde demnächst wieder in einer Pizzeria anfangen. Seine ältere Tochter besuche die Volksschule und die jüngere den Kindergarten, seine Frau sei mit dem

4. Kind schwanger. Er glaube auch, dass er auch 8 Jahre, nachdem er Tschetschenien verlassen habe, nach wie vor von den Behörden gesucht werde. Beim FSB in XXXX würden die Unterlagen, die er unterschrieben habe, aufbewahrt. Sie würden ihn zwingen, etwas zuzugeben, was er nicht getan hätte, und würde er ein 2. Mal keine Chance mehr bekommen, zu entkommen.

 

Zu den übermittelten Feststellungen betreffend Tschetschenien gab er an, dass er nicht alles 100% verstanden habe, aber er glaube, dass dies "alles sehr gut geschrieben" sei. In Tschetschenien würden viele junge Männer nach dem Moscheebesuch festgenommen. XXXX bestätigte schriftlich, dass der Beschwerdeführer in vielen Fällen tschetschenische Widerstandskämpfer unterstützt habe und dass er ihm geholfen habe, ihn vor den russischen Besatzern zu verstecken und er auch anderen geholfen habe. XXXX bestätigte, dass er im Jahre 2002 zwangsweise von Militärleuten verschleppt und im Laufe von 2 Tagen brutalen Schlägen ausgesetzt gewesen sei ...

 

Wie in der Beschwerdeverhandlung angekündigt wurde dem Beschwerdeführer im schriftlichen Wege das Parteiengehör zu Feststellungen betreffend Inguschetien eingeräumt. Es ist jedoch weder innerhalb der gesetzten Frist von 2 Wochen noch später eine Stellungnahme dazu eingelangt.

 

Der Asylgerichtshof hat wie folgt festgestellt und erwogen:

 

Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

 

Er ist Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe sowie Moslem und wurde am XXXX in XXXX / Tschetschenien geboren, wo er auch bis zum Beginn des 2. Tschetschenienkrieges 1999 lebte. Nach 11 Klassen Mittelschule begann er XXXX am pädagogischen Institut zu studieren, konnte die Lehrerausbildung jedoch wegen des ersten Krieges nicht abschließen und hat sich in der Folge Selbstkenntnisse eines Automechanikers beigebracht und als solcher gearbeitet. Nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges ist er bis zum XXXX immer wieder zwischen Inguschetien und Tschetschenien hin- und hergefahren. Nach seiner Verhaftung und Freilassung ist er jedoch am XXXX gänzlich nach Inguschetien übersiedelt und war dort bis zu seiner Ausreise im Jahre 2004 aufhältig. Er hat sich in Tschetschenien wohl nicht politisch betätigt, aber seine gesamte Familie habe Dudaev (XXXX) als auch Maschadov unterstützt, was auch die Nachbarn und die Behörden wussten. Der Beschwerdeführer hat nicht mit der Waffe in der Hand selbst gekämpft, aber die tschetschenischen Kämpfer auf vielfältige Weise, nämlich durch Lebensmittel und Medikamente, aber auch dadurch unterstützt, dass er sie bei ihnen hat übernachten lassen und sie daheim versteckt hat. Insbesondere habe er seine Freunde XXXX und XXXX versteckt und bei sich übernachten lassen (was XXXX nach seiner Flucht nach Österreich schriftlich bestätigte); dies war in den Jahren XXXX und XXXX. Am XXXX wurde er im Rahmen einer konkreten Suche nach ihm verhaftet, zu einem Militärstützpunkt in der Nähe von XXXX gebracht, dort in eine Grube geworfen, jedoch immer wieder zu Verhören herausgeholt und mit Schlägen, Tritten und Strom gefoltert. Die Soldaten haben verlangt, dass er mit "Wahabiten" (tschetschenischen Kämpfern) Kontakt aufnehme und alles, insbesondere ihre Waffenverstecke, den Russen verrate. Vor seiner Freilassung habe er unter Folter auch mehrere Papiere unterschrieben, wobei er nicht wusste, wozu er sich damit verpflichtet hat, und wurde ihm auch gedroht, falls er nicht mit ihnen kooperiere, dass ihr Haus in die Luft gesprengt werde und die Familie ausgelöscht werde. Nach 2 Tagen Anhaltung wurde er in der Nähe einer Apfelplantage am Stadtrand von XXXX freigelassen. Über diese Anhaltung hat der Beschwerdeführer eine Bestätigung der Gesellschaft der Insassen der Filtrationslager erhalten. Anschließend war er 2-3 Tage in Spitalsbehandlung und floh mit Hilfe eines Freundes mit dem Namen XXXX, der bei der Polizei war und ihn mit seinem Dienstausweis nach Inguschetien brachte, wo er in der Folge einen Pass unter dem Namen XXXX kaufte und unter falscher Identität lebte. In Inguschetien wurde er nicht nochmals verhaftet und hatte auch selbst keine konkreten Probleme mit Säuberungsaktionen. Nach dem Terroranschlag von Beslan wurden jedoch auch in Inguschetien verstärkt Säuberungsaktionen durchgeführt und fürchtete er sich auch deswegen, weil er unter einer falschen Identität lebte, sodass er im Jahre 2004 die Russische Föderation verließ und über Weißrussland und Polen sowie Belgien (wobei er in beiden Staaten einen Asylantrag stellte) nach Österreich gelangte, wo er am 08.10.2005 einen Asylantrag stellte. Seine Frau XXXX hatte er bereits am XXXX in Inguschetien nach moslemischem Recht geehelicht, am XXXX erfolgte vor dem Standesamt XXXX die staatliche Eheschließung. Der Verbindung sind die beiden Töchter XXXX, XXXX und Sohn XXXX entsprungen. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung am 19.11.2010 war seine Ehefrau neuerlich schwanger. Der Beschwerdeführer hat in Österreich auch schon Deutschkurse besucht und als Lagerarbeiter und in einer Pizzeria gearbeitet. In Tschetschenien leben weiter die Mutter und seine Schwester. Seine Schwester teilte ihm mit, dass sein Freund XXXX, der nach wie vor bei der Polizei arbeitet, ihm geraten habe in Österreich zu bleiben. Bei seinen Verwandten sind Ladungen eingelangt, die diese nach Österreich schicken wollten. Der Beschwerdeführer hat diese Ladungen jedoch nicht erhalten.

 

Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 89 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen, gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig sind auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

 

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

 

Laut Präsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut

 

Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.

 

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen, wie dem Wahhabismus. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

 

Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009

 

E. Maaß, Ein talentierter Diktator? Ramsan Kadyrow in den Spuren russischer Zaren, Stalins und Putins

 

Martin Malek, Understanding Chechen Culture

 

Der Standard vom 19.01.2010

 

1. Allgemeine Sicherheitssituation

 

In den letzten Jahren ist ein signifikanter Rückgang militärischer Aktivitäten feststellbar, sowohl was deren Intensität, als auch deren Umfang betrifft. Am 16. April 2009 hat Russland offiziell den "Sicherheitseinsatz" des Inlandsgeheimdienstes FSB in Tschetschenien für beendet erklärt. Damit ist der 2. Tschetschenienkrieg offiziell zu Ende und das Kriegsrecht aufgehoben. Anstatt der erhofften Entspannung kam es jedoch zu einer Welle der Gewalt und Gegengewalt.

 

Auch wenn von offizieller russischer Seite betont wird, dass es in Tschetschenien zu einem "politischen Prozess" gekommen ist, finden laut neuestem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.07.2009 im Nordkaukasus (noch mehr als in Tschetschenien in Dagestan und Inguschetien) weiterhin die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Nach Überwindung des Tschetschenienkonflikts haben sich erhebliche Menschrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt. Nach deutlichen Fortschritten bei der Sicherheits- und Menschenrechtslage in den Jahren 2007/2008 hat sich 2009 die Situation wieder verschlechtert. Beispielsweise sprechen selbst offizielle Stellen von einer 4,5-fachen Erhöhung der Verschwundenen von 2008 auf 2009. Im Sommer 2009 kamen im Vergleich zum Vorjahr doppelt so viele Personen bei gewalttätigen Zwischenfällen wie Spezialoperationen der Sicherheitskräfte oder terroristischen Anschlägen ums Leben.

 

Es gibt keine Rechtssicherheit, sondern es herrscht die Diktatur Kadyrows. Diese Einschätzung wird von einer großen Anzahl von Klagen von Tschetschenen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestützt (20.350 anhängige Klagen gegen Russland insgesamt zum Zeitpunkt Februar 2008, bisher 24 Verurteilungen der Russischen Föderation wegen Tschetschenien). Zwischenzeitig ist eine größere Anzahl von Urteilen, insbesondere wegen des Rechts auf Leben, gegen die Russische Föderation ergangen. Es kommt weiterhin, auch in allerletzter Zeit, nach wie vor zum Abbrennen von Häusern von Familien der Kämpfer, um diese unter Druck zu setzten und zur Aufgabe zu bewegen.

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Eine dauerhafte Befriedung ist jedoch nicht eingetreten. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die Aktivitäten der tschetschenischen und föderalen Kräfte gegen die Rebellen wurden auch 2009 fortgesetzt. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen. Den pro-russischen Kräften ist es, auch durch Erpressung/Entführung von Familienangehörigen etc. gelungen, die Sicherheitslage im allgemeinen (jedenfalls in einigen Teilen Tschetscheniens, insbesondere Grosny) zu stabilisieren; auch ein wirtschaftlicher Aufschwung ist eingetreten (finanziert durch z. T. missbräuchlich verwendete russische Hilfe/Erpressungsgelder), der in der Regel aber nur einigen, insbesondere den pro russischen Kräften, zugute kommt.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 30.07.2009

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009

 

Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Asylsuchender aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien vom 7.4.2009 samt Ergänzung vom 11.11.2009

 

Asylländerbericht der ÖB Moskau v. 1.4.2009

 

E. Maaß, Ein talentierter Diktator? Ramsan Kadyrow in den Spuren russischer Zaren, Stalins und Putins

 

APA Meldungen und ORF Internet vom 16.04.2009

 

2. Verfolgungsgefahr

 

2.1 Zivilbevölkerung

 

Durch vielerlei Umstände kann es etwa möglich sein, ins Fadenkreuz der pro-russischen Kräfte zu kommen (etwa auch durch private Streitigkeiten). Ein Informationsaustausch zwischen den "pro-russischen Kräften" und dem russischen Geheimdienst wird eher bezweifelt, der russische Geheimdienst verfügt aber selbst weiterhin über zahlreiche Informationsquellen. Durch Bestechung kann es in seltenen Fällen aber sogar möglich sein, dass durch den Geheimdienst gesuchte Personen das Land verlassen können.

 

Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und die Presse berichten, dass sich auch nach Beginn des von offizieller Seite festgestellten "politischen Prozesses" erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt haben. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass reales Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Zwar hat sich die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien mittlerweile stabilisiert. Doch weisen Nichtregierungsorganisationen zugleich darauf hin, dass es nach wie vor zu willkürlichen Überfällen bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschlägen kommt.

 

Generell behauptet Kadyrow, dass bei der "Neutralisierung" der Rebellen keine Zivilisten behelligt werden. Im Gegenteil, gerade der Schutz der Zivilbevölkerung dient ihm als wichtiges Argument für eine verstärkte Konzentration der Sicherheitskräfte auf die Verfolgung von Mitgliedern illegaler bewaffneter Gruppierungen und ihrer Unterstützer. Es sind aber gerade die von Ramzan Kadyrow persönlich kommandierten "Kadyrowzy", denen besonders viele Folter- und Misshandlungsvorwürfe, auch von Zivilisten, gelten. Im April 2007 übergab Kadyrow die Kontrolle dem föderalen Innenministerium und löste das Antiterrorzentrum auf. Menschenrechtsgruppierungen kritisieren jedoch, dass die Truppen nach wie vor Kadyrow treu seien. Sein erklärtes Ziel ist es, dass die föderalen Truppen die operative Tätigkeit komplett den tschetschenischen Sicherheitskräften überlassen. Die ehem. Spezialeinheiten "Wostok" und "Sapad", die für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus verantwortlich gemacht wurden, wurden zwischenzeitig aufgelöst. Dem FSB kommt eine zentrale Rolle im Kampf gegen den Terror zu und gewinnt dieser sogar zunehmend an Einfluss.

 

Folter bleibt ein drängendes Problem. Sie erfolgt willkürlich und unvorhergesehen, ein Muster ist nicht erkennbar. Auch Präsident Kadyrow hat Mitte März 2007 öffentlich Folter in Tschetschenien zugegeben, allerdings nur durch unter föderaler Kontrolle stehender Sicherheitskräfte. Der Menschenrechtskommissar des Europarats Thomas Hammarberg kritisierte nach einem Besuch in Tschetschenien Ende Februar/Anfang März 2007 Folter im ORB-2 (Operatives Fahndungsbüro 2, Teil des Föderalen Innenministeriums). Auch Präsident Kadyrow gab Mitte März 2007 öffentlich Folter im ORB-2 zu. Memorial werden weiterhin aktuelle Fälle von Folter sowohl im ORB-2 als auch durch eine spezielle Einheit des tschetschenischen Innenministeriums gemeldet. In den letzten Jahren hat sich eine neue Rechtsverletzung verbreitet - die künstliche Konstruktion von Straftatbeständen, zu denen dann mittels Folter Geständnisse erzwungen werden. Unter Folter unterschriebene Geständnisse werden nach Erkenntnissen von Memorial regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

 

Schwere Verbrechen und Vergehen werden auch von Seiten verschiedener Rebellengruppen begangen. Neben den Aufsehen erregenden Terroranschlägen gegen die Zivilbevölkerung (Beslan) werden bei vielen Aktionen gegen russische Sicherheitskräfte Opfer unter der Zivilbevölkerung bewusst in Kauf genommen. Auch werden den Rebellen Exekutionen und Geiselnahmen von Zivilisten in den von ihnen beherrschten Gebieten und Ortschaften vorgeworfen. Außerdem verüben die Rebellen gezielt Anschläge gegen Tschetschenen, die mit den russischen Behörden zusammenarbeiten.

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend, sodass nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein "Klima der Straflosigkeit" entstanden sei. Bisher gibt es nur sehr wenige Fälle von Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verurteilte dasselbe Gericht vier Offiziere in der "Sache Ulman" zu 9, 11, 12 und 14 Jahren Haft wegen Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Personen, die den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung ziehen wollten, wurden weiterhin belästigt. Kläger vor dem EGMR verschwanden spurlos bzw. wurden getötet, was den EGMR zu einer kritischen Äußerung in seiner Entscheidung im Fall Alikhadzhiyeva gg. Russland vom 5.7.2007 veranlasste.

 

Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung des Ex-Obersten Budanow im Jahre 2009, der 2003 wegen Tötung einer 18-jährigen Tschetschenin zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage, 25.11.2009

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien, vom 30.07.2009

 

Asylländerbericht der ÖB Moskau v. 1.4.2009

 

Bundesasylamt, Mitschrift des Besuches von Frau Leila Dzeitova (Direktorin von VESTA)

 

2.2 Rebellen und deren Familienangehörige

 

Innerhalb der Rebellen ist es zu einer Spaltung in zwei Gruppen gekommen. Während einige Gruppierungen nach wie vor am Ziel der Ausrufung der tschetschenischen Republik Itschkerien festhalten, haben zwischenzeitig eindeutig radikalislamistische Kräfte die Oberhand gewonnen. Trotzdem gehen immer wieder vor allem Jugendliche, auch aus Rache und Verzweiflung, in die Wälder, um sich den Rebellen anzuschließen. Nach dem Tod zahlreicher Anführer (z.B. Shamil Bassajew), der Flucht bzw. dem Überwechseln von Kämpfern auf die Seite Kadyrows ist es einerseits zu einer Schwächung und anderseits zu einer Verjüngung der Kämpfer gekommen. Die Zahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 70 - 1500. Der ehem. Präsident der "Tschetschenischen Republik Itschkeria" rief 2007 das "Nordkaukasische Emirat" bestehend aus Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien und dem Gebiet Stawropol aus und ernannte sich selbst zu dessen Emir. Die Zelle des "Emir" Doku Umarow umfasst jedoch lediglich nur mehr 25-50 Kämpfer.

 

Nach wie vor sind die Rebellen bzw. Personen, die für Rebellen oder deren Sympathisanten gehalten werden, einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten, festgenommen, verschleppt, verhört, gefoltert und ermordet zu werden.

 

Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist somit noch nicht eingetreten. Die Aktivitäten der Sicherheitskräfte gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, wurden auch 2009 fortgesetzt.

Seit 1999 forderte der Konflikt erhebliche Opfer: 10.000-20.000 getötete Zivilisten (Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial"), 5.000 bis 7.000 getötete und ca. 18.000 verletzte Angehörige der Sicherheitskräfte (Zahlen des Verteidigungsministeriums, die teilweise widersprüchlich sind).

 

Die Rebellen und ihre Unterstützer werden im Zuge von Spezialoperationen "neutralisiert", die von den unter direktem Befehl von Ramzan Kadyrow stehenden Sicherheitskräften sowohl in den Bergregionen, als auch in städtischen Gebieten durchgeführt werden. In der Zeit um den Jahreswechsel 2007-2008 wurden bei solchen Operationen mindestens 16 Rebellen und Sicherheitskräfte getötet, mindestens 49 Personen in Grosny verhaftet, zwei sind verschwunden. Es kam zu sechs bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Rebellen und Sicherheitskräften sowie zu Anschlägen auf letztere.

 

Im gesamten Jahr 2007 wurden laut tschetschenischem Innenministerium über 70 Rebellen getötet und 325 verhaftet, 139 Bandenmitglieder haben sich freiwillig ergeben, und die Zahl der Anschläge hat sich um 72% reduziert. Das Innenministerium hat 82 seiner Mitarbeiter verloren.

 

Nach Beobachtungen des Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine neue besorgniserregende Entwicklung.

 

Ende 2008 hatten hochrangige tschetschenische Regierungsvertreter öffentlich bekundet, dass Familien von Aufständischen mit Bestrafung zu rechnen haben, wenn sie nicht ihre Verwandten zur Aufgabe bewegen. Präsident Kadyrow sagte im August 2008 ausdrücklich im Fernsehen, dass Familienmitglieder der Rebellen, die diese unterstützen würden, "Terroristen, Extremisten, Wahhabiten und Teufel" seien. Er wies die Polizei und Verwaltung an "in diese Richtung zu arbeiten", womit er die Sicherheitskräfte zumindest ermutigt hat, hart gegen Familienangehörige von (aktiven) Kämpfern vorzugehen.

 

Nach Informationen von Frau Dzeitova, Direktorin von VESTA, werden Familienangehörige von früheren Kämpfern (des ersten Tschetschenienkrieges) nicht mehr verfolgt. Es gibt jedoch private Fälle von Blutrache, von der alle männlichen Verwandten betroffen sein können. Frauen, Kinder und ältere Menschen seien davon jedoch ausgenommen. Mit Ausnahme eines vorsätzlichen oder besonders brutalen Mordes ist auch der Freikauf von der Blutrache möglich.

 

Es ist zumindest unwahrscheinlich, dass Personen, die während des ersten Krieges Kämpfern nichtmilitärischen Beistand geleistet haben, gegenwärtig aufgrund dieser Unterstützung noch Verfolgung ausgesetzt sind.

 

Am 22.09.2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13.12.1999 und dem 23.09.2006 im Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien, Gebiet Stawropol) begangen wurden. De facto wurde die Amnestie jedoch durch Präsident Kadyrow bis zum 15.06.2007 verlängert. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen ("Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen", sofern sie bis zum 15.01.2007 die Waffen niederlegen) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u.a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben. Es handelt sich jedoch um keine Amnestie im westeuropäischen Verständnis. Die Leute ergeben sich alle aus mehr oder minder großem Zwang, aber nicht, weil es Bemühungen um Versöhnung und Reintegration gibt.

 

"Memorial" kritisierte jedoch, dass wegen der zahlreichen Ausschlussgründe nur diejenigen in den Genuss der Amnestiebestimmungen kommen werden, die "in den Bergen Herbarien angelegt oder Grütze gekocht haben", nicht jedoch Personen, die effektiv an den Kämpfen teilgenommen haben.

 

Anderseits haben Ramsan (und auch schon sein Vater Achmad) Kadyrow jahrelang Kämpfer (gleichgültig mit welcher "Vergangenheit"), die zu ihm übergelaufen sind, begnadigt, insgesamt ca. 7000 Personen. Er verfolgte damit die Strategie, die Rebellenbewegung zu teilen, jene die überzeugt oder gekauft werden konnten, werden amnestiert und erhalten (meist) einen Arbeitsplatz als tschetschenische Sicherheitskräfte, jene, die nicht dazu bereit sind, werden weiter verfolgt.

 

UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an.

 

Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien-Gefährdungseinschätzung vom 09. 09.2009

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage, 25.11.2009

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien, vom 30.07.2009

 

Bundesasylamt, Mitschrift des Besuches von Frau Leila Dzeitova (Direktorin von VESTA)

 

Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Asylsuchender aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien vom 7.4.2009 samt Ergänzungsbrief vom 11.11.2009

 

Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat/Blutrache vom 05.11.2009

 

3. Versorgungslage

 

Die Lebensumstände der Bevölkerung in Tschetschenien haben sich in den letzen Jahren nachhaltig verbessert, in den Nachbarrepubliken jedoch eher verschlechtert. Die EU Kommission unterstützt den Wiederaufbau im April 2008 mit 11 Millionen Euro.

 

Dennoch gibt es insbesondere in der Strom- und Wasserversorgung große Defizite. Die Stromversorgung fällt oft aus, Wasser ist zumeist nur an einem Zentralhahn für das gesamte Gebäude verfügbar. Zumindest ebenso problematisch, wenn nicht sogar ein größeres Problem stellt die Müll- und Abwasserentsorgung dar. Allgemein ist die Umweltsituation durch die nicht fachgerechte Lagerung nuklearen Materials und die primitive Form der Gewinnung und Verarbeitung bodennahen Erdöls höchst problematisch.

 

Lt. UN-Angaben leben über 80% der Tschetschenen unter dem Existenzminimum.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage

 

in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien, vom 30.07.2009

 

Bundesasylamt, Chechen Republic: Information about the country and situation of

 

Chechens in the Russian Federation Part I, Februar 2008

 

3.1 Wohnsituation

 

Mit der Machtübernahme durch Präsident Kadyrow begann eine Wiederaufbauwelle in Tschetschenien. In rasantem Tempo werden vor allem Grosny und andere größere Städte wie Argun und Gudermes erneuert. Häuser und Straßen, insbesondere entlang der Hauptstraßen in Grosny, Strom- und Gasleitungen, Schulen, Krankenhäuser und Moscheen werden gebaut, auch der Flughafen ist wieder in Betrieb. Das ehemals fast völlig zerstörte Grosny ist mittlerweile nahezu vollständig wieder aufgebaut. Auch in den anderen größeren Städten findet der Wiederaufbau statt. Offizielle Stellen präsentieren Tschetschenien als stabiles Land, offen für Investoren aus aller Welt und sogar als Tourismusland mit malerischen Gebirgslandschaften(!).

 

Das hauptsächliche Ziel der Behörden ist es, den Bewohnern Tschetscheniens dauerhafte Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und die temporären "Wohnmöglichkeiten" zu schließen. Die Vergabekriterien hinsichtlich der wiederaufgebauten Wohnungen sind nicht ganz klar. Grobe Kriterien stellen der Grad der Zerstörung der bestehenden Wohnmöglichkeit, der Verletzbarkeit des Betroffenen und der regionalen Provinz dar. Die zugeteilten Wohnungen sind jedoch oft zu klein und nicht behindertengerecht adaptiert, was auch für ältere Menschen häufig ein Problem darstellt.

 

Ein großes Problem stellen Wohnungsmöglichkeiten für junge Familien, die bis dato bei ihren Eltern gelebt haben, dar, denn diese Personen hatten bisher kein Eigentum und bedürfen deshalb dringend Unterkunft. Darüber hinaus werden soziale Spannungen durch Streitigkeiten um den Wohnungsbesitz zwischen alten Eigentümern, die auf die Wohnung noch einen Anspruch erheben und den neuen Eigentümern, denen die Wohnung zugeteilt wurde, verstärkt.

 

Durch das Dekret Nr. 404 wurden im Juli 2003 Kompensationszahlungen eingeführt. Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört wurde und die sich dazu entschließen, weiterhin in Tschetschenien zu leben, erhalten 350.000 Rubel. Nach Angaben der föderalen Regierung erhielten bis Ende 2004 39.000 Personen Zahlungen. Auf Grund der steigenden Rohstoffpreise ist diese Zahlung jedoch nicht ausreichend, um ein Haus zu errichten oder eine Wohnung anzukaufen. NGOs berichten über Korruption in Zusammenhang mit dem Kompensationsprogramm, sodass Familien kaum die vollen Zahlungen erhielten. 30-50% mussten an Mittelsmänner bezahlt werden. In Folge wurden Abubakir Baibatyrov, der für die Kompensationszahlungen Verantwortliche, und ein hoher Beamter, Sultan Isakov, verhaftet und angeklagt. Nunmehr kontrolliert Präsident Kadyrow die Zahlungen, die Staatsanwaltschaft geht nach Berichten von Memorial auch gegen die Korruption vor, wobei die Staatsanwaltschaft selbst jedoch eingesteht, dass es nach wie vor Probleme gebe. Neben den Regierungsprogrammen gibt es auch eine große Zahl von Wohnortaufbauprogrammen durch NGOs. Seit 2000 wurden in Tschetschenien cirka 20.000 Häuser durch Unterstützung internationaler Organisationen wiederaufgebaut. Insgesamt bleibt jedoch der Mangel an Wohnraum ein großes Problem.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 30.07.2009

 

Bundesasylamt, Mitschrift des Besuches von Frau Leila Dzeitova (Direktorin von VESTA)

 

3.2 Nahrungsversorgung

 

Der Bazar in Grosny wurde wiedereröffnet und es ist praktisch alles erwerbbar, allerdings nicht immer zu leistbaren Preisen. Das IKRK hat seine Aufmerksamkeit weg von Hilfsleistungen hin zum Aufbau von eigenständiger Versorgung gelenkt. So wurden Projekte für die Förderung der Eröffnung von kleinen Geschäften - z.B. Schuhreparaturwerkstätten, Bäckereien, Verarbeitung von Wolle und Herstellung von Kleidung ins Leben gerufen.

 

Auf Grund zahlreicher Landminen und der bestehenden Bodenverschmutzung ist es in Tschetschenien nur schwer möglich, Landwirtschaft oder Viehzucht zu betreiben. Haupteinnahmequelle ist der Handel, viele Familien leben auch davon, dass Familienangehörige Geld aus anderen Teilen Russlands oder dem Ausland nach Tschetschenien schicken.

 

Berichten des World Food Programm zu Folge ist die Versorgungslage in Tschetschenien jedoch nach wie vor schlecht. Etwa 80% der Betroffenen würden unter der Armutsgrenze der Russischen Föderation leben. Überdies seien 10% der Kinder akut unterernährt.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage

 

in der Russischen Föderation vom 30.07.2009

 

Accord und UNHCR, Summary of the Accord-UNHCR country of origin information seminar, 18.10.2007

 

Bundesasylamt, Chechen Republic: Information about the country and situation of Chechens in the Russian Federation Part I, Februar 2008

 

3.3 Arbeitslosigkeit und soziale Lage

 

Die Arbeitslosigkeit in Tschetschenien ist trotz des anhaltenden Wiederaufbaues hoch (70-80%). Die meisten davon leben unter der Armutsgrenze (2,25 US$/Tag). Die Bautätigkeiten werden nämlich oft ohne schriftliche Verträge mit den Arbeitern durchgeführt. Dies führt dazu, dass Löhne nicht ausbezahlt und Sicherheitsvorkehrungen missachtet werden und dass bei Unfällen keine medizinische Versorgung vorhanden ist. Wiederholt kam es deswegen zu Protesten der Arbeiter, z. B. im Juni 2007.

 

Weitere Jobs finden sich im Bereich des Handels und der öffentlichen Verwaltung, wobei diese Positionen oft nur gegen Schmiergeldzahlungen erreicht werden können. Eine der stabilsten Arten, sein Einkommen zu verdienen, wenngleich auch sehr unsicher, ist es, einen Job in den pro-russischen, bewaffneten Formationen anzunehmen.

 

Löhne und Pensionszahlungen sind auch kaum ausreichend, um davon in Würde zu leben. Entgegen offiziellen Berichten unterhalten die Arbeitslosen auch kaum Unterstützung vom Staat.

 

Präsident Putin kündigte am 23.06.2008 an, bis 2011 im Rahmen eines föderalen Wiederaufbauprogramms zehntausend neue Arbeitsplätze zu schaffen, wofür 3,28 Milliarden Euro zur Verfügung stehen würden. Die Jamestown Foundation berichtete im April 2008, dass Präsident Kadyrow plane, das Hauptaugenmerk des Wiederaufbaues auf die Entwicklung der Wirtschaft (vor allem Industrie und Landwirtschaft) zu legen.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 30.07.2009

 

Bundesasylamt, Chechen Republic: Information about the country and situation of Chechens in the Russian Federation Part I, Februar 2008

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Russische Föderation Menschenrechtslage und Politik, Tschetschenienkonflikt, Juli 2008

 

3.4 Medizinische Versorgungssituation

 

Der Kollaps der medizinischen Versorgung begann sich zu Anfang der 1990er abzuzeichnen. Die beiden Tschetschenienkriege führten schließlich 1996-1999 zu einem völligen Kollaps des Systems, ein Großteil des medizinischen Personals wanderte aus. In den letzten Jahren gab es jedoch Anzeichen von Besserungen im Bereich der medizinischen Versorgung in Tschetschenien.

 

Der generelle Gesundheitszustand in Tschetschenien ist sehr schlecht. Der hohe Bedarf an ärztlicher Behandlung entsteht zum einen durch tausende Menschen, die nach ihrer Flucht wieder zurückgekehrt sind und unter Kriegsverletzungen leiden. Zum anderen kommt es durch Schießereien, bei Unfällen mit Militärfahrzeugen oder Explosionen von Minen immer noch zu neuen Verletzungen. Auch chronische Lungen-, Nieren- und Herz-Kreislaufleiden sind weit verbreitet sowie Tuberkulose, um deren Behandlung sich ebenfalls "Ärzte ohne Grenzen" bemühen. Die hygienischen Bedingungen sind in weiten Teilen der Republik schlecht, die Wasserqualität oft katastrophal und eine Kontrolle der meist auf den Märkten verkauften Lebensmittel fehlt fast völlig. Radioaktive Verstrahlung und deren Folgen sind ein ernstzunehmendes Problem in Tschetschenien (Im Norden und in der Nähe von Vedeno werden illegale Ablagerungsstätten für radioaktives Material vermutet). Gleichzeitig fehlt es an medizinischer Grundversorgung, vor allem im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe, was zu einer hohen Komplikationsrate und Geburt von behinderten Kindern führt.

 

Lt. Auskunft des russischen Roten Kreuzes sind aber auch in Tschetschenien alle medizinischen Behandlungen - außer solchen, die besonderer "high tech" bedürfen, verfügbar.

 

Der höchste Level an Gesundheitsversorgung besteht in Grosny. Dort gibt es 11 Krankenhäuser, 21 Polykliniken und 6 Klinken. Es gibt jedoch nur wenig Spezialisten in der Stadt. Pro 10.000 Einwohner gibt es laut Angaben der Regierung Kadyrow nur 24,2 Ärzte für Primärmedizin. Neben dem Wiederaufbau von Gebäuden und Straßen laufen auch Programme zur Sanierung der Gesundheitsversorgung. Auch hier muss noch einiges an Zeit und Geld investiert werden, um die Versorgung sicherzustellen. Krankenhäuser und Polykliniken werden wieder aufgebaut. Die Krankenhäuser kämpfen vor allem mit mangelnder Ausstattung hinsichtlich medizinischer Geräte und Medikamenten, aber auch von Versorgungsleistungen, wie Stromversorgung oder Abwasserbeseitigung. Der Standard der verfügbaren Versorgung hängt jedoch sehr stark von den finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen ab, mittlerweile gibt es jedoch - lt. Auskunft des russischen Roten Kreuzes - auch eine funktionierende öffentliche Krankenversicherung, welche von den Arbeitgebern und den Gemeinden finanziert wird.

 

Ein 2006 ins Leben gerufenes Programm mit dem Titel "Sdorowje" (Gesundheit) trägt mit Renovierungen von Krankenhäusern, Neueröffnungen von medizinischen Einrichtungen, Beschaffung von Ausstattung und Material und Ausbildung von Personal zur Verbesserung der allgemeinen medizinischen Versorgung bei. Laut Angaben der Regierung von Kadyrow wurden 2007 im Rahmen dieses Projekts mehrere hundert Millionen Rubel investiert.

 

Die internationale Gemeinschaft unterstützt Programme, die die Wiederherstellung der Gesundheitsversorgung vorantreiben sollen (dazu näher Inter-Agency Transitional Workplan for the North Caucasus). Die EU, WHO Europa und UNICEF haben 2007 12,7 Millionen Euro in Projekte auf dem Gesundheits- und Ausbildungssektor investiert. Das IKRK stellte seine finanzielle Unterstützung 2008 ein, da diese weitestgehend von der föderalen und lokalen Regierung übernommen wurde. Schulungsmaßnahmen und Hilfsleistungen an das Orthopädiezentrum in Grosny werden jedoch nach wie vor fortgesetzt. Zahlreiche andere NGOs sind in Tschetschenien aktiv. Insbesondere "Ärzte ohne Grenzen" sind seit 1994 vor allem im Bereich der Tuberkuloseprogramme, der psychosozialen Unterstützung, aber auch im Bereich der Gynäkologie und der Kinderheilkunde tätig. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz beendete 2007 seine Direkthilfe in Tschetschenien. Auch wenn sich die Lage bessert, bleibt der Gesundheitsstandard in Tschetschenien noch immer hinter dem der Russischen Föderation zurück.

 

Aufgrund der mangelnden Ausstattung ist es üblich, im Falle der Notwendigkeit einer Operation auf Krankenhäuser in der Russischen Föderation (Sochi, Rostov oder Moskau) auszuweichen. Die

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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