TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/14 S4 319902-1/2008

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Veröffentlicht am 14.07.2008
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Spruch

GZ: S4 319.902-1/2008/5E

 

S4 319.903-1/2008/4E

 

S4 319.904-1/2008/5E

 

S4 319.905-1/2008/4E

 

Erkenntnis

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Andreas Huber als Einzelrichter über die Beschwerde 1. der I.L., 00.00.1971 geb., 2. der I.A., 00.00.1997 geb., 3. des I.K., 00.00.2001 geb., und 4. der I.D., 00.00.1994 geb., alle StA. von Russland und vertreten durch S.S. gegen die Bescheide des Bundesasylamtes jeweils vom 9.6.2008, Zlen. 08 00.748-EAST-WEST (ad 1.), 08 00.753-EAST-WEST (ad 2.), 08 00.752-EAST-WEST (ad 3.), und 08 00.749-EAST-WEST (ad 4.) gem. § 66 Abs. 4 AVG iVm § 61 Abs. 3 Z 1 lit b des Asylgesetzes 2005 idgF (AsylG) zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die 1.-Beschwerdeführerin ist Mutter der mj. 2.-, 3.- und 4.-Beschwerdeführer, alle sind Staatsangehörige von Russland und gemeinsam über Weißrussland und Polen kommend, wo sie am 12.11.2007 in Lublin Asylanträge gestellt hatten (vgl. AS 5), am 19.1.2008 ins Bundesgebiet eingereist. Am selben Tag stellten sie schließlich in Österreich jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Mit E-mail vom 22.1.2008 ersuchte Österreich Polen um Aufnahme der Asylwerber. Polen hat sich schließlich mit Fax vom 5.2.2008, datiert 4.2.2008 (AS 107 des Verwaltungsaktes der 1.-Beschwerdeführerin), bereit erklärt die Asylwerber gem. Art. 16 Abs.1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) wiederaufzunehmen und ihre Asylanträge zu prüfen.

 

Im erstinstanzlichen Verfahren brachte die 1.-Beschwerdeführerin im Wesentlichen nachstehende Umstände, die ihrer Ansicht nach gegen eine Überstellung nach Polen sprechen, vor:

 

Ihr Ehegatte sei im Heimatland verschleppt worden, sie selbst sei vergewaltigt worden und habe schwere Traumatisierungen erlitten.

 

Weiters leide sie an schmerzhaften äußeren Hämorrhoiden und sei diesbezüglich bereits eine Operation (Hämorrhoidalarterienligatur) geplant.

 

Ihr mj. Sohn K. sei querschnittgelähmt und bedürfe aufgrund einer sehr seltenen Erkrankung besonderer medizinischer Behandlung und komplizierter Untersuchungen. Ihr Sohn müsse mehrmals (5x) täglich kathederisiert werden, da er auch an einer Blasenentleerungsstörung leide, auch sei keine selbstständige Stuhlentleerung möglich. In Polen habe sie keine ausreichende medizinische Versorgung für ihren Sohn erhalten.

 

In einem Ambulanzbericht der Landes- Frauen- und Kinderklinik Linz, Prim. Dr. G. (AS 325) wird diesbezüglich etwa auszugsweise ausgeführt, dass es sich um eine sehr seltene Störung mit Auflösung großer Teile des Rückenmarks handle, die Lähmung reiche mittlerweile bis in den Schulterbereich. Es werde Verbindung zum neurologischen Zentrum u.a. in Amsterdam aufgenommen.

 

In einem weiteren Bericht der Landes- Frauen- und Kinderklinik Linz, Prim. Dr. G. (AS 455) wird ausgeführt, dass K. an einer tödlichen Erkrankung leide, im Zwischenraum der ambulanten Vorstellung zum Ist-Zustand im April seien weitere große Bereiche nicht mehr inerviert, und es sei zu befürchten, dass in Bälde auch die Atemmuskulatur betroffen sei. Trotz aufwendiger Untersuchungen konnte keine Erklärung für die Ursache der Rückenmarksauflösung gefunden werden.

 

2008 sei ihre mj. Tochter Z., 00.00.1993 geb., in T. bei einem Fahrradunfall tödlich verunglückt.

 

Sie, die Mutter sei daraufhin stationär in die Psychiatrie aufgenommen worden. Sie fühle sich nunmehr innerlich "wie tot", sei völlig gebrochen und sei ihr alles gleichgültig.

 

Ein weiteres großes Problem sei die psychische Situation ihrer zweiten Tochter D., die den Unfall ihrer Schwester mitangesehen habe und nunmehr völlig zerstört sei, den ganzen Tag am Bett liege, trauere und schlafe und mit niemandem mehr Kontakt aufnehme.

 

In der Nähe von Linz lebe ihre Schwägerin, I.H., von der sie unterstützt werde und deren Beistand für sie und ihre Kinder sehr entlastend gewesen sei. In Polen hätte sie keine Unterstützung.

 

Dieses Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, das auch für ihre Kinder gilt, wird betreffend ihren physischen und psychischen Zustand und jenen ihrer Kinder durch verschiedene im Akt befindliche Berichte von Psychotherapeuten und NGO¿s belegt, hinsichtlich des tödlichen Unfalles ihrer Tochter Z. durch entsprechende Berichte (Info-Schreiben de BAA-Journaldienstes, Konsiliarbefund vom 15.5.2008, AS 395 und 405).

 

Die Anträge auf internationalen Schutz wurden jeweils mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.6.2008, Zlen. 08 00.748-EAST-WEST (ad 1.), 08 00.753-EAST-WEST (ad 2.), 08 00.752-EAST-WEST (ad 3.), und 08 00.749-EAST-WEST (ad 4.), gem. § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und die Antragsteller gem. § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

 

Gegen diesen Bescheid haben die Asylwerber fristgerecht Beschwerde erhoben und hiebei insbesondere - unter Darlegung weiterer Erwägungen - ausgeführt, dass es das Bundesasylamt unterlassen habe, entsprechende Emittlungen anzustellen, ob der 3.-Bschwerdeführer in Polen ausreichende medizinische Versorgung erhalten könne.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Mit 1.7.2008 ist das Asylgerichtshofgesetz (AsylGHG) in Kraft getreten.

 

Mit 1.1.2006 ist das Asylgesetz 2005 (AsylG) in Kraft getreten.

 

§ 61 AsylG 2005 lautet wie folgt:

 

(1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

(2) Beschwerden gemäß Abs. 1 Z 2 sind beim Asylgerichtshof einzubringen. Im Fall der Verletzung der Entscheidungspflicht geht die Entscheidung auf den Asylgerichtshof über. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes zurückzuführen ist.

 

(3) Der Asylgerichtshof entscheidet durch Einzelrichter über Beschwerden gegen

 

1. zurückweisende Bescheide

 

a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4;

 

b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5

 

c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG, und

 

2. die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung

 

(4) Über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde entscheidet der für die Behandlung der Beschwerde zuständige Einzelrichter oder Senatsvorsitzende.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

 

Gemäß § 5 Abs. 2 AsylG ist auch nach Abs. 1 vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

 

Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Gemäß § 41 (3) AsylG ist in einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

Artikel 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates lautet:

 

Abweichend von Abs. 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.

 

Gemäß der - mittlerweile ständigen - Rechtssprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes (VfGH vom 8.3.2001, G 117/00 u. a., VfSlG 16.122; VwGH vom 23.1.2003, Zl. 2000/01/0498) ist auf Kriterien der Art. 3 und 8 EMRK bei Entscheidungen gemäß § 5 AsylG, ungeachtet des Fehlens einer diesbezüglichen Anordnung in der Bestimmung selbst, Bedacht zu nehmen.

 

Sohin ist zu prüfen, ob die Beswchwerdeführer im Falle der Zurückweisung ihrer Asylanträge und ihrer Ausweisung nach Polen gem. §§ 5 und 10 AsylG - unter Bezugnahme auf ihre persönliche Situation - in ihren Rechten gem. Art. 3 und/oder 8 EMRK verletzt werden würde, wobei der Maßstab des "real risk" anzulegen ist.

 

Zunächst ist auszuführen, dass dem Bundesasylamt grundsätzlich darin beizupflichten ist, dass die im Verfahren geltend gemachten, oben angeführten Umstände - jeweils für sich allein betrachtet - bei einer Überstellung der Beschwerdeführer nach Polen vor dem Hintergrund der strengen Judikatur des EGMR zu Art. 3 und 8 EMRK und der grundsätzlichen medizinischen Versorgung von Asylwerbern in Polen auf zumindest durchschnittlichem EU-Niveau noch keine Verletzung ihrer diesbezüglichen Rechte indizieren, zumal etwa der 3.-Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht hat, welche konkreten Behandlungen in Österreich möglich sind, die er aber in Polen nicht erhalten könnte.

 

In gegenständlichem Fall, dem zweifellos ein ganz besonders außergewöhnliches, belastendes Schicksal der Beschwerdeführer zugrunde liegt, greift jedoch eine bloße Einzelbetrachtung der im Verfahren geltend gemachten Umstände zu kurz. Die psychische Belastung der 1.-Beschwerdeführerin hat aufgrund der Kumulation der oben angeführten Schicksalsschläge nach menschlichem Ermessen bereits ein Maß erreicht, dass bei Hinzutreten weiterer belastender Umstände, wie etwa der Sorge um die weitere medizinische Behandlung ihres todkranken Sohnes im Falle einer Überstellung nach Polen, die Schwelle der relevanten Eingriffsintensität im Bezug auf Art. 3 EMRK überschritten wird. In diesem Zusammenhang erscheint auch für die minderjährigen 2.-, 3.- und 4.-Beschwerdeführer nicht zumutbar mit einer psychisch völlig überforderten Mutter ohne weitere verwandtschaftliche Bezugsperson ihr Leben in Polen neu zu organisieren, während in Österreich jedenfalls eine Tante der 2.-, 3.- und 4.-Beschwerdeführer aufhältig ist, die sie unterstützt.

 

Insgesamt betrachtet liegen Fälle vor, die den Selbsteintritt Österreichs zur Prüfung der Asylanträge der Beschwerdeführer gem. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) geboten erscheinen lassen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
familiäre Situation, Familienverfahren, Intensität, medizinische Versorgung, real risk, Selbsteintrittsrecht, Überstellungsrisiko (ab 08.04.2008), Zumutbarkeit
Zuletzt aktualisiert am
20.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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