TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/22 B14 249306-0/2008

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Veröffentlicht am 22.09.2008
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Spruch

B14 249.306-0/2008/9E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von C.C., geb. 00.00.1981, StA.:

Russische Föderation, vertreten durch RA Dr. Peter ZAWODSKY, vom 23.04.2004 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.04.2004, Zl 03 26.238-BAE, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und C.C. gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idF BGBl. I Nr. 101/2003, Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass C.C. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Asylwerberin hat am 31.08.2003 einen Asylantrag eingebracht. Zu ihren Fluchtgründen bringt sie in ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt im Wesentlichen vor, dass es ständig zu willkürlichen Kontrollen und Festnahmen insbesondere der männlichen tschetschenischen Bevölkerung komme. Falls man finanziell nicht mehr in der Lage sei, Löse- oder Bestechungsgeld zu bezahlen, um die Freilassung zu erwirken, laufe man Gefahr, unbemerkt zu verschwinden und nie wieder aufzutauchen. Da auch ihr Ehemann von willkürlichen Festnahmen seitens der russischen Sicherheitskräfte betroffen gewesen sei, habe sie sich zusammen mit ihrem Ehemann letztendlich zur Flucht entschlossen.

 

Mit Bescheid vom 13.04.2004, Zl 03 26.238-BAE, hat das Bundesasylamt den Asylantrag gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I) und die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt II). Weiters wurde der Asylwerberin in Spruchpunkt III des Bescheides gemäß § 15 Abs. 1 iVm 15 Abs 3 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.04.2005 erteilt.

 

Das Bundesasylamt ging in seiner Entscheidung im Wesentlichen davon aus, dass die Asylwerberin nicht in der Lage war, dem Bundesasylamt glaubhaft darzulegen, in ihrem Heimatstaat asylrelevanter Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt gewesen zu sein.

 

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde.

 

In diesem Beschwerdeverfahren wurde am 10.04.2008 ein ergänzendes Ermittlungsverfahren im Zuge einer öffentlichen mündlichen Verhandlung durchgeführt. Im Rahmen dieser Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Einvernahme der nunmehrigen Beschwerdeführerin als Partei, sowie durch Erörterung der dem Verhandlungsprotokoll angeschlossenen Unterlagen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Folgender Sachverhalt wird festgestellt:

 

Die Beschwerdeführerin führt den im Spruch angegebenen Namen, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und ist Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der Ehemann der Beschwerdeführerin war aufgrund seiner Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe ständigen Kontrollen und Festnahmen seitens der russischen Sicherheitskräfte ausgesetzt gewesen, im Zuge derer es auch zu körperlichen Übergriffen dem ehemann der Beschwerdeführerin gegenüber kam. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 22.09.2008, GZ: B14 249.305-0/2008/15E, Asyl gewährt.

 

Zur Situation im Herkunftsland der Beschwerdeführerin werden folgende Feststellungen getroffen:

 

Der Tschetschenienkonflikt hat längst auf die Nachbarrepubliken (insbesondere Inguschetien und Dagestan, aber auch Kabardino-Balkarien und Nordossetien) übergegriffen. Wesentlicher Faktor der Instabilität sind die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der gesamten Region, die einhergehen mit Korruption und Clanwirtschaft. Föderale Gelder kommen nur zu einem geringen Teil am Bestimmungsort an.

 

Präsident Putin will die russischen Truppen in Tschetschenien deutlich reduzieren. Schon jetzt regiert dort de facto unangefochten Ramsan Kadyrow, der Sohn des ermordeten Ex-Präsidenten. Seine Autorität verdankt er seinen Kämpfern und einem sichtbaren Wiederaufbau. Doch von Rechtsstaatlichkeit ist Tschetschenien noch weit entfernt.

 

Nach Kadyrows Ermordung wurde dessen Privatarmee - die "Kadyrowzi" - in mehreren Etappen ausgebaut und schließlich in offizielle Streitkräfte des Innenministeriums umgewandelt. Im Ergebnis hat sich eine mehrere tausend Mann starke Truppe gebildet, die zum großen Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfern besteht und deren Kommandanten ihren Eid auf Kadyrow geschworen haben. Neben diesen Kräften gibt es noch zwei tschetschenische Regimenter, die unter föderalem Kommando stehen, sowie die regulären russischen Truppen. Kadyrow aber hat erfolgreich die Praxis seines Vaters fortgesetzt, Rebellen durch Argumente, Geld und auch Gewalt - zum Beispiel durch die Entführung von Angehörigen - zum Überlaufen zu bewegen. Im Kampf gegen die Separatisten erwiesen sich die Instrumente Kadyrows als eindeutig effektiver als der Einsatz russischer Soldaten. Zwar herrscht unter den russischen Militärs ein erhebliches Misstrauen gegenüber den Kämpfern Kadyrows. Doch Putins Entscheid, die russische Militärpräsenz zu reduzieren, ist auch ein Zeichen der Anerkennung für Kadyrow. Nach und nach hat der Kreml den wegen seiner Brutalität und mangelnden Bildung geschmähten, aber schlauen und offensichtlich mit einem sicheren Machtinstinkt versehenen Kadyrow belohnt und aufgebaut.

 

Ebenso bedeutsam wie auch trügerisch ist der von Menschenrechtlern gemeldete Rückgang von Gewaltverbrechen. Die Zahl der Morde und Verschleppungen sei im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen, meldete die angesehene Menschenrechtsorganisation Memorial Anfang August. In ihrem Bericht dokumentiert Memorial 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen seit August des vergangenen Jahres. Für das vorherige Jahr hatte Memorial noch 310 Morde und 418 Verschleppungen aufgelistet. Menschenrechtler geben jedoch zu bedenken, dass die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte, da unter Kadyrow ein Regime der Angst herrsche, das dazu führe, dass viele Menschenrechtsverletzungen aus Angst vor Repressalien erst gar nicht mehr angezeigt würden. Wie viele Verbrechen aus welchen Motiven auf das Konto der Anhänger Kadyrows gehen, bleibt häufig ungeklärt.

 

Während die Rebellen spätestens seit der Ermordung des radikalsten Terroristenführers Schamil Bassajew entscheidend geschwächt sind und ihren Kampf um die Unabhängigkeit längst verloren haben, ist an die Stelle des alten Konfliktes nun eine Atmosphäre der weitgehenden Willkür und Rechtlosigkeit unter dem autoritären Regime Kadyrows getreten. Paradoxerweise hat Kadyrow für Tschetschenien von Moskau Freiräume abgerungen, für welche die Rebellen vergeblich ins Feld zogen. Wie stark die Verbitterung und mögliche Widerstände innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft gegenüber dem Machthaber sind, ist von außen schwer zu beurteilen. Für die Beobachter stellt sich heute nur die Frage, wann Kadyrow auch das Placet Putins für das Präsidentenamt erhält. Dabei ist Kadyrows Machtfülle nicht wenigen im Kreml ein Dorn im Auge, schließlich könnte er irgendwann zu stark und unkontrollierbar werden. Doch zurzeit, so scheint es, hat Moskau in Tschetschenien kaum eine Alternative.

 

Das Auswärtige Amt hat keine Kenntnis von Fällen, in denen Personen, die Separatisten in Tschetschenien unterstützt haben, verurteilt worden sind. Aus Agenturmeldungen sind einige Fälle bekannt, in denen es zu Verhaftungen von Personen gekommen ist, die von tschetschenischen oder föderalen Behörden verdächtigt wurden, für Rebellen unterstützende Dienste geleistet zu haben, wobei hier keine Festlegung auf die Zeit des zweiten Tschetschenienkrieges erfolgen kann.

 

Auch Menschenrechtsorganisationen sind keine Verurteilungen von Unterstützern bekannt geworden. Sie weisen allerdings auf Fälle hin, in denen solche Personen festgenommen und ihnen danach willkürlich schwere Verbrechen unterstellt worden sind. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen können Umgang und Bekanntschaft mit tschetschenischen Kämpfern grundsätzlich gefährlich werden.

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in letzter Zeit etwas verbessert (in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hingegen eher verschlechtert). Der zivile Wiederaufbau der völlig zerstörten Republik konzentriert sich auf die Hauptstadt Grosny. Von den im föderalen Budget 2006 für den Wiederaufbau vorgesehenen Mitteln ist im ersten Halbjahr 2006 noch kein Anteil ausgezahlt worden.

 

Auch die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist derzeit blockiert. Nach Angaben von Präsident Alchanow sind bisher 2 Milliarden Rubel an Kompensationszahlungen geleistet worden. Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Der russische Migrationsdienst gibt nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen offen zu, dass von den Entschädigungszahlungen 15 Prozent nach Moskau, 15 Prozent an die lokalen Behörden, zehn Prozent an die zuständige Bank und ein gewisser Prozentsatz an den Migrationsdienst selbst gehen. Verschiedene Schätzungen u.a. des (am 01.04.2006 aus seinem Amt ausgeschieden) Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen

 

Besorgniserregend bleibt die humanitäre Notlage der tschetschenischen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens. Neben über 200.000 Binnenvertriebenen innerhalb Tschetscheniens befanden sich nach VN-Angaben im April 2006 in der Datenbank für humanitäre Hilfe noch 24.162 tschetschenische Binnenvertriebene in Inguschetien (8.828 in Übergangs-, 15.334 in Privatunterkünften). Auch in den übrigen nordkaukasischen Nachbarrepubliken halten sich tschetschenische Binnenflüchtlinge auf: ca. 10.000 in Dagestan, 4.000 in Nordossetien, 10.000 in Kabardino-Balkarien und 23.000 in Karatschajewo-Tscherkessien. Darüber hinaus gibt es praktisch in allen russischen Großstädten eine große, durch Flüchtlinge noch wachsende tschetschenische Diaspora: 200.000 in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau), 70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion (Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 05.06.2006). Tschetschenische Flüchtlinge leben auch in Georgien (nach letzter offizieller Registrierung vom Dezember 2004 2.619 tschetschenische Flüchtlinge), Aserbaidschan (ca. 8.000) und Kasachstan (ca. 12.000). Etwa 31.000 tschetschenische Flüchtlinge sollen sich in Westeuropa aufhalten. Die russische Regierung arbeitet auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Binnenflüchtlinge (etwa 500.000) hin. Als Ausdruck einer angeblichen "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien wurden die letzten Zeltlager in Inguschetien aufgelöst (das Lager "Bart" am 01.03.2004, "Sputnik" am 01.04.2004 und "Satsita" am 10.06.2004). Trotz finanzieller Anreize für eine Rückkehr nach Tschetschenien ist die Zahl der Flüchtlinge in Inguschetien aber nach wie vor hoch.

 

Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge in den Übergangsunterkünften in der russischen Teilrepublik Inguschetien sind unter allen Aspekten schwierig. Inguschetien und das russische Katastrophenschutzministerium können nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe leisten und sind mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Unter Leitung des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen (OCHA) leisten zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen seit Jahren umfangreiche humanitäre Hilfe in der Region. OCHA stellte den rund 1,2 Mio. betroffenen Menschen im Nordkaukasus auch 2005 wieder knapp 62 Mio. US-$ zur Verfügung. Gleichzeitig fahren die russischen Migrationsbehörden die Versorgung der Binnenflüchtlinge in Inguschetien allmählich zurück. Auch UNHCR und Dänischer Flüchtlingsrat planen, die Zahl der Hilfsberechtigten unter den Flüchtlingen in Inguschetien ab Mai 2006 zu verringern; u.a. sollen Familien ohne Behinderte und ohne Familienangehörige über 50 Jahre nicht mehr vom Lebensmittelprogramm erfasst werden (erwartete Reduzierung der bisher erfassten 25.000 Flüchtlinge um 9 %). Aus Sicherheitsgründen ist die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Tschetschenien nur deutlich eingeschränkt möglich.

 

In Tschetschenien wurden für die Flüchtlinge provisorische Unterkünfte errichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten der inzwischen in Tschetschenien fertig gestellten zeitweiligen Unterkünfte reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Außerdem berichten UNICEF und andere VN-Organisationen von desolaten sanitären Verhältnissen und schlechten Lebensbedingungen in großen Teilen der von ihnen betreuten Übergangsunterkünfte in Grosny (Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, unbefriedigende Sicherheitslage.

 

Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist nicht gewährleistet. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Zwar hat auch nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen die Anzahl von Gewaltakten sowohl von Seiten der durch Fahndungserfolge der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geschwächten Rebellen als auch von Seiten der Sicherheitskräfte selbst zuletzt abgenommen, doch sind immer noch willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschläge an der Tagesordnung.

 

Im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten hat sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden. Dem Auswärtigem Amt sind jedoch keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden. Am 24.01.2006 hat das tschetschenische Parlament eine Ausschuss eingerichtet (Vorsitzender: Parlamentspräsident Abdurachmanow), der Diskriminierungen gegen Tschetschenen aufklären und die Suche nach Vermissten überwachen soll.

 

Die Bevölkerung begegnet Tschetschenen größtenteils mit Misstrauen. Hier wirken sich latenter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Teilen der russischen Bevölkerung und insbesondere die negative Wahrnehmung der Tschetschenen aus. Berichte über Kontakte der tschetschenischen Rebellen zu den Taliban und Osama Bin Laden, die Geiselnahme 2002 in Moskau und die Anschläge 2004 haben dies noch verstärkt.

 

Nach Beobachtungen des Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine neue Besorgnis erregende Entwicklung.

 

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist vom Nahrungsmittelangebot her gewährleistet. Allerdings leben immer noch - trotz erheblicher sozialpolitischer Fortschritte - rund 20 Mio. Russen (knapp 15% der Bevölkerung) unter dem statistischen Existenzminimum. Es gibt staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe für bedürftige Personen auf sehr niedrigem Niveau), die jedoch faktisch noch nicht einmal den Grundbedarf deckt. 2006 werden für Bildung, Gesundheit und sozialen Wohnungsbau (im Rahmen der sog. "Nationalen Projekte") zusätzlich 180 Milliarden Rubel (ca. 5,3 Milliarden Euro) ausgegeben. Kritiker befürchten indes, dass das Geld in falsche Hände geraten könne.

 

Die tschetschenische Bevölkerung lebt unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft, insbesondere in Grosny. Internationalen Hilfsorganisationen ist es nur sehr begrenzt und punktuell möglich, Nahrungsmittel in das Krisengebiet zu liefern. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau Tschetscheniens sachgerecht verwendet werden. Das IKRK hat im Jahre 2006 für humanitäre Projekte im Nordkaukasus 20 Mio. US$ vorgesehen.

 

Etwa 50% des Wohnraums ist seit dem ersten Krieg (1994-1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80% (russischer Durchschnitt: 7,6%).

 

Das reale Pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa ein Zehntel des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Viel Geld wird in Tschetschenien mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient. Zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus der Ferne schickt.

 

Die medizinische Grundversorgung in Russland ist theoretisch grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu.

 

Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten.

 

Die Feststellungen gründen sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Zur Feststellung hinsichtlich der Identität und Herkunft der Beschwerdeführerin ist darauf hinzuweisen, dass bereits die Behörde erster Instanz diese nicht in Zweifel gezogen hat, wovon abzugehen auch seitens der erkennenden Behörde kein Grund bestand.

 

Die Feststellungen zu den Fluchtgründen stützen sich zum einen auf das widerspruchsfreie und detaillierte Vorbringen der Beschwerdeführerin, die in der öffentlichen mündlichen Verhandlung einen positiven und glaubwürdigen Eindruck hinterließ, sodass am Wahrheitsgehalt ihrer Schilderungen kein Zweifel entstand, zumal das Vorbringen im Einklang mit den in der Verhandlung vorgelegten Dokumenten steht, sowie auf den Inhalt des Asylaktes des Ehemannes der Beschwerdeführerin.

 

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsland der Beschwerdeführerin für Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen gründen sich auf die der Verhandlungsschrift angeschlossenen Dokumente.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

Gemäß § 28 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG), BGBl. I 4/2008, tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005, BGBI. I Nr. 100/2005, sind alle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt. Die §§ 24, 26, 54 bis 57 und 60 dieses Bundesgesetzes sind auf diese Verfahren anzuwenden. § 27 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Behörde zur Erlassung einer Ausweisung zuständig ist und der Sachverhalt, der zur Einleitung des Ausweisungsverfahrens führen würde, nach dem 31. Dezember 2005 verwirklicht wurde. § 57 Abs. 5 und 6 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass nur Sachverhalte, die nach dem 31. Dezember 2005 verwirklicht wurden, zur Anwendung dieser Bestimmungen führen.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG idF der Novelle BGBl I Nr. 101/2003 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die bis zum 30. April 2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl I Nr. 76/1997 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl I Nr. 126/2002 geführt.

 

Da gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 idF BGBI I Nr. 101/2003 auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen ist, waren gegenständlich die Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl I Nr 76/1997 idF BGBI I Nr 126/2002 heranzuziehen.

 

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG begehren Fremde, die in Österreich Schutz vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) suchen, mit einem Asylantrag die Gewährung von Asyl.

 

Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert, dass als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich infolge von vor dem 01. Jänner 1951 eingetretenen Ereignissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG zugrundeliegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH E vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH E vom 19.04.2001, Zl. 99/20/0273).

 

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH E vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).

 

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312, zur Gefahr einer "Sippenhaftung" ausführte, entspräche diese Form der "stellvertretenden" (oder - in anderen Fällen - zusätzlichen) Inanspruchnahme eines Familienmitgliedes dem Modell des - oft als "Sippenhaftung" bezeichneten - "Durchschlagens" der Verfolgung eines Angehörigen auf den Asylwerber, wobei in den hier in der Praxis im Vordergrund stehenden Fällen eine Verfolgung des Angehörigen wegen politischer Aktivitäten für die Asylrelevanz dieses "Durchschlagens" nicht gefordert wird, dass der potentielle Verfolger auch dem Asylwerber eine entsprechende politische Gesinnung unterstellt. Die Rechtsgrundlage für das Absehen vom Erfordernis einer dem Asylwerber selbst zumindest unterstellten politischen Gesinnung in den Fällen der "Sippenhaftung" ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in der Anerkennung des Familienverbandes als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK in Verbindung mit § 7 AsylG zu sehen.

 

Verfolgung kann daher schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft des Asylwerbers, somit in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK, etwa jener der Familie, liegt (VwGH E vom 14.01.2003, Zl. 2001/01/0508-7).

 

Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin durch seine Festnahmen in das Blickfeld der Behörden geraten ist. Der Ehemann der Beschwerdeführerin hat somit glaubhaft machen können, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Bezug nehmend auf die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist auch davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin wegen der ihrem Ehemann unterstellten Aktivitäten ebenso Verfolgungshandlungen zu befürchten hat.

 

Wegen der konkreten Gefährdung der Beschwerdeführerin konnte in ihrem Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative im Herkunftsstaat ermittelt werden.

 

Gemäß § 12 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Schlagworte
Familienverband, gesamte Staatsgebiet, Sippenhaftung, soziale Gruppe, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
28.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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