TE AsylGH Erkenntnis 2008/11/04 E6 240833-0/2008

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Veröffentlicht am 04.11.2008
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Spruch

E6 240.833-0/2008-8E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Habersack als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Grabner-Kloibmüller als Beisitzerin im Beisein der Schriftführerin Fr. Ahorner über die Beschwerde des N.H., geb. 00.00.1975, StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.07.2003, FZ. 02 31.480-BAL, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.10.2008 zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 AsylG 1997, BGBl I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer gab an, Staatsangehöriger der Türkei moslemischen Glaubens zu sein und beantragte am 28.10.2002 die Gewährung von Asyl. Er wurde hiezu am 14.05.2003 vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.07.2003, FZ. 02 31.480-BAL, wurde der Asylantrag in Spruchteil I unter Berufung auf § 7 AsylG abgewiesen; in Spruchteil II stellte es fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 8 AsylG zulässig sei. Gegen diesen mit Wirksamkeit vom 06.08.2003 dem Beschwerdeführer persönlich zugestellten Bescheid wurde mit Schreiben vom 18.08.2003 fristgerecht Berufung (nunmehr Beschwerde) erhoben.

 

Am 28.10.2008 führte der Asylgerichtshof in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand vorliegender Länderdokumentationsunterlagen erörtert.

 

2. Der Beschwerdeführer stammt aus der Türkei und gehört dem islamischen Glauben an. Geboren wurde der Beschwerdeführer in dem Dorf K. im Kreis E.in der Provinz G., wo er bis zu seinem dritten Lebensjahr auch aufwuchs. Danach zog der Beschwerdeführer mit seiner Mutter für ca. sechs Jahre nach Stuttgart in Deutschland, wo sein Vater als Gastarbeiter aufhältig war, kehrte jedoch im Alter von neun Jahren wieder in die Türkei zurück. Dort besuchte er von 1984 bis 1989 die Volks- und von 1989 bis 1992 die Hauptschule. Nach der Absolvierung der Berufsschule (1992 bis 1995) besuchte der Beschwerdeführer für ca. drei Jahre die Universität in Zypern, brach sein Studium jedoch ein Jahr vor seinem Militärdienst ab, den er von 1999 bis 2002 leistete. Im Anschluss daran war der Beschwerdeführer als Elektriker in Istanbul beschäftigt, bis er im Oktober 2002 die Türkei verließ.

 

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei eine asylrelevante - oder sonstige - Verfolgung oder Strafe maßgeblicher Intensität oder die Todesstrafe droht oder dem Beschwerdeführer in der Türkei die Existenzgrundlage völlig entzogen wäre.

 

3. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:

 

Überblick

 

Die Türkei betrachtet sich als Modell eines laizistischen Staates mit überwiegend islamischer Bevölkerung. Ein herausragendes politisches und für die gesamte Türkei wegweisendes Ereignis der letzten Jahrzehnte ist der Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zum 03.10.2005. In ihrem Fortschrittsbericht vom 08.11.2006 greift die EU-Kommission vor allem drei Kritikpunkte auf:

mangelnde Flexibilität in der Zypernfrage und Defizite bei der Meinungs- und Religionsfreiheit sowie bei den Minderheitenrechten. Nach dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU vom Dezember 2006 wurden die Verhandlungen von acht der 35 Verhandlungskapitel eingefroren. Auf ein Ultimatum im Zypernstreit wurde verzichtet; die Türkei wird aber weiter dazu gedrängt, ihre Häfen und Flughäfen für die Republik Zypern zu öffnen, die seit Mai 2004 EU-Mitglied ist. Unter deutscher EU-Präsidentschaft wurden im ersten Halbjahr 2007 insgesamt drei weitere Verhandlungskapitel eröffnet. Bei den Parlamentswahlen vom 22.07.2007 hat die regierende AKP von MP Erdogan mit knapp 46,62 % der abgegebenen Stimmen (340 Sitze) einen historischen Sieg errungen, Wahlverlierer ist die CHP von Oppositionsführer Baykal mit 20,88 % (112 Sitze). Als weitere Partei zog die MHP (14,27%, 71 Sitze) sowie 26 unabhängige Kandidaten (davon 22 von der kurdennahen DTP) ins Parlament ein. Die Regierung Erdogan kann sich weiterhin auf eine stabile Parlamentsmehrheit stützen. Es wird erwartet, dass sie den Reformkurs fortführt. Am 28.08.2007 wurde der bisherige Außenminister Abdullah Gül im dritten Wahlgang mit 339 (von 267 erforderlichen) Stimmen zum elften Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen, die anschließende Wahl des Präsidenten und die zügige Regierungsbildung haben zu einer Beruhigung und Konsolidierung der innenpolitischen Lage geführt. Sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdogan kündigten eine Fortsetzung der Reformpolitik an.

 

Nach Jahren relativer Stabilität erlebte die Türkei im Zusammenhang mit den gescheiterten Präsidentschaftswahlen im Mai 2007 eine Phase innenpolitischer Polarisierung. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 22.07.2007 trat eine Beruhigung der Lage ein. Die anschließende erfolgreiche Wahl eines Präsidenten und die Regierungsbildung trugen zu einer weiteren Konsolidierung bei. Im Osten und Südosten der Türkei kommt es weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der terroristischen PKK und türkischen Sicherheitskräften; der Ruf nach einschneidenderen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung wurde mit Wiedererstarken des PKKTerrorismus lauter.

 

Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis

 

Die in der Vergangenheit von Schwerfälligkeit, Ineffizienz, Unberechenbarkeit und Strenge geprägte türkische Strafjustiz hat sich verbessert. Im Strafrecht- und Strafprozessrecht kam es in den vergangenen Jahren zu umfassenden gesetzgeberischen Änderungen und Novellierungen. In der Rechtspraxis wurden ebenfalls wesentliche Verbesserungen festgestellt, ohne dass dabei aber das Tempo der anderen gesetzgeberischen Reformen erreicht werden konnte. Bei allen Mängeln, die der türkischen Justiz noch anhaften (z.B. lange Verfahrensdauer), sind Bestrebungen unverkennbar, rechtstaatliches Handeln durchzusetzen. Einzelne Vorkommnisse und Entscheidungen von Justizorganen lassen bisweilen an dieser Einschätzung zweifeln. Es zeigt sich jedoch, dass sich im Gegensatz zu früher staatsanwaltliches Unrecht nicht halten lässt, sondern revidiert wird. Dies erfordert bisweilen jedoch beträchtliche Gegenwehr der Betroffenen.

 

Die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Menschengerichtshofs durch die Türkei hat sich deutlich verbessert. Der Europäische Menschengerichtshof spielt in der Türkei eine wichtige Rolle, da er wegen Fehlens einer Individual-Verfassungsbeschwerde in vielen Fällen angerufen wird. Auch deshalb ist die Zahl der die Türkei betreffenden Verfahren sehr hoch; auch 2006/2007 wurde die Türkei wieder in einer Reihe von Verfahren wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Leben und wegen Verstoßes gegen das Folterverbot verurteilt. Die Verurteilungen der Türkei betreffen in der Regel Fälle, deren Sachverhalte mehrere Jahre zurückliegen, so dass aus den Verurteilungen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts nur bedingt Schlüsse auf die aktuelle Praxis der Verwaltung und Justiz gezogen werden können.

 

Markante Fortschritte in der Menschenrechtslage konnten durch die Gesetzes- und Verfassungsänderungen der letzten Jahre sowie weitere Reformmaßnahmen (z.B. Justizreformen) erzielt werden; dadurch wurde ein Mentalitätswandel bei großen Teilen der Bevölkerung eingeleitet. Es wird von den Menschenrechtsorganisationen mitgeteilt, dass Fälle schwerer Folter (z.B. mit sichtbaren körperlichen Verletzungen) nur noch vereinzelt vorkommen. Ihre Zahl lag in den letzten Jahren nach Angaben der Menschenrechtsorganisationen im unteren einstelligen Bereich, wird aber neuerdings nicht mehr gesondert erfasst. Hinweise auf einen Anstieg gibt es auch nach inoffiziellen Angaben nicht. Die überwiegende Zahl der angezeigten Fälle betreffen z.B. Beleidigungen, Drohungen und Einschüchterungen, zu langes Festhalten, Vorenthalten eines Toilettenbesuchs bis hin zu Drohungen mit Tötung.

 

Grundversorgung

 

Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind weiterhin durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt. Der Abwanderungsdruck aus dem Südosten in den Süden und Westen der Türkei und in das Ausland hält an. Angesichts einer Beruhigung der Lage in Teilen des türkischen Südostens in den vergangenen Jahren und wegen der schwierigen Lebensbedingungen und hohen Arbeitslosigkeit in den Armutsgebieten der großen Städte nahm zuletzt jedoch auch die Zahl der Rückkehrer in die Provinzstädte und Dörfer im Osten und Südosten der Türkei wieder zu. Das Wirtschaftswachstum betrug für das Jahr 2006 6% (im Jahr 2005 lag es bei 7,6%). Kumuliert hat der permanente Aufschwung der türkischen Wirtschaft seit der Wirtschaftskrise vor sechs Jahren ein Wachstum von 50% eingebracht. Die Inflation ist im Jahr 2006 auf 9,65% gestiegen, nachdem sie 2005 mit ca. 7,7% (Verbraucherpreise) den niedrigsten Wert seit über 30 Jahren erreicht hatte.

 

Medizinische Versorgung

 

In der Türkei gibt es neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiert, mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standard entsprechen. Das türkische Gesundheitssystem verbessert sich laufend. Die Behandlung psychischer Erkrankungen, einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) ist in allen Krankenhäusern der Türkei möglich, die über eine Abteilung für Psychiatrie verfügen. Für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) werden in der Türkei die international anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angewandt. Zu Behandlungskonzepten zählen u.a. Psychotherapie mit Entspannungstraining, Atemtraining, Förderung des positiven Denkens und Selbstgespräche, kognitive Therapie, Spieltherapie sowie Medikationen wie Antidepressiva und Benzodiazepine. Eine Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) ist grundsätzlich auch über die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) möglich.

 

Behandlung von Rückkehrern

 

Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. Besteht der Verdacht einer Straftat, werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, gemustert und ggf. einberufen zu werden (u.U. nach Durchführung eines Strafverfahrens). Es sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Suchvermerke zu früheren Straftaten oder über Wehrdienstentziehung von den zuständigen türkischen Behörden versehentlich nicht gelöscht worden waren, was bei den Betroffenen zur kurzzeitigen Ingewahrsamnahme bei Einreise führte.

 

Das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahren Fälle, in denen konkret Behauptungen von Misshandlung oder Folter in die Türkei abgeschobener Personen (vor allem abgelehnter Asylbewerber) vorgetragen wurden, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durch seine Auslandsvertretungen überprüft. Dem Auswärtigen Amt ist seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. Misshandlung oder Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt aus.

 

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Akt unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor der Erstbehörde, den bekämpften Bescheid, den Beschwerdeschriftsatz sowie durch öffentlich mündliche Verhandlung der Beschwerdesache und durch Berücksichtigung nachstehender Länderdokumentationsunterlagen:

 

- Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 25.10.2007.

Schlagworte
Glaubwürdigkeit, Lebensgrundlage, mangelnde Asylrelevanz, non refoulement, private Verfolgung, wirtschaftliche Gründe
Zuletzt aktualisiert am
06.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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