TE Vwgh Erkenntnis 2001/12/11 2000/01/0254

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Veröffentlicht am 11.12.2001
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Index

25/01 Strafprozess;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §45 Abs2;
AVG §60;
StPO 1975 §175 Abs1 Z1;
StPO 1975 §175 Abs1 Z2;
StPO 1975 §175 Abs1 Z3;
StPO 1975 §175 Abs1 Z4;
StPO 1975 §175 Abs1;
StPO 1975 §177 Abs1 Z2;
StPO 1975 §177 Abs1;
StPO 1975 §177;
StPO 1975 §180 Abs3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Mairinger und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schimetits, über die Beschwerde des RW. H, zuletzt in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 15. Mai 2000, Zl. Senat-B-00-039, betreffend Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- (EUR 908,41) binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer brachte am 12. Jänner 1999 beim Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (der belangten Behörde) eine Beschwerde nach § 67a Abs. 1 Z 2 AVG ein. Darin brachte er vor, dass er sich am 7. Dezember 1998 um

23.30 Uhr von der Slowakei kommend bei der Grenzübertrittstelle Berg mit seinem PKW in Begleitung zweier slowakischer Staatsbürger der Einreisekontrolle gestellt habe. Weil er nach Ansicht der Kontrollorgane bereits öfter mit Jugendlichen ein- und ausgereist wäre, seien seine Mitreisenden einer Befragung unterzogen worden. Dabei habe sich ergeben, dass es zwischen ihm und dem am 1. Juli 1981 geborenen M. K. in Bratislava und in der Folge im November 1998 auch in Wien zu gleichgeschlechtlichen Handlungen gekommen wäre. In der Folge sei er (der Beschwerdeführer) am 8. Dezember 1998 um 01.00 Uhr ohne Einholung eines richterlichen Befehls festgenommen worden, erst um 05.30 Uhr desselben Tages sei ein (richterlicher) Haftbefehl erlassen worden. Die Festnahme sei auf § 177 StPO gestützt worden, doch habe weder eine Betretung auf frischer Tat noch Gefahr in Verzug vorgelegen. Insbesondere wäre es - so der Beschwerdeführer in einer ergänzenden Stellungnahme vom 8. März 1999 - möglich gewesen, nach der ersten Einvernahme des M. K. und spätestens zeitgleich mit der Anforderung der zur Präzisierung von dessen Angaben notwendigen Dolmetscherin mit dem zuständigen Untersuchungsrichter zwecks Einholung eines Haftbefehls Kontakt aufzunehmen und nicht bis zum beabsichtigten Verlassen der Dienststelle durch den Beschwerdeführer bei Eintreffen der Dolmetscherin um 01.00 Uhr zuzuwarten. Es werde daher die Feststellung beantragt, dass die Festnahme des Beschwerdeführers am 8. Dezember 1998 um 01.00 Uhr und die anschließende Anhaltung bis 05.30 Uhr rechtswidrig gewesen seien.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 15. Mai 2000 wies die belangte Behörde die Beschwerde gemäß § 67c Abs. 3 AVG als unbegründet ab. In der Begründung dieses Bescheides werden zunächst das Beschwerdevorbringen und der Inhalt einer Stellungnahme des Bezirksgendarmeriekommandos Bruck/Leitha wiedergegeben. Daran schließt nach dem Hinweis auf eine am 3. März 1999 abgehaltene mündliche Verhandlung eine auszugsweise Darstellung der Angaben der einvernommenen Gendarmeriebeamten F. F. und G. Sch.. In weiterer Folge enthält der Bescheid eine Replik des Vertreters des Beschwerdeführers bzw. die schon erwähnte Stellungnahme vom 8. März 1999, ehe es nach - unrichtiger - Darstellung des § 177 Abs. 1 StPO wie folgt heißt:

"Die Gendarmeriebeamten haben im gegenständlichen Beschwerdefall die vorläufige Verwahrung auf § 177 Abs. 1 Z 2 StPO gegründet: Fluchtgefahr habe vorgelegen, weil der Beschwerdeführer aufgrund des Standes der Ermittlungen bzw. der bevorstehenden niederschriftlichen Aussage des Mitfahrers befürchten habe müssen, 'in Kalamitäten' zu kommen. Das Verlassen des Amtsgebäudes und das unentdeckte Entkommen wäre wegen des Parteienaufkommens an der Grenzdienststelle leicht möglich gewesen, sogar die Autoschlüssel habe er noch gehabt."

Diese Umstände - so fährt die Bescheidbegründung fort - erschienen für die Annahme von Fluchtgefahr ausreichend, die Einholung eines mündlichen Haftbefehls erscheine untunlich. Die Gendarmerie habe die Ermittlungen zügig weitergeführt und weitere konkrete Verdachtsmomente festgestellt. Dass die vorläufige Verwahrung gemäß § 177 Abs. 1 StPO zum Zweck der Vorführung eines Verdächtigen vor den Untersuchungsrichter zu erfolgen habe, bedeute noch nicht, dass die Gendarmerie verpflichtet sei, vor Abschluss der ersten Vorerhebungen sofort Kontakt mit dem Untersuchungsrichter aufzunehmen, weil doch einerseits ein möglichst gesichertes Erhebungsergebnis und verlässliche Angaben zum kriminellen Vorleben des Täters vorzulegen seien und weil andererseits das Gesetz hiefür ausdrücklich eine 48-stündige Frist vorsehe, die im vorliegenden Fall bei weitem nicht ausgeschöpft worden sei. Bei der nachprüfenden umfassenden Kontrolle der in Beschwerde gezogenen Amtshandlung gelange die belangte Behörde daher zu dem Ergebnis, dass "die Begründung der Festnahme mit Gefahr im Verzug und dass das Zuwarten mit der Einholung eines mündlichen Haftbefehls wegen der noch weiterzuführenden Erhebungen rechtmäßig erfolgte".

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Die belangte Behörde hatte sich zunächst mit der Rechtmäßigkeit der unstrittig ohne richterlichen Befehl am 8. Dezember 1998 um 01.00 Uhr erfolgten Festnahme des Beschwerdeführers zu beschäftigen. Das Ergebnis dieser Beurteilung ist insofern für die Frage der Rechtmäßigkeit der folgenden Anhaltung von Relevanz, als eine rechtswidrige Festnahme diese Anhaltung bis zum Zeitpunkt erstmaligen richterlichen Einschreitens ohne weiteres mit Rechtswidrigkeit belasten würde (vgl. VfSlg. 6102/1969 und Mayerhofer, Das österreichische Strafrecht II.4, E 6a. zu § 177 StPO).

Die Rechtmäßigkeit einer Verhaftung, die wie hier im Dienst der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Befehls erfolgte, ist an § 177 Abs. 1 StPO zu messen. Diese, von der belangten Behörde durch Vermengung mit dem Text des § 175 Abs. 1 leg. cit. verfälscht wiedergegebene Vorschrift lautet richtig wie folgt:

"§ 177. (1) Ausnahmsweise kann die vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden:

1.

in den Fällen des § 175 Abs. 1 Z 1 sowie

2.

in den Fällen des § 175 Abs. 1 Z 2 bis 4 und Abs. 2, wenn die Einholung des richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich ist."

Die in der eben zitierten Norm erwähnten Fälle des § 175 Abs. 1 StPO sind gegeben,

"wenn der Verdächtige auf frischer Tat betreten oder unmittelbar nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt oder mit Waffen oder anderen Gegenständen betreten wird, die vom Verbrechen oder Vergehen herrühren oder sonst auf seine Beteiligung daran hinweisen (Z 1);

wenn er flüchtig ist oder sich verborgen hält oder wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, er werde wegen der Größe der ihm mutmaßlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten (Z 2);

wenn er Zeugen, Sachverständige oder Mitbeschuldigte zu beeinflussen, die Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren versucht hat oder wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, er werde dies versuchen (Z 3); oder

wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, er werde eine strafbare Handlung begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete, oder er werde die ihm angelastete versuchte oder angedrohte Tat (§ 74 Z 5 StGB) ausführen (Z 4)."

Aus § 177 Abs. 1 iVm § 175 Abs. 1 StPO folgt, dass eine eigenmächtige Verhaftung durch Organe der Sicherheitsbehörden einen konkreten Tatverdacht gegen den Betreffenden, weiter das Bestehen eines Haftgrundes und schließlich eine besondere Dringlichkeit dieser Maßnahme voraussetzt. Die Dringlichkeit ergibt sich im Fall des § 175 Abs. 1 Z 1 StPO schon aus der Natur dieses Haftgrundes, in den anderen Fällen des § 175 Abs. 1 leg. cit. ist sie dann gegeben, wenn zu befürchten ist, dass der Verdächtige in der Zeit, die nach Vorliegen des Verdachtes und des Haftgrundes zur Einholung des richterlichen Haftbefehls erforderlich ist, jene Gefahr verwirklicht, wegen der seine Verhaftung notwendig erscheint (Dearing, Die polizeiliche Verwahrung nach § 177 StPO, AnwBl 1981, 441).

Dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall der Begehung eines Verbrechens (konkret der je mit Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bedrohten Delikte des § 201 Abs. 2 und § 209 StGB) verdächtig war, stand im Verfahren vor der belangten Behörde außer Zweifel. Auch in der Beschwerde wird zugestanden, dass "die Organe nach Lage des Falles mit gutem Grund und vertretbar der - subjektiven - Auffassung sein" konnten, "dass sich der Beschwerdeführer sowohl nach § 209 StGB als auch nach § 201 Abs. 1 StGB (gemeint: § 201 Abs. 2 StGB; von § 201 Abs. 1 leg. cit war nie die Rede) strafbar gemacht habe".

Was das Vorliegen eines Haftgrundes anlangt, so wurde seitens des Bezirksgendarmeriekommandos Bruck/Leitha (Äußerung vom 24. Februar 1999) § 175 Abs. 1 Z 2, 3 und 4 StPO ins Treffen geführt. Die belangte Behörde indes beschränkte sich auf Z 2 der genannten Bestimmung, wozu sie nach auszugsweiser Wiedergabe der in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Aussagen der einschreitenden Gendarmeriebeamten jedoch nur ausführte, dass "diese Umstände" für die Annahme von Fluchtgefahr ausreichend erschienen (und dass die Einholung eines mündlichen Haftbefehls untunlich gewesen sei). Diese Begründung vermag die Annahme, es sei § 175 Abs. 1 Z 2 StPO verwirklicht gewesen, nicht zu tragen. Zunächst ist ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass eine der Vorschrift des § 60 AVG gerecht werdende Bescheidbegründung erfordert, dass in eindeutiger, einer nachprüfenden Kontrolle zugänglichen Weise dargetan wird, von welchen konkreten Tatsachenfeststellungen die Behörde bei der getroffenen Entscheidung ausgegangen ist. Die wörtliche Wiedergabe von Zeugenaussagen, die nicht erkennen lässt, welchen Sachverhalt die belangte Behörde tatsächlich als erwiesen annimmt, kann die im jeweiligen Fall erforderliche Tatsachenfeststellung nicht ersetzen (siehe die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, (1998), unter E 75. und 78. zu § 60 AVG wiedergegebene hg. Judikatur).

Im konkreten Fall ist die Bescheidbegründung so deutbar, dass von den im Bescheid wiedergegebenen Angaben der beiden einvernommenen Gendarmeriebeamten ausgegangen werde. "Destilliert" man demgemäß aus diesen wiedergegebenen Aussagen einen Sachverhalt, so ergäben sich zum Komplex "Fluchtgefahr" folgende behördliche "Feststellungen":

Dem Beschwerdeführer wurde zu Beginn der Befragung des M. K. mitgeteilt, dass Fragen an seine Mitreisenden beabsichtigt seien und dass es ihm freistehe, im Fahrzeug oder im Amtsgebäude zu warten. Der Beschwerdeführer suchte hierauf den Journaldienstraum auf, den er jederzeit in Richtung Vorhalle und weiterhin ins Freie hätte verlassen können. Bei der ersten Befragung des M. K. gab dieser als Zweck der Fahrt die Durchführung geschlechtlicher Handlungen mit dem Beschwerdeführer an; diese hätten in der Slowakei, später auch in Österreich stattgefunden. Für eine weitere, genauere Befragung erschien die Beiziehung einer Dolmetscherin zweckmäßig. Diese wurde um 00.15 Uhr angefordert und traf um 01.00 Uhr ein. Mit dem Eintreffen der Dolmetscherin wurde dem Beschwerdeführer (offenbar?) bewusst, dass auf Grund der vorläufigen Angaben des M. K. gegen ihn Erhebungen geführt würden; "möglicherweise" hatte er die allgemeine Information, die der Dolmetscherin gegeben worden war, mitgehört. Jedenfalls machte er Anstalten, die Dienststelle zu verlassen/wollte er die Dienststelle plötzlich verlassen. Es bestand "Fluchtmöglichkeit und Fluchtgefahr". Er hätte nicht nur ungehindert das Amtsgebäude verlassen können, sondern hatte auch noch die Autoschlüssel eingesteckt gehabt. Es war anzunehmen, dass er fürchtete, durch die Ermittlungsergebnisse in größere Kalamitäten zu geraten, und dass er z.B. beabsichtigte, die Wohnung aufzusuchen, um Beweismaterial beiseite zu schaffen oder Leute zu verständigen.

Diese "Feststellungen" bieten zunächst keinen Anhaltspunkt dafür, es habe bei der ersten Befragung des M. K., während der der Beschwerdeführer unaufgefordert bei der Grenzkontrollstelle verweilte, Fluchtgefahr bestanden. Sie rechtfertigen aber auch nicht die Annahme, er habe bei Eintreffen der Dolmetscherin bzw. als er seine Absicht erkennen ließ, die Grenzkontrollstelle zu verlassen, flüchten wollen. Fluchtgefahr ist nämlich nicht schon dann ohne weiteres anzunehmen, wenn der Betreffende den (nach den Worten des Beschwerdeführervertreters) "Ort des Geschehens" - hier das Dienstzimmer der Grenzkontrollstelle Berg - verlassen möchte. Unter Fluchtgefahr ist vielmehr die Gefahr zu verstehen, der Verdächtige werde sich der Strafverfolgung - als solcher - entziehen (Bertel/Venier, Strafprozessrecht6, (2000), Rz 445; vgl. etwa auch 14 Os 148/98), was voraussetzt, dass aus seinem Verhalten konkret (arg.: "bestimmte Tatsache") ableitbar ist, er werde dem Strafverfahren insgesamt bzw. der ihm allenfalls drohenden Strafe zu entkommen versuchen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass auch das hier gegenständliche beabsichtigte Verlassen einer Sicherheitsdienststelle eine derartige Annahme zu begründen vermag. Das wäre etwa dann gerechtfertigt, wenn auf Grund der Umstände mit einem "Absetzen" ins Ausland oder einem sonstigen "Untertauchen" zu rechnen wäre. Fluchtgefahr kann jedoch nicht schon - wie vorliegend von der belangten Behörde - allein deshalb bejaht werden, weil dem Beschwerdeführer "Kalamitäten" drohten und weil ihm ein unentdecktes "Entkommen" (bloß) aus dem Bereich der Grenzdienststelle leicht möglich gewesen wäre. Auch der Umstand, dass er im Hinblick auf die Information der Dolmetscherin von den gegen ihn eingeleiteten Erhebungen Kenntnis erlangte, ist für diese Annahme nicht hinreichend. Einerseits ist auf die - von der belangten Behörde freilich nicht wiedergegebene -

Aussage des Zeugen F. F. zu verweisen, wonach der Beschwerdeführer möglicherweise auch wegen der inzwischen verstrichenen Zeit oder wegen der voraussichtlichen Dauer der weiteren Amtshandlung Anstalten gemacht habe, die Dienststelle zu verlassen. Andererseits kommt es ganz wesentlich darauf an, in welchen Lebensverhältnissen sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Verhaftung - den einschreitenden Gendarmeriebeamten erkennbar - befand. Eine intensive "soziale Verankerung" hätte ganz massiv gegen die Befürchtung gesprochen, er würde flüchten oder sich verborgen halten wollen. In diesem Zusammenhang ist § 180 Abs. 3 StPO von Bedeutung, wonach Fluchtgefahr jedenfalls dann nicht anzunehmen ist, wenn der Beschuldigte einer strafbaren Handlung verdächtig ist, die nicht strenger als mit fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, er sich in geordneten Lebensverhältnissen befindet und einen festen Wohnsitz im Inland hat, es sei denn, dass er bereits Anstalten zur Flucht getroffen hat. Zwar betrifft diese Vorschrift unmittelbar nur die Untersuchungshaft, es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass ihr - wenn eine Ermittlung der dort genannten Umstände im Zeitpunkt des Einschreitens konkret in Betracht kommt -

auch für die Beurteilung des Haftgrundes nach § 175 Abs. 1 Z 2 StPO Relevanz beizumessen ist. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass etwa die von der belangten Behörde wiedergegebene Annahme des Zeugen G. Sch., der Beschwerdeführer könnte beabsichtigt haben, die Wohnung aufzusuchen, um Beweismaterial beiseite zu schaffen oder Leute zu verständigen, nichts mit Fluchtgefahr zu tun hat. Gegebenenfalls läge vielmehr Verdunkelungsgefahr vor, in welche Richtung die belangte Behörde, die sich auf eine Beurteilung nach § 175 Abs. 1 Z 2 StPO beschränkte, allerdings keinerlei Überlegungen angestellt hat. Nochmals sei darauf hingewiesen, dass nicht schon das Entfernen von der Sicherheitsdienststelle an sich - ohne Bedachtnahme auf die vorgenannten Umstände - als "Flucht" verstanden werden kann.

Ergibt sich nach dem bisher Gesagten, dass die behördlichen "Feststellungen" die Annahme von Fluchtgefahr nicht zu begründen vermögen, so erübrigten sich weitere Erwägungen zur Frage, ob - Fluchtgefahr unterstellt - Gefahr im Verzug vorgelegen habe. Dennoch seien zwei Anmerkungen angefügt.

Zum Einen ist der Auffassung des Beschwerdeführers, es hätte spätestens bei Anforderung der Dolmetscherin (gegen 00.30 Uhr) zwecks Einholung eines richterlichen Haftbefehls mit dem Journalrichter Kontakt aufgenommen werden müssen, zu entgegnen, dass zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Anhaltspunkt für das Vorliegen eines Haftgrundes (siehe oben) gegeben war. Nur bei längerem Fortbestand eines Haftgrundes (und des Tatverdachtes) - zu einem solchen Fall vgl. etwa VfSlg. 2798/1955 - könnte jedoch das vom Beschwerdeführer monierte Zuwarten dem Tatbestandselement "Gefahr im Verzug" entgegen stehen.

Zum Anderen ist darauf hinzuweisen, dass der Verfassungsgerichtshof in Beachtung des Ausnahmecharakters des § 177 Abs. 1 StPO ausgesprochen hat, dass Verhaftungen - sofern nicht der Fall des Betretens auf frischer Tat gegeben ist - im Dienstraum eines Gendarmeriepostens regelmäßig erst nach (versuchter) telefonischer Einholung eines richterlichen Befehles durchzuführen sein werden (so etwa schon VfSlg. 3315/1958). Mit anderen Worten: Ist nicht der Fall gegeben, dass sich das Exekutivorgan auf Patrouille überraschend mit einem Tatverdächtigen und einem dringenden Haftgrund konfrontiert sieht, sondern ergeben sich Tatverdacht und Haftgrund dem Organ auf Grund einer Anzeige oder im Verlaufe einer Vernehmung im Amte, so wird der Griff nach dem Telefonhörer in aller Regel tunlich sein (Dearing, aaO., 515). Im Hinblick darauf kann aber - Fluchtgefahr unterstellt - daraus, dass der Beschwerdeführer Anstalten machte, die Dienststelle zu verlassen, nicht ohne weiteres - ohne dass er etwa um kurzfristigen weiteren Aufenthalt ersucht worden wäre - auf "Gefahr im Verzug" geschlossen werden. Dies hat die belangte Behörde gleich den Voraussetzungen für die Annahme von Fluchtgefahr verkannt, weshalb der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 11. Dezember 2001

Schlagworte

Beweiswürdigung Sachverhalt angenommener geklärterBeweismittel Zeugenbeweis

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2001:2000010254.X00

Im RIS seit

12.03.2002

Zuletzt aktualisiert am

07.02.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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