TE Vwgh Erkenntnis 2002/10/17 2000/20/0344

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Veröffentlicht am 17.10.2002
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Index

25/01 Strafprozess;
25/02 Strafvollzug;

Norm

StPO 1975 §183 Abs1;
StPO 1975 §184;
StVG §107 Abs1 Z10;
StVG §26 Abs1;
StVG §26;
StVG §43;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schlegel, über die Beschwerde des PM in S, vertreten durch Mag. Thomas Christl, Rechtsanwalt in 4400 Steyr, Promenade 4, gegen den Bescheid des Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 3. August 2000, Zl. Jv 3421-16a/00, betreffend Ordnungswidrigkeit gemäß § 107 Abs. 1 Z 10 StVG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Über den Beschwerdeführer, der sich bis zum 26. Mai 2000 in der Justizanstalt Wien-Josefstadt in Untersuchungshaft und danach in Strafhaft befand, wurde mit Straferkenntnis des Anstaltsleiters vom 7. Juni 2000 die Ordnungsstrafe des einfachen Hausarrestes in der Dauer von fünf Tagen verhängt, weil er am 21. Mai 2000 als Untersuchungshäftling der Anordnung eines Abteilungsbeamten, an der Bewegung im Freien teilzunehmen, nicht Folge geleistet, dadurch den "allgemeinen Pflichten der Strafgefangenen gemäß § 26 StVG" vorsätzlich zuwidergehandelt und "in Ansehung des § 183 Abs. 1 StPO" eine Ordnungswidrigkeit nach § 107 Abs. 1 Z 10 StVG begangen habe. Gemäß § 116 Abs. 6 (richtig: Abs. 7) StVG wurde die Ordnungsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Monaten bedingt nachgesehen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 3. August 2000 gab die belangte Behörde der Administrativbeschwerde des Beschwerdeführers gegen das erstinstanzliche Straferkenntnis nicht Folge.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Die erstinstanzliche Verhängung einer Ordnungsstrafe über den Beschwerdeführer beruhte auf einer "Meldung von Ordnungswidrigkeiten" vom 21. Mai 2000 und einer Einvernahme des Beschwerdeführers vom 23. Mai 2000.

Nach dem Inhalt der Meldung vom 21. Mai 2000 hatte der Beschwerdeführer die Teilnahme am "Spaziergang" mit der Begründung verweigert, er sei vom Arzt "bis zur Vorführung beim Psychiater" von der Bewegung im Freien befreit worden und warte seit dem 8. Mai 2000 auf den Psychiater. Der Beschwerdeführer halte es für "unmenschlich", mit 30 anderen Personen "in diesem kleinen Hof im Kreis zu gehen". Seitens des Meldungslegers sei erhoben worden, dass der Beschwerdeführer am 19. April und 26. April 2000 von einem der in der Anstalt tätigen Ärzte jeweils für eine Woche vom Spaziergang befreit worden sei. Am 8. Mai 2000 sei er von einem anderen in der Anstalt tätigen Arzt (Dr. K.) abermals "für eine Woche" vom Spaziergang befreit worden. Nach Rücksprache mit Dr. K. am 18. Mai 2000 (wer diese Rücksprache gepflogen habe, geht aus der Meldung nicht hervor) habe "kein medizinischer Grund" bestanden, dass der Beschwerdeführer am "Spaziergang" nicht teilnehmen könne, doch werde Dr. K. "mit dem Insassen diesbezüglich nochmals sprechen". Da ein solches Gespräch "nicht zustande" gekommen sei, habe Bezirksinspektor M. am 19. Mai 2000 die "ho. Spitalskanzlei" verständigt und um "dringende Vorführung" des Beschwerdeführers zum Psychiater ersucht. Diese sei - aus in der Meldung nicht dargestellten Gründen - unterblieben ("Vorführung fand keine statt"). Um die "Ordnung auf der Abteilung zu gewährleisten" und eine "negative Beispielswirkung auf andere Insassen hintanzuhalten", sei der Beschwerdeführer "nochmals abgemahnt und ... auf die eventuellen Konsequenzen (Ordnungsstrafverfahren) aufmerksam gemacht" worden. Er habe geantwortet, "Sie machen Ihres Herr G. und ich mache meines".

Der Beschwerdeführer hatte nach dem Inhalt der mit ihm aufgenommenen Niederschrift unter anderem angegeben, er sei am 8. Mai 2000 dem "Chefarzt" Dr. K. vorgestellt worden, der ihn "wieder für eine Woche" von der Bewegung im Freien befreit habe und ihm - wie schon der andere Arzt zuvor - eine Zuweisung zur Untersuchung durch einen Psychiater zugesagt habe. Diese Untersuchung habe (bis zur Einvernahme am 23. Mai 2000) nicht stattgefunden. Eine Urgenz des Beschwerdeführers im Wege der Sozialarbeiterin habe (bereits) am 10. Mai 2000 ergeben, dass der Beschwerdeführer vorgemerkt, "zur Zeit" aber kein Psychiater "verfügbar" sei. Der Beschwerdeführer werde an der Bewegung im Freien auch weiterhin nicht teilnehmen, weil er sich in seiner Gesundheit gefährdet sehe, wenn er mit ca. 35 weiteren Mitgefangenen in einem so kleinen, laut Insassen etwa 35 m2 großen Hof spazieren gehen solle.

In seiner Beschwerde gegen das erstinstanzliche Straferkenntnis machte der Beschwerdeführer geltend, die Anordnung seiner Teilnahme am "Spaziergang" sei ihm "unter dem Wissen" erteilt worden, dass er auf fachärztliche Betreuung warte. Der Beschwerdeführer sei von den Anstaltsärzten am 19. April, 26. April und 8. Mai 2000 vom Spaziergang befreit worden, und zwar vom Chefarzt Dr. K. am 8. Mai 2000 "bis auf Weiteres", nämlich "bis zu einer Fachbehandlung durch einen Psychiater". Zur fachärztlichen Behandlung durch Dr. B. sei es aber erst am 24. Mai 2000 gekommen. Die Anordnung eines Spazierganges auf einer Fläche von 35 m2 mit 35 Insassen verstoße "außerdem" gegen Menschenrechte und Menschenwürde. Dafür, dass "dieser sogenannte Spaziergang mit insgesamt 35 Männern in einem Zwinger im Ausmaß von 35 m2" stattgefunden habe, führte der Beschwerdeführer vier Zeugen an.

Die belangte Behörde ersuchte den leitenden Anstaltsarzt Dr. K. um Stellungnahme dazu, dass seiner (zu ergänzen: in der Meldung vom 21. Mai 2000 behaupteten) "Äußerung vom 18.5.2000" zufolge "kein medizinischer Grund mehr" für eine Nichtteilnahme des Beschwerdeführers an der Bewegung im Freien bestanden habe. Insbesondere möge mitgeteilt werden, wann das am 18. Mai 2000 (zu ergänzen: der erwähnten Meldung zufolge) von Dr. K. angekündigte nochmalige Gespräch mit dem Beschwerdeführer stattgefunden und was sich daraus ergeben habe.

Dr. K. erstattete dazu am 18. Juli 2000 folgendes "Gutachten":

"Am 8.5.2000 wurde mir Herr P.M. in die Ambulanz vorgeführt. Es wurde durch den begleitenden Beamten berichtet, dass P.M. den im Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Spaziergang mehrmals verweigert hat.

Im Rahmen des Gespräches ergab sich der Eindruck, dass die Verweigerung des Spazierganges eher psychische Wurzeln hatte. Der körperliche Zustand des P.M. ergab keine ausreichende medizinische Begründung für eine Befreiung vom Spaziergang.

Herr P.M. wurde deshalb zum Psychiater vorgemerkt. Bis zum fachärztlichen Gespräch wurde ihm eine Befreiung vom Spaziergang für 1 Woche gestattet. Da eine fachärztliche Begutachtung bis nach Ablauf dieser Woche nicht stattgefunden hat, sollte ein neuerliches chefärztliches Gespräch mit P.M. eine Klärung bringen. Die Vorführung des Insassen in die Ambulanz erfolgte jedoch - offensichtlich aus organisatorischen Gründen - bis 26.5.2000 nicht und ein am 27.5.2000 angetretener Urlaub ließ die Causa M. in Vergessenheit geraten.

Das geplante Gespräch hat somit niemals stattgefunden."

Bei dieser Sachlage erließ die belangte Behörde - soweit aus den Akten ersichtlich, ohne weitere Ermittlungen und ohne dem Beschwerdeführer zur eingeholten Stellungnahme des Arztes das Parteiengehör einzuräumen - den angefochtenen Bescheid.

2. Der angefochtene Bescheid stützt sich auf folgende Ausführungen der belangten Behörde zum Sachverhalt:

"Im abgeführten Beweisverfahren I. Instanz erklärte P.M., dass er auch weiterhin an der Bewegung im Freien nicht teilnehmen werde, da er seine Gesundheit gefährdet sehe, mit ca. 35 weiteren Mitgefangenen in einen solchen kleinen (laut Insassen ca. 35 m2 groß) Hof spazieren zu gehen.

Um die Ordnung auf der Abteilung zu gewährleisten und eine negative Beispielswirkung auf andere Insassen hintanzuhalten, wurde zum Tatzeitpunkt auch M. abgemahnt und auf die eventuellen Konsequenzen (Ordnungsstrafverfahren) aufmerksam gemacht. Dies ergibt sich aus den Angaben des Justizwachebeamten Inspektor G.

Als Antwort gab M. darauf: 'Sie machen Ihres Herr G. und ich mache meines'.

Erhebungen haben zwar ergeben, dass ein weiteres Gespräch mit Dr. K. nicht mehr stattfand, doch ergibt sich aus einem ärztlichen Gutachten des Dr. K. vom 18.7.2000, dass sich im Rahmen des Gespräches mit dem Untersuchungshäftling der Eindruck verhärtete, dass die Verweigerung des Spazierganges eher psychische Wurzeln hatte. Der körperliche Zustand des P.M. ergab keine ausreichende medizinische Begründung für eine Befreiung vom Spaziergang. M. war zwar zum Psychiater vorgemerkt und es wurde ihm auch bis zum fachärztlichen Gespräch Befreiung vom Spaziergang für eine Woche gestattet. Ein solches fachärztliches Gespräch fand zwar nicht statt, doch ergibt sich aus dem gesamten Akteninhalt und aus der Begründung des Untersuchungshäftlings selbst, dass er nicht gewillt ist, Vorschriften und Ordnung im Gefangenenhausbetrieb einzuhalten. Vielmehr liegt es aus der vorangezeigten Äußerung Inspektor G. gegenüber auf der Hand, dass der Untersuchungshäftling eigenmächtig sich die Entscheidungsbefugnis einräumen will, Bewegung im Freien zu machen oder nicht. Die Begründung, dass noch weitere Insassen Bewegung im Freien machen (ca. 35 der Meinung des Beschwerdeführers), reicht dabei nicht aus, um die Ordnung in der Justizanstalt aufrecht zu erhalten. Auch wurde vor der Anordnung der Bewegung im Freien Rücksprache mit Dr. K. gehalten und es lag kein medizinischer Grund vor, wodurch der Beschwerdeführer nicht an der Bewegung im Freien teilnehmen könnte. Das Gespräch mit dem Beschwerdeführer über diese Problematik diente lediglich nur dazu, ihn (gemeint: ihm) den Zweck der Bewegung im Freien nahe zu bringen."

Diese Ausführungen sind in mehrfacher Hinsicht nicht nachvollziehbar. Geht man davon aus, dass der Beschwerdeführer von den befassten Ärzten seit dem 19. April 2000 insgesamt drei Mal ohne Unterbrechung von der Bewegung im Freien befreit worden war und er zuletzt auf das klärende fachärztliche Gespräch mit dem Psychiater wartete, so ist nicht verständlich, weshalb es ohne erkennbare Änderung im Sachverhalt zur Gewährleistung der "Ordnung auf der Abteilung" erforderlich oder auch nur zweckmäßig gewesen sein sollte, den Beschwerdeführer zur zwischenweiligen Teilnahme an "Spaziergängen" zu zwingen. Im Besonderen ist nicht nachvollziehbar, welche "Beispielswirkung auf andere Insassen" zu befürchten war, wenn hinsichtlich dieser anderen Insassen keine vergleichbaren ärztlichen Anordnungen vorlagen. Die Bezugnahme der belangten Behörde auf die "Verhärtung" des Eindruckes, dass die Weigerung "eher psychische Wurzeln" gehabt habe und "der körperliche Zustand" des Beschwerdeführers keine ausreichende medizinische Begründung für eine Befreiung vom "Spaziergang" ergeben habe, scheint die - unzutreffende - Ansicht zum Ausdruck zu bringen, dass sich aus "psychischen Wurzeln" keine "ausreichende medizinische Begründung" für die Nichtteilnahme an "Spaziergängen" (zu ergänzen: unter den vom Beschwerdeführer unwiderlegt behaupteten beengten räumlichen Verhältnissen) ergeben könne. Aus der ärztlichen Befreiung "bis zum fachärztlichen Gespräch" und zugleich "für eine Woche", die in Wahrheit nur die Deutung zulässt, dass innerhalb dieser Woche die fachärztliche Begutachtung stattzufinden habe, scheint die belangte Behörde den - ebenfalls nicht zutreffenden - Schluss zu ziehen, dass die ärztliche Befreiung "bis zum fachärztlichen Gespräch" mit dem ungenützten Ablauf des Zeitraumes von einer Woche keiner weiteren Beachtung mehr bedurft habe. Wie angesichts der von den Ärzten als erforderlich erachteten Begutachtung von einer "eigenmächtigen" Anmaßung von "Entscheidungsbefugnis" seitens des Beschwerdeführers die Rede sein kann, ist gleichfalls schwer verständlich. Dass nach Ansicht des leitenden Anstaltsarztes "kein medizinischer Grund" für die Nichtteilnahme an der Bewegung im Freien bestanden habe, wie dies in der Meldung vom 21. Mai 2000 zum Ausdruck gebracht wird, kann im Zusammenhalt mit dem Inhalt der ärztlichen Stellungnahme vom 18. Juli 2000 nur auf den körperlichen Zustand des Beschwerdeführers bezogen werden. Die abschließende Überlegung der belangten Behörde, die nach dem Inhalt der ärztlichen Stellungnahme "offensichtlich aus organisatorischen Gründen" unterbliebene nochmalige Vorführung zum Anstaltsarzt habe "lediglich nur dazu" dienen sollen, dem Beschwerdeführer "den Zweck der Bewegung im Freien nahe zu bringen", findet keinerlei Grundlage in den Ermittlungsergebnissen und steht in direktem Widerspruch zur ärztlichen Stellungnahme vom 18. Juli 2000, wonach der Beschwerdeführer als Ergebnis des Gespräches am 8. Mai 2000 "zum Psychiater vorgemerkt" worden sei und mangels Vornahme der angeordneten "fachärztlichen Begutachtung" ein weiteres Gespräch mit dem Anstaltsarzt eine - im Hinblick auf den angenommenen Begutachtungsbedarf wohl ihrerseits nur vorläufige - "Klärung" bringen sollte. Völlig unerwähnt bleibt in den Erwägungen der belangten Behörde auch das der Meldung vom 21. Mai 2000 zufolge am 19. Mai 2000 - also am Tag nach der behaupteten Rücksprache mit Dr. K. - seitens eines Anstaltsbediensteten an die Spitalsabteilung gerichtete Ersuchen um "dringende Vorführung" des Beschwerdeführers zum Psychiater.

Die Versuche der belangten Behörde, die ohne Rücksicht auf das von den Ärzten festgestellte Erfordernis einer weiteren medizinischen Abklärung an den Beschwerdeführer ergangene Anordnung seiner Teilnahme am "Spaziergang" am 21. Mai 2000 als sachlich begründet erscheinen zu lassen, sind daher nicht schlüssig. Nichts anderes gilt auch für die Bezugnahme auf die vom Beschwerdeführer für sein Verhalten angeblich vorgetragene Begründung, dass nämlich "noch weitere Insassen Bewegung im Freien machen (ca. 35 der Meinung des Beschwerdeführers)". Nicht die Gesamtzahl sich "im Freien" bewegender Personen als solche, sondern die räumliche Beengtheit dieser Bewegung von mehr als 30 Personen in einem "Zwinger im Ausmaß von 35 m2" war nach dem unmissverständlichen Standpunkt der von der belangten Behörde zu behandelnden Administrativbeschwerde der Grund, weshalb der Beschwerdeführer den Zwang zur Teilnahme als Verstoß gegen seine Menschenwürde empfand.

3. Für Untersuchungshäftlinge gelten gemäß § 183 Abs. 1 StPO, soweit in der Strafprozessordnung nicht etwas Besonderes bestimmt ist, sinngemäß die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes über den Vollzug von Freiheitsstrafen, deren Strafzeit ein Jahr nicht übersteigt. Dem gemäß unterliegen Untersuchungshäftlinge insbesondere auch der allgemeinen Gehorsamspflicht gemäß § 26 Abs. 1 StVG. Sie dürfen daher grundsätzlich - wie Strafgefangene - die Befolgung von Anordnungen nur ablehnen, wenn die Anordnung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstößt oder die Befolgung dagegen verstoßen oder offensichtlich die Menschenwürde verletzen würde. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so gilt für Untersuchungshäftlinge wie für Strafgefangene, dass sie auch rechtswidrige Anordnungen vorerst befolgen müssen, um nicht im Sinne des § 107 Abs. 1 Z 10 StVG ihren allgemeinen Pflichten nach § 26 StVG zuwiderzuhandeln (vgl. für Untersuchungshäftlinge die hg. Erkenntnisse vom 5. November 1986, Zl. 86/01/0091, und vom 29. November 1994, Zl. 94/20/0291; für Strafgefangene zuletzt die Erkenntnisse vom 26. Juli 2001, Zl. 98/20/0208, sowie - mit Hinweis auf die Problematik des Wortes "offensichtlich" in § 26 Abs. 1 StVG - Zlen. 99/20/0261, 0262). Es steht auch außer Frage, dass Untersuchungshäftlingen - wie Strafgefangenen - gemäß § 43 StVG ein Recht auf Bewegung im Freien zusteht (vgl. in diesem Sinn etwa die hg. Erkenntnisse vom 29. Jänner 1986, Zl. 85/01/0180, und vom 10. September 1998, Zl. 97/20/0811, Slg. Nr. 14.968/A; zur besonderen Bedachtnahme darauf bei der Strafprozessnovelle 1972 vgl. 281 BlgNR XIII. GP 8 und 308 BlgNR XIII. GP 2). Die allenfalls erörterungswürdige Frage, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen dies auch bei Untersuchungshäftlingen zugleich bedeutet, dass sie zur Teilnahme an gemeinschaftlicher Bewegung im Freien verpflichtet sind und diese Teilnahme daher gegen ihren Willen angeordnet werden darf, ist - in dieser Allgemeinheit - für die Beurteilung der Voraussetzungen für die Verhängung einer Ordnungsstrafe bei Nichtbefolgung einer derartigen Anordnung nicht von Bedeutung. Dies gilt grundsätzlich auch für die Frage, ob die in § 43 vierter Satz StVG normierten Voraussetzungen für die Nichtteilnahme an der Bewegung im Freien aus gesundheitlichen Gründen bei der Erteilung der Anordnung richtig beurteilt wurden.

Dem zu § 107 Abs. 1 Z 10 in Verbindung mit § 26 StVG ergangenen Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 12. Juni 1975, VfSlg. 7561, ist aber zu entnehmen, dass die Bestrafung eines Untersuchungshäftlings wegen Nichtbefolgung einer Anordnung bei verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes auch zu unterbleiben hat, wenn die Befolgung der Anordnung (in dem vom Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall: eine "Standmeldung" zu erstatten und die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen) zwar nicht im Sinne einer Verletzung der Menschenwürde besonders belastend gewesen wäre, die Anordnung aber keine besondere rechtliche Grundlage hatte und keinerlei Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass sie zur Erreichung der Haftzwecke oder zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt erforderlich war. Inwieweit diese vom Verfassungsgerichtshof unter Hinweis auf § 184 StPO für Untersuchungshäftlinge vertretene Einschränkung der Zulässigkeit der Verhängung einer Ordnungsstrafe durch einen Schutz vor Willkür auch im unmittelbaren Anwendungsbereich des Strafvollzugsgesetzes - für Strafgefangene - sinngemäß Platz zu greifen hat (vgl. Schmoller, ÖJZ 1992, 218 bei und in Fußnote 25), bedarf für den vorliegenden Fall keiner Klärung, weil der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit Untersuchungshäftling war.

Demnach kommt es auf die Ausmaße des "Zwingers", in dem sich der Beschwerdeführer seinen Angaben zufolge mit einer größeren Zahl von Insassen "bewegen" sollte, sowie darauf, ob die Befolgung der Anordnung unter diesen Umständen - etwa auch in Verbindung mit einer tatsächlichen psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers - eine Verletzung der Menschenwürde bedeutet hätte, im vorliegenden Fall nicht an. Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vor Willkür war die Verhängung einer Ordnungsstrafe auch bei Bedachtnahme auf die grundsätzliche gesetzliche Anordnung der "Bewegung im Freien" in § 43 StVG nämlich rechtswidrig, wenn sich nicht schlüssig begründen lässt, warum es die "Ordnung auf der Abteilung" erforderte, den Beschwerdeführer ohne Abklärung der medizinischen Fragen zur Teilnahme am "Spaziergang" zu zwingen, statt ihn zuvor der seit dem Verstreichen der am 8. Mai 2000 gesetzten Wochenfrist überfälligen Untersuchung zuzuführen.

Da die aufgezeigten Begründungsmängel somit wesentlich sind, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001. Das auf den

gesonderten Ersatz von Umsatzsteuer abzielende Mehrbegehren findet in diesen Vorschriften keine Deckung.

Wien, am 17. Oktober 2002

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:2000200344.X00

Im RIS seit

20.01.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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