TE Vfgh Beschluss 2000/3/10 B610/99 ua

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.03.2000
beobachten
merken

Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art50, Art52 (nunmehr: Art41, Art44)
StPO §363a
VStG §55

Leitsatz

Zurückweisung einer Beschwerde gegen den einen Antrag auf Erneuerungeines rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungsstrafverfahrens alsunzulässig zurückweisenden Bescheid mangels Legitimation; keinenachteilige Veränderung der Rechtsposition des Beschwerdeführers;rechtskräftiges Straferkenntnis bereits getilgt; Zuspruch einerEntschädigung durch endgültiges Urteil des EGMR

Spruch

Die Beschwerden werden zurückgewiesen.

Die Anträge auf Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof werden abgewiesen.

Begründung

Begründung:

I. 1.1. Der Beschwerdeführer verursachte am 1. Jänner 1987 als Lenker eines KFZ einen Unfall, bei dem ein Radfahrer ums Leben kam.

1.2. Mit Urteil des Kreisgerichtes St. Pölten vom 15. Mai 1987 wurde der Beschwerdeführer der fahrlässigen Tötung für schuldig erkannt und über ihn eine Strafe von 200 Tagessätzen zu ATS 160,- (im Fall der Nichteinbringung eine Freiheitsstrafe von 100 Tagen) verhängt. Im Urteil wurde festgestellt, daß der Beschwerdeführer vor dem Unfall Alkohol konsumiert hatte, jedoch nicht in dem Ausmaß, das die Anwendung des §81 Z2 StGB gerechtfertigt hätte.

1.3. Mit Bescheid vom 16. Juli 1987, Zl. 3-G-8715, bestrafte die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten den Beschwerdeführer mit einer Geldbuße in der Höhe von ATS 12.000,- (Ersatzarreststrafe von zwei Wochen), weil er ein Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt hatte, gemäß §§5 Abs1 und 99 Abs1 lita StVO 1960. Mit Bescheid der NÖ Landesregierung vom 27. Juli 1988, Zl. I/7-St-G-87122, wurde die Berufung des Beschwerdeführers mit der Begründung abgewiesen, daß ein Sachverständigengutachten vom 16. Juni 1988 ergeben habe, daß der Blutalkoholgehalt des Beschwerdeführers 0,9 Promille betragen habe.

1.4. Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluß vom 11. Oktober 1988, B1542/88, die Behandlung der vom Beschwerdeführer eingebrachten Beschwerde mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg ab. Die daraufhin an den Verwaltungsgerichtshof abgetretene Beschwerde wurde von diesem mit Erkenntnis vom 29. März 1989, Zl. 88/02/0167, als unbegründet abgewiesen.

1.5. In der Folge erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im folgenden: EGMR) und behauptete unter anderem, daß ihn die Bezirksverwaltungsbehörde und die Landesregierung durch die Verhängung einer Geldstrafe gemäß §5 StVO 1960 in bezug auf einen Sachverhalt bestraft hätten, der identisch gewesen sei mit dem, auf dessen Grundlage das Gericht entschieden hätte, daß er den Tatbestand gemäß §81 Z2 StGB nicht zu verantworten habe. Da beide Bestimmungen im wesentlichen das Lenken eines KFZ mit einem Blutalkoholgehalt von mehr als 0,8 Promille verbieten, habe in dieser Hinsicht eine Verletzung des Art4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK stattgefunden.

1.6. Mit Urteil vom 23. Oktober 1995, Zl. 33/1994/480/562 (Gradinger gg. Österreich), stellte der EGMR fest, daß im vorliegenden Fall Art6 Abs1 EMRK und Art4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK verletzt wurden und sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigung iS des Art50 EMRK (nunmehr: Art41 EMRK, vgl. BGBl. III 1998/30) in Höhe von ATS 150.000,- zu.

2.1.1. Mit Schreiben vom 22. April 1998 beantragte der Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten die Wiederaufnahme jenes Verwaltungsstrafverfahrens, in welchem über den Beschwerdeführer durch rechtskräftigen Bescheid vom 16. Juli 1987 wegen Lenkens seines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand eine Geldstrafe von ATS 12.000,- verhängt wurde. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag damit, daß er mit Schreiben vom 16. April 1998 von seinem damaligen Rechtsvertreter auf die Novelle der Strafprozeßordnung, BGBl. 1996/762, aufmerksam gemacht worden sei, wonach im Wege des §363a StPO ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gestellt werden könne, wenn in einem Urteil des EGMR eine Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt wurde. Der verfassungsrechtlich verankerte Gleichheitsgrundsatz bedinge nun, daß dem Beschwerdeführer diese bzw. eine vergleichbare Möglichkeit auch im Verwaltungsstrafverfahren offen stehen müsse. §69 AVG iVm. §24 VStG sei daher insbesondere in seinem Abs1 Z1 iVm. Abs3 dahingehend verfassungskonform auszulegen, daß dem Begehren auf Wiederaufnahme des Verfahrens stattzugeben sei (B610/99).

2.1.2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten wurde der Antrag als verspätet zurückgewiesen. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der NÖ Landesregierung vom 26. Jänner 1999 keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid bestätigt. Begründend führte die belangte Behörde u.a. aus, daß selbst unter der Annahme, daß das Urteil des EGMR in Verbindung mit der erwähnten StPO-Novelle einen Wiederaufnahmegrund nach §69 AVG darstelle, der Beschwerdeführer sowohl die Zweiwochenfrist als auch die absolute Dreijahresfrist zur Einbringung des Antrages auf Wiederaufnahme des vor der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten zur Zl. 3-G-8715 abgeführten Verwaltungsstrafverfahrens versäumt habe.

2.2.1. Am 14. Mai 1999 beantragte der Beschwerdeführer bei der NÖ Landesregierung

1.) seiner Anregung Folge zu leisten und u.a. den Bescheid vom 27. Juli 1988, Zl. I/7-St-G-87122, nach §52a VStG aufzuheben;

2.) in eventu unter analoger Anwendung des §363a StPO das Verwaltungsstrafverfahren zur Umsetzung der Entscheidung des EGMR vom 23. Oktober 1995 zu erneuern und im Zuge dessen den Bescheid vom 27. Juli 1988, Zl. I/7-St-G-87122, dahingehend abzuändern, daß das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen oder der Bescheid aufzuheben sei (B1588/99).

2.2.2.1. Die Anregung des Beschwerdeführers, den Bescheid der NÖ Landesregierung vom 27. Juli 1988 gemäß §52a VStG aufzuheben, wurde von der NÖ Landesregierung mit Schreiben vom 10. August 1999 dahingehend beantwortet, daß sich keine offenkundige Verletzung von (Verfassungs-)Gesetzen - insbesondere nicht der Bestimmung des Art4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK - iS des §52a VStG feststellen lasse, weil das Zusatzprotokoll erst am 1. Dezember 1988 innerstaatliche Geltung erlangte und sohin im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides der NÖ Landesregierung vom 27. Juli 1988 noch nicht dem Rechtsbestand angehörte. Im übrigen gewähre §52a VStG dem Beschwerdeführer kein subjektives Recht auf Aufhebung des in Rede stehenden Bescheides.

2.2.2.2. Mit Bescheid vom 10. August 1999 wurde der Antrag, das mit Bescheid der NÖ Landesregierung vom 27. Juli 1988, Zl. I/7-St-G-87122, rechtskräftig abgeschlossene Verwaltungsstrafverfahren analog §363a StPO zu erneuern, als unzulässig zurückgewiesen.

Als Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, daß es sich bei der vom Beschwerdeführer angezogenen "Erneuerung des Strafverfahrens" des §363a StPO um ein neben der Wiederaufnahme des Strafverfahrens und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eigenes Rechtsinstitut im XX. Hauptstück der StPO handle, ein Rechtsinstitut, das im VStG nicht vorgesehen sei. Im Hinblick darauf, daß jede Auslegung ihre Grenzen im äußerst möglichen Wortsinn finde, könne im vorliegenden Fall dem Prinzip der "konventionsfreundlichen Anwendung innerstaatlichen Rechtes" durch konventionskonforme Auslegung des VStG nicht entsprochen werden:

Aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gerichtlichen Strafverfahrens nur im §363a StPO die Möglichkeit der Erneuerung des Strafverfahrens vorgesehen, eine Einführung einer vergleichbaren Regelung im VStG jedoch unterlassen habe, könne für den Bereich des Verwaltungsstrafverfahrens im Fehlen einer derartigen Möglichkeit der "Erneuerung des Verfahrens" iS des §363a StPO keine "planwidrige Unvollständigkeit" abgeleitet werden, die im Wege der Analogie zu schließen wäre.

3. Gegen die Bescheide der NÖ Landesregierung vom 26. Jänner 1999 und vom 10. August 1999 richten sich die vorliegenden, zu B610/99 und B1588/99 protokollierten, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie auf Unversehrtheit des Eigentums bzw. die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide begehrt wird.

4. Die belangte Behörde legte (in beiden Verfahren) die Verwaltungsakten vor und erstattete in dem zu B610/99 vor dem Verfassungsgerichtshof protokollierten Verfahren eine Gegenschrift.

5. Die im Verfahren B610/99 zur Äußerung eingeladene Bundesregierung gab ebenfalls eine Stellungnahme ab, in der der Bescheid der belangten Behörde vom 26. Jänner 1999 und die als verfassungswidrig angegriffene Gesetzeslage verteidigt wird.

6. Auf diese Äußerung erstattete der Beschwerdeführer eine Replik.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat die Verfahren über die beiden Beschwerden in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm. §35 VerfGG 1953 zur gemeinsamen Beratung und Beschlußfassung verbunden.

III. Die Beschwerden sind unzulässig.

1. Die Erhebung einer auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde hat unter anderem zur Voraussetzung, daß der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in einem subjektiven Recht verletzt werden konnte (vgl. hier und zum folgenden - jeweils mit zahlreichen Hinweisen auf die Vorjudikatur - VfSlg. 11764/1988, 13433/1993). Die Möglichkeit der Verletzung eines subjektiven Rechtes ist dann gegeben, wenn der Bescheid subjektive Rechte (oder Pflichten) begründet, verändert oder feststellt.

Die Möglichkeit der Erhebung einer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen einen Bescheid setzt ein Interesse des Beschwerdeführers an der Beseitigung des angefochtenen Bescheides voraus. Ein solches Interesse des Beschwerdeführers ist nur gegeben, wenn er durch den Bescheid beschwert ist. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Beurteilung durch den Beschwerdeführer, sondern darauf an, ob bei Anlegung eines objektiven Maßstabes gesagt werden kann, daß der angefochtene Bescheid die Rechtsposition des Beschwerdeführers zu dessen Nachteil verändert (VfSlg. 12452/1990, 13433/1993, 14413/1996).

2. Bereits im Urteil des EGMR vom 23. Oktober 1995, Zl. 33/1994/480/562, wurde die Verletzung des Beschwerdeführers in seinen gemäß Art6 Abs1 EMRK und Art4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK gewährleisteten Rechten festgestellt und ihm deshalb gemäß Art50 EMRK (nunmehr: Art41 EMRK) eine "gerechte Entschädigung" in der Höhe von ATS 150.000,- zugesprochen. Damit ist zum Zeitpunkt der Erlassung der hier angefochtenen Bescheide das aus Art41 EMRK abgeleitete Recht des Beschwerdeführers aufgrund der gemäß Art52 EMRK (vgl. nunmehr: Art44 EMRK) normierten Endgültigkeit des EGMR-Urteiles vom 23. Oktober 1995 bereits konsumiert.

Wenn der Beschwerdeführer nun vermeint, daß noch eine Eintragung seiner Bestrafung aus dem Jahre 1988 bei der Verwaltungsbehörde aufscheinen könnte, sodaß dieser Umstand bei zukünftigen Strafbemessungen einfließen könnte, ist ihm entgegenzuhalten, daß das rechtskräftige Straferkenntnis vom 27. Juli 1988 bereits als getilgt anzusehen ist, sodaß der Beschwerdeführer auch aus diesem Grund durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert sein kann: Nach §55 Abs1 VStG gilt ein wegen einer Verwaltungsübertretung verhängtes Straferkenntnis nach Ablauf von fünf Jahren als getilgt. Gemäß §55 Abs2 VStG dürfen getilgte Verwaltungsstrafen bei der Strafbemessung im Verwaltungsstrafverfahren nicht berücksichtigt werden.

Da somit durch die angefochtenen Bescheide die Rechtsposition des Beschwerdeführers nicht mehr zu seinem Nachteil verändert werden konnte, waren die Beschwerden mangels Legitimation als unzulässig zurückzuweisen.

3. Die Anträge, die Beschwerden dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten, waren abzuweisen, weil eine solche Abtretung nur im - hier nicht gegebenen - Fall einer abweisenden Sachentscheidung oder Ablehnung der Behandlung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof in Betracht kommt.

4. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Strafprozeßrecht, Verwaltungsstrafrecht, Straferkenntnis, Tilgung,VfGH / Legitimation, Entschädigung (Urteil EGMR)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B610.1999

Zuletzt aktualisiert am

26.02.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten