TE Vfgh Erkenntnis 2000/6/26 B285/00

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.06.2000
beobachten
merken

Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
ASVG §343 Abs4

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Kündigung eines Einzelvertrages wegen Verschreibung von Hormonpräparaten zum Zweck des Muskelaufbaus ohne medizinische Indikation

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Der Beschwerdeführer ist Arzt für Allgemeinmedizin in Tirol. Sein mit der Tiroler Gebietskrankenkasse abgeschlossener kurativer Einzelvertrag sowie sein Vorsorgeuntersuchungseinzelvertrag wurden mit Schreiben der Tiroler Gebietskrankenkasse vom 22.2.1999 zum 31.3.1999 mit der Begründung aufgekündigt, daß der Arzt seit dem Jahr 1996 durch mehrere Jahre einer Person Anabolika und Begleitpräparate zum Muskelaufbau zwecks Teilnahme an Bodybuilding-Wettkämpfen verschrieben habe. Dadurch sei der Tiroler Gebietskrankenkasse ein Schaden von über S 550.000,-- entstanden. In diesem Verhalten erblickte die Gebietskrankenkasse einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Verpflichtungen des Beschwerdeführers aus dem Gesamtvertrag, wonach von der vertragsärztlichen Tätigkeit nur notwendige Leistungen im Zuge der Krankenbehandlung umfaßt seien, und gegen die Richtlinien des Hauptverbandes über die ökonomische Verschreibweise von Arznei- und Heilmitteln sowie Heilbehelfen.

2. Der Beschwerdeführer hat diese Kündigung bei der Landesschiedskommission für Tirol u.a. aus dem Grund der sozialen Härte beeinsprucht. Die Landesschiedskommission hielt die Kündigung aufrecht. Die dagegen erhobene Berufung an die Bundesschiedskommission (u.a. brachte der Beschwerdeführer vor, daß er im fraglichen Zeitraum vom Jänner 1996 bis November 1998 aufgrund einer tiefgreifenden seelischen Störung im Zusammenhang mit Alkoholismus nicht fähig gewesen sei, das Unrecht der ihm vorgeworfenen Taten einzusehen bzw. nach dieser Einsicht zu handeln), wurde von der belangten Behörde abgewiesen, da eine besonders schwerwiegende Pflichtverletzung vorliege, durch die das beiderseitige Vertrauensverhältnis nachhaltig zerstört worden sei; §343 Abs4 ASVG stelle vor allem darauf ab, ob die Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses wegen der Schwere des Verstoßes des Vertragsarztes gegen seine Pflichten nicht mehr zumutbar sei; daher sei die Bestimmung dahingehend auszulegen, daß - ebenso wie bei allen anderen Dauerschuldverhältnissen - in der Sphäre des Vertragspartners gelegene Umstände, die die Aufrechterhaltung des Vertrages für den anderen Teil unzumutbar machen, diesen auch dann zur Auflösung aus wichtigem Grund berechtigen, wenn dem Vertragspartner kein Verschulden am vertragswidrigen Verhalten anzulasten sei.

3. Gegen diesen Bescheid der Bundesschiedskommission erhebt der Beschwerdeführer mit näherer Begründung Beschwerde wegen der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

5. Die beteiligte Gebietskrankenkasse hat eine Äußerung erstattet, in der sie zum einen "der Einfachheit halber auf den Inhalt ihrer Gegenäußerung zur Berufung" des Beschwerdeführers im Verfahren vor der Bundesschiedskommission verweist und diese "zum Bestandteil der Äußerung zur gegenständlichen Beschwerde" erhebt und zum anderen auf ihre Stellungnahme zum Antrag des Beschwerdeführers, seiner Beschwerde die aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen verweist. Die beteiligte Partei ist der Auffassung, daß die vom Beschwerdeführer vorgebrachten "Beschwerdegründe" nicht vorliegen, weshalb sie den Antrag stellt, der Beschwerde keine Folge zu geben.

6. Die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen des ASVG lauten:

§343 ASVG lautet auszugsweise:

"Aufnahme der Ärzte in den Vertrag und Auflösung des

Vertragsverhältnisses

§343.(1) Die Auswahl der Vertragsärzte und der Abschluß der Einzelverträge zwischen dem zuständigen Träger der Krankenversicherung und dem Arzt erfolgt nach den Bestimmungen des Gesamtvertrages und im Einvernehmen mit der zuständigen Ärztekammer.

...

(2) Das Vertragsverhältnis zwischen dem Vertragsarzt und dem Träger der Krankenversicherung erlischt ohne Kündigung im Falle:

...

(3) Der Träger der Krankenversicherung ist zur Auflösung des Vertragsverhältnisses mit einem Vertragsarzt verpflichtet, wenn der Arzt die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedsstaates des Europäischen Wirtschaftsraumes oder die Berechtigung zur Ausübung des ärztlichen Berufes verliert oder wenn einvernehmlich mit der zuständigen Ärztekammer festgestellt wird, daß die Voraussetzungen, die zur Bestellung des Vertragsarztes erforderlich sind, von Anfang an nicht gegeben waren.

(4) Das Vertragsverhältnis kann unbeschadet der Bestimmungen der Abs2 und 3 von beiden Teilen unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist zum Ende eines Kalendervierteljahres gekündigt werden. Kündigt der Träger der Krankenversicherung, so hat er dies schriftlich zu begründen. Der gekündigte Arzt kann innerhalb von zwei Wochen die Kündigung bei der Landesschiedskommission mit Einspruch anfechten. Die Landesschiedskommission hat innerhalb von sechs Monaten nach Einlangen des Einspruches über diesen zu entscheiden. Der Einspruch hat bis zum Tag der Entscheidung der Landesschiedskommission aufschiebende Wirkung. Die Landesschiedskommission kann die Kündigung für unwirksam erklären, wenn sie für den Arzt eine soziale Härte bedeutet und nicht eine so beharrliche oder eine so schwerwiegende Verletzung des Vertrages oder der ärztlichen Berufspflichten im Zusammenhang mit dem Vertrag vorliegt, daß die Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses für den Träger der Krankenversicherung nicht zumutbar ist. Eine vom gekündigten Arzt eingebrachte Berufung an die Bundesschiedskommission hat ohne Zustimmung des Krankenversicherungsträgers keine aufschiebende Wirkung."

Die §§345a und 346 ASVG lauten auszugsweise:

"Landesschiedskommission

§345a. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesschiedskommission zu errichten. ...

(2) Die Landesschiedskommission ist zuständig:

1. zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages und

2. zur Entscheidung über die Wirksamkeit einer Kündigung gemäß §343 Abs4.

(3) Gegen die Entscheidungen der Landesschiedskommission kann Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben werden.

Bundesschiedskommission

§346. (1) Zur Entscheidung über Berufungen, die gemäß §345a Abs3 erhoben werden, ist eine Bundesschiedskommission zu errichten.

..."

7. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

7.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Der Verfassungsgerichtshof hegt keine Bedenken gegen die den Bescheid tragenden Rechtsgrundlagen (vgl. aus jüngster Zeit das Erkenntnis vom 17.6.2000, B270/00, B271/00, B272/00, B273/00). Der Beschwerdeführer ist daher nicht wegen der Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

7.2. Ein willkürliches Verhalten kann der Behörde unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn sie den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn der angefochtene Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg. 10.337/1985, 11.436/1987).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt u.a. auch in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, bzw. im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10.338/1985, 11.213/1987).

Der Beschwerdeführer behauptet, die Behörde habe dadurch Willkür geübt, daß sie keine Beweise zu seiner angeblich mangelnden Diskretions- und Dispositionsfähigkeit bzw. zur Üblichkeit der Rezeptausstellung durch Arzthelferinnen aufgenommen habe, sowie §343 Abs4 ASVG durch die "Nichtberücksichtigung der subjektiven Vorwerfbarkeit" denkunmöglich ausgelegt habe; auch sei die mangelnde Kontrolle der Krankenkasse nicht berücksichtigt geworden.

Dieser Auffassung vermag sich der Verfassungsgerichtshof nicht anzuschließen:

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht (sucht dies freilich mit einem damals unbeherrschbaren Alkoholismus zu begründen), über Jahre hinweg teils selbst, teils durch seine Arzthelferinnen - jedenfalls somit unter seiner Verantwortung - einem "Patienten" zum Zwecke des Muskelaufbaues Hormonpräparate (samt Begleitpräparaten), die nicht kurativen Zwecken dienten, ohne medizinische Indikation verschrieben und dadurch der Gebietskrankenkasse (bzw. der durch sie repräsentierten Versichertengemeinschaft) einen Schaden in der Höhe von rd einer halben Million Schilling verursacht zu haben.

Wie der Verfassungsgerichtshof schon ausgesprochen hat, ist für eine Vertragsbeziehung, wie sie der Einzelvertrag darstellt, ein hohes Maß an Vertrauen erforderlich, wird doch durch die Verrechnung von ärztlichen Leistungen indirekt im eigenen wirtschaftlichen Interesse des Arztes über beträchtliche Mittel der Versichertengemeinschaft disponiert; eine wirksame Kontrolle der Abrechnung durch die Sozialversicherungsträger ist notorisch nämlich nicht in jedem Einzelfall, sondern nur stichprobenartig möglich (vgl. zu diesem Gesichtspunkt in einem vergleichbaren Zusammenhang das hg. Erkenntnis vom 14.6.2000, B2074/98). Der Gesichtspunkt der notwendigerweise weitgehend kontrollfreien, in Eigenverantwortung wahrzunehmenden unmittelbaren Disposition des Arztes über Mittel der Krankenversicherung gilt in nicht geringerem Maße bei der Verschreibung von Medikamenten. Es kann daher - anders als der Beschwerdeführer meint - in Handhabung verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe - sein Verhalten nicht unter dem Gesichtspunkt einer angeblich "mangelnden Kontrolle" der Gebietskrankenkasse einer anderen Beurteilung unterzogen werden.

Wenn daher die belangte Behörde das oben erwähnte Verhalten des Beschwerdeführers - ungeachtet der Frage, ob und welches Maß an Verschulden ihm daran aufgrund der von ihm geltend gemachten Alkoholkrankheit anzulasten wäre - als so schwerwiegend angesehen hat, daß das aufgrund der dargelegten Umstände unbedingt erforderliche Vertrauen in die Redlichkeit des Arztes bei der Verschreibung von Medikamenten damit auch für die Zukunft nicht mehr als gegeben angenommen werden kann, so ist ihr kein in die Verfassungssphäre reichender Fehler anzulasten.

Auch eine Auslegung, wonach eine - wenn auch nicht schuldhafte - Vertragsverletzung vor allem dann als besonders schwerwiegend anzusehen ist, wenn dadurch - wegen der fehlenden medizinischen Indikation zur Verschreibung - nicht nur die finanziellen, sondern auch die Interessen des Krankenversicherungsträgers an einer einwandfreien ärztlichen Versorgung bzw. das Vertrauen der hilfesuchenden Patienten in die Bereitstellung einer fachlich einwandfreien Behandlungsleistung in besonderer Weise beeinträchtigt werden, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17.6.2000, B270/00 ua).

8. Der Beschwerdeführer ist daher durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger nicht verletzt worden. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß er in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden wäre; die Beschwerde war daher abzuweisen.

9. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung (§19 Abs4 VerfGG) beschlossen werden.

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B285.2000

Dokumentnummer

JFT_09999374_00B00285_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten