TE Vfgh Erkenntnis 2000/12/5 G93/00

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Veröffentlicht am 05.12.2000
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Index

L8 Boden- und Verkehrsrecht
L8200 Bauordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
Tir BauO 1998 §25 Abs2

Leitsatz

Aufhebung einer den Nachbarbegriff regelnden Bestimmung der Tir BauO 1998 infolge Aufhebung der damit in Zusammenhang stehenden Bestimmung über die Einschränkung des Mitspracherechtes des Nachbarn auf die Geltendmachung der Abstandsvorschriften durch den VfGH; Anlassfallwirkung der vorhergehenden Aufhebung für den vorliegenden Quasianlassfall

Spruch

§25 Abs2 erster Satz des Gesetzes vom 11. Dezember 1997, mit dem eine Bauordnung für Tirol erlassen wird (Tiroler Bauordnung 1998), LGBl. Nr. 15/1998, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Der Landeshauptmann von Tirol ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B304/00 das Verfahren über eine Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

Mit Bescheid vom 20. August 1998 erteilte der Bürgermeister der Gemeinde Aldrans der G reg.Gen.m.b.H. die Baubewilligung zur Errichtung einer Wohnanlage mit 20 Wohneinheiten und einer Tiefgarage auf Grundstück Nr. 709/1 KG Aldrans unter Vorschreibung der im Bescheid näher angeführten Auflagen. Die Einwendungen der nunmehrigen Beschwerdeführer wurden mangels Parteistellung als unzulässig zurückgewiesen. Die Berufung wurde durch den Gemeindevorstand als unzulässig zurückgewiesen.

Die Tiroler Landesregierung wies mit Bescheid vom 21. Jänner 1999 die Vorstellungen als unbegründet ab unter Anwendung des §25 Abs2 letzter Satz Tiroler Bauordnung 1998, LGBl. Nr. 15/1998 (im Folgenden TBO 1998). Demnach komme den Vorstellungswerbern aufgrund der Lage der Grundstücke keine Parteistellung zu, um die Verletzung von Abstandsvorschriften nach §6 TBO geltend zu machen.

Mit Erkenntnis vom 1. Oktober 1999, G73/99, hat der Verfassungsgerichtshof §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 gemäß Art140 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben. Auf Grund einer gemäß Art144 Abs1 B-VG erhobenen Beschwerde der Nachbarn hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 11. Oktober 1999, B473/99, den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§25 Abs2 letzter Satz TBO 1998) auf.

Im fortgesetzten Verfahren wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid neuerlich die Vorstellung ab und stützte ihre Entscheidung auf §25 Abs2 erster Satz TBO 1998. Die Beschwerdeführer seien Eigentümer der Grundstücke 710/2 und 709/12 KG Aldrans. Zwischen diesen Grundstücken führe der Gemeindeweg Grundstück 1654 (öffentliches Gut). Eine Parteistellung der Vorstellungswerber sei daher gemäß §25 Abs2 erster Satz TBO 1998 nicht gegeben.

2. Aus Anlass dieser Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof am 29. Juni 2000 gemäß Art140 Abs1 B-VG beschlossen, die Verfassungsmäßigkeit des §25 Abs2 erster Satz des Gesetzes vom 11. Dezember 1997, mit dem eine Bauordnung für Tirol erlassen wird (Tiroler Bauordnung 1998), LGBl. Nr. 15/1998, von Amts wegen zu prüfen.

2.1. §25 TBO 1998 lautet (der in Prüfung gezogene Satz ist hervorgehoben):

"§25

Parteien

(1) Parteien im Bauverfahren sind der Bauwerber und die Nachbarn.

(2) Nachbarn sind die Eigentümer der Grundstücke, die unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder die von diesem nur durch eine private Straße, die nicht dem öffentlichen Verkehr im Sinne der straßenpolizeilichen Vorschriften dient und die nicht von den in einem Bebauungsplan festgelegten Straßenfluchtlinien umfaßt ist, oder ein anderes Grundstück als ein Straßengrundstück mit einer Breite von höchstens 5 m getrennt sind, sowie jene Personen, denen an einem solchen Grundstück ein Baurecht zukommt. Sie sind berechtigt, in Ansehung des jeweiligen Grundstückes die Verletzung der Abstandsbestimmungen nach §6 geltend zu machen. (Der letzte Satz wurde mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes G73/99 vom 1. Oktober 1999 mit Wirkung vom 1. Jänner 2001 aufgehoben.)

(3) Findet eine Bauverhandlung nicht statt, so kann eine Anhörung der Nachbarn vor der Erteilung der Baubewilligung unterbleiben.

(4) Werden in der Bauverhandlung privatrechtliche Einwendungen erhoben, so hat die Behörde möglichst auf eine Einigung hinzuwirken. Kommt eine Einigung zustande, so ist diese in der Verhandlungsschrift zu beurkunden. Kommt eine Einigung nicht zustande, so ist der Nachbar mit seinen Einwendungen auf den ordentlichen Rechtsweg zu verweisen. Die Einwendungen sind in der Baubewilligung ausdrücklich anzuführen.

(5) Mit dem Ablauf von zwei Jahren nach dem Zeitpunkt des letztmöglichen Baubeginns (§27) erlangt die Baubewilligung auch gegenüber Nachbarn Rechtskraft, denen die Baubewilligung nicht zugestellt worden ist und die ihre Parteistellung bis dahin bei der Behörde nicht geltend gemacht haben."

2.2. Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage beschreiben die Motive der Einschränkung des Nachbarbegriffes gegenüber der bisher geltenden Regelung folgendermaßen (die entscheidende Passage ist hervorgehoben):

"Zu §25:

Nach §30 Abs1 der geltenden Tiroler Bauordnung ist der Nachbarbegriff nicht auf die Eigentümer der unmittelbar angrenzenden Grundstücke beschränkt. Nachbarn sind demnach alle Eigentümer von Grundstücken, die zu dem zur Bebauung vorgesehenen Grundstück in einem solchen räumlichen Naheverhältnis stehen, daß durch die bauliche Anlage oder durch deren Benützung hinsichtlich der durch dieses Gesetz geschützten Interessen mit Rückwirkungen auf ihr Grundstück oder die darauf errichtete bauliche Anlage zu rechnen ist, wobei dem Grundeigentümer der Bauberechtigte gleichgestellt ist. Diesem Nachbarbegriff entsprechen auch die dem Nachbarn nach §30 Abs4 der geltenden Tiroler Bauordnung zukommenden subjektiven Rechte, die vor allem in den Bereichen Brandschutz und Immissionsschutz über den unmittelbar angrenzenden Nachbarn hinausgehen.

§25 Abs2 zweiter Satz des vorliegenden Entwurfes schränkt den Kreis der Nachbarrechte dagegen auf die Einhaltung der Abstandsbestimmungen des §6 ein. Korrespondierend dazu sollen künftig nur mehr die Eigentümer der unmittelbar an den Bauplatz angrenzenden Grundstücke sowie jene Personen, denen an einem solchen Grundstück ein Baurecht zukommt, als Nachbarn gelten. Eine Verletzung der Abstandsbestimmungen kann auch nach der geltenden Tiroler Bauordnung naturgemäß nur von den unmittelbar an den Bauplatz angrenzenden Nachbarn geltend gemacht werden, und zwar hinsichtlich der Abstände zum betreffenden Grundstück hin.

(...)"

3. In seinem Prüfungsbeschluss ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, dass die Beschwerde zulässig ist und er bei seiner Entscheidung darüber §25 Abs2 erster Satz der TBO 1998 anzuwenden hätte.

4. Nach der Darstellung der Judikatur zur Regelung der Parteirechte legte der Verfassungsgerichtshof seine Bedenken wie folgt dar:

"Der Verfassungsgerichtshof geht zunächst davon aus, dass es sachlich gerechtfertigt ist, dem Nachbarn im Bauverfahren ein durchsetzbares Mitspracherecht nur dort einzuräumen, wo seine durch die raumordnungsrechtlichen und baurechtlichen Bestimmungen geschützte Rechtssphäre bei Verwirklichung des Bauvorhabens beeinträchtigt werden könnte, d.h. dem Nachbarn ein Mitspracherecht nur hinsichtlich der Einhaltung jener raumordnungsrechtlichen und baurechtlichen Bestimmungen einzuräumen, die nicht nur dem öffentlichen, sondern auch dem besonderen Interesse der Nachbarschaft dienen.

Der Verfassungsgerichtshof meint aber - aus dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes -, dass der Gesetzgeber dann, wenn er den besonderen Interessenlagen der Nachbarn dienende raumordnungsrechtliche oder baurechtliche Regelungen erlässt, diese Interessenlagen auch bei der Einräumung des Mitspracherechts der Nachbarn im Bauverfahren entsprechend berücksichtigen muss. Oder anders ausgedrückt: Beschränkt der Gesetzgeber das Mitspracherecht im Baubewilligungsverfahren auf die Möglichkeit, nur bestimmte Interessenlagen geltend zu machen, so muss ein sachlicher Grund dafür gegeben sein, dass der Nachbar nur diese bestimmten Interessenlagen im Bauverfahren rechtswirksam durchsetzen kann.

Mit Erkenntnis vom 1. Oktober 1999, G73/99, hob der Verfassungsgerichtshof §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 auf, weil er keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen vermochte, dass der Nachbar ausschließlich einen Widerspruch zu den Abstandsbestimmungen des §6 TBO 1998 einwenden darf. Diese Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2000 in Kraft.

(...) Der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, dass die Beschränkung der Parteistellung der Nachbarn auf die Eigentümer der Grundstücke, die unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder die von diesem nur durch eine private Straße, die nicht dem öffentlichen Verkehr im Sinne der straßenpolizeilichen Vorschriften dient, und die nicht von den in einem Bebauungsplan festgelegten Straßenfluchtlinien umfasst ist, oder ein anderes Grundstück als ein Straßengrundstück mit einer Breite von höchstens 5 m getrennt sind, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einschränkung der subjektiven öffentlichen Rechte, die der Nachbar im Bauverfahren geltend machen kann, steht. Für diese Annahme scheinen auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zu sprechen, die ausdrücklich erwähnen, dass korrespondierend zur Einschränkung der Nachbarrechte nur mehr die Eigentümer der unmittelbar an den Bauplatz angrenzenden Grundstücke als Nachbarn gelten sollen. Die Einschränkung des Kreises der Nachbarn wird mit der Feststellung begründet, dass eine Verletzung der Abstandsbestimmungen 'naturgemäß nur von den unmittelbar an den Bauplatz angrenzenden Nachbarn geltend gemacht' werden könne.

Der Verfassungsgerichtshof hegt daher vorläufig gegen die Sachlichkeit des §25 Abs2 erster Satz TBO dieselben Bedenken wie gegen die Regelung des §25 Abs2 letzter Satz TBO.

(...) Weiters hegt der Verfassungsgerichtshof gegen die Differenzierung der Parteistellung der Nachbarn, je nachdem, ob zwischen dem Grundstück des Nachbarn und jenem des Bauwerbers eine private Straße oder eine öffentliche Straße liegt, Bedenken ob ihrer sachlichen Rechtfertigung. Ist das Grundstück des Nachbarn von jenem des Bauwerbers durch eine private Straße, die nicht dem öffentlichen Verkehr dient und die nicht von Straßenfluchtlinien erfasst ist, so kommt ihm Parteistellung zu. Liegt zwischen seinem Grundstück und jenem des Bauwerbers jedoch eine öffentliche Straße, so hat er keine Parteistellung. Der Verfassungsgerichtshof vermag vorläufig keine sachliche Rechtfertigung für diese Differenzierung zu erkennen. Im Gesetzesprüfungsverfahren wird auch zu klären sein, ob sich die im §25 Abs2 TBO normierte '5 m-Grenze' auch auf private Straßen bezieht.

Diese Grenze von 5 m scheint dem Verfassungsgerichtshof darüber hinaus willkürlich gegriffen und in keinem Zusammenhang mit den dem Nachbarn einzuräumenden subjektiven öffentlichen Rechten zu stehen. Der Verfassungsgerichtshof hat zwar im VfSlg. 10.844/1986 eine Grenzziehung bei der Festlegung der Parteistellung für zulässig erachtet, jedoch scheint die im §7 Abs1 Z1 lita Salzburger Baupolizeigesetz normierte 15 m-Grenze im auffallenden Gegensatz zu der im §25 Abs2 TBO vorgenommenen Grenzziehung zu stehen, weshalb der Verfassungsgerichtshof Bedenken ob ihrer Sachlichkeit hegt.

Wegen seines untrennbaren Zusammenhanges war der ganze erste Satz des §25 Abs2 TBO in Prüfung zu ziehen."

5. Die Tiroler Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes entgegentritt und beantragt, die in Prüfung gezogene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

In ihrer Äußerung führt die Landesregierung ua. aus, dass die in Prüfung gezogene Bestimmung unter Berücksichtigung des Erkenntnisses vom 1. Oktober 1999, G73/99 zu §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich sei. Die Ansicht des Verfassungsgerichtshofs, dass die Regelung des §25 Abs2 TBO 1998 ein geschlossenes Regime darstelle und daher die Einschränkung des Nachbarbegriffes durch die in Prüfung gezogene Bestimmung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beschränkung der Parteirechte des Nachbarn auf Geltendmachung der Abstandsbestimmungen nach §6 leg. cit. (§25 Abs2 letzter Satz TBO 1998) zu sehen sei, treffe zu.

Der Gesetzgeber habe dabei im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur seinerzeitigen Tiroler Bauordnung gehandelt. Obwohl diese von einem weiten Nachbarbegriff ausgegangen sei, sei der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass der Nachbar ein Bauvorhaben wegen Verletzung von Abstandsvorschriften nur insoweit erfolgreich bekämpfen könne, als es sich um Vorschriften handelte, die den Abstand des Bauvorhabens von seinem Grund regeln. Nachbar im Bezug auf die Einhaltung der Abstandsbestimmungen sei daher nur der unmittelbare Anrainer gewesen. Insofern habe die TBO 1998 den Nachbarbegriff sogar geringfügig erweitert, indem die Nachbareigenschaft auch jenen Personen zuerkannt worden sei, deren Grundstück vom Bauplatz durch einen Grundstreifen mit einer Breite von höchstens 5 m oder durch eine Privatstraße getrennt sei.

Auch die Unterscheidung zwischen den durch eine öffentliche und den durch eine private Straße vom Bauplatz getrennten Nachbargrundstücken sei unter Zugrundelegung des vom Gesetzgeber intendierten Gesamtsystems begründet. Gegenüber Verkehrsflächen - das seien im Hinblick auf die Begriffsbestimmung des §2 Abs20 der TBO 1998 die öffentlichen Straßen, die privaten Straßen mit öffentlichem Verkehr im Sinne des Tiroler Straßengesetzes, die in einem Zusammenlegungsverfahren als gemeinsame Anlagen errichteten Wege, die Güterwege und die Forststraßen sowie alle sonstigen Straßen, für die im Bebauungsplan Straßenfluchtlinien festgesetzt sind - würden die Abstandsbestimmungen des §5 TBO 1998 zum Tragen kommen. Diese seien im Gegensatz zu den in §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 verwiesenen Abstandsbestimmungen des §6 nicht nachbarrechtsbegründend, da der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die "Abstandsvorschriften diesen Verkehrsflächen gegenüber" vorrangig der Verkehrssicherheit sowie dem Schutz des Orts- und Straßenbildes dienen würden. Gegenüber Privatstraßen ohne öffentlichen Verkehr (diese unterlägen nicht dem Tiroler Straßengesetz), für die keine Straßenfluchtlinien festgelegt sind, würden die nachbarrechtsbegründenden Abstandsbestimmungen des §6 zum Tragen gelangen. Aus dem vorgezeigten Zusammenhang ergebe sich, dass die im §25 Abs2 erster Satz TBO 1998 enthaltene Grenze von 5 m auf Straßengrundstücke nicht zur Anwendung gelangen könne. Für die Frage der Parteistellung des Eigentümers eines auf der gegenüber liegenden Seite der Straße befindlichen Grundstücks sei nur die Rechtsnatur und nicht die Breite der Straße von Belang.

Der Verfassungsgerichtshof habe mit dem bereits oben zitierten Erkenntnis §25 Abs2 zweiter Satz TBO 1998, somit die Einschränkung des Mitspracherechts des Nachbarn, nicht jedoch den mit diesen Rechten korrespondierenden Nachbarbegriff des §25 Abs2 erster Satz leg. cit., als verfassungswidrig aufgehoben. Die Aufhebung bewirke für die Anlassfälle, dass den Nachbarn wieder eine umfassende Rechtsstellung zukomme. Die konkreten Nachbarrechte seien im Interpretationsweg unter Zugrundelegung der vom Verfassungsgerichtshof dazu entwickelten Judikatur zu ermitteln. Unter Zitierung des Prüfungsbeschlusses geht die belangte Behörde davon aus, dass es unter Berücksichtigung der vom Verfassungsgerichtshof entwickelten Grundsätze auch eines ausreichend weiten Nachbarbegriffes bedürfe, der all jene Personen umfasse, deren Interessenlage in Ansehung der dem Nachbarn einzuräumenden subjektiven öffentlichen Parteirechte entscheidend betroffen sei. Der Verfassungsgerichtshof gehe in seinem Prüfungsbeschluss selbst davon aus, dass die Grenze von 5 m in keinem Zusammenhang mit den dem Nachbarn einzuräumenden subjektiven öffentlichen Rechten stehe. Es sei aber durchaus sachgerecht, die Nachbarstellung hinsichtlich der Abstandsbestimmungen und der diesen gleichzuhaltenden Bebauungsplanfestlegungen auf einen engen Kreis zu beschränken, während dies hinsichtlich des Brandschutzes und des mit dem Flächenwidmungsplans verbundenen Emisssionsschutzes nicht der Fall sein dürfte. Durch die Aufhebung des zweiten Satzes des §25 Abs2 leg. cit. habe der erste Satz nun eine Bedeutung erlangt, die vom Gesetzgeber nicht intendiert gewesen sei und die tatsächlich zur Folge hätte, dass die vom Verfassungsgerichtshof geforderte erweiterte Rechtsstellung des Nachbarn zumindest hinsichtlich eines Teiles der diesem neu einzuräumenden Rechte durch einen zu eng gefassten Nachbarbegriff wieder unterlaufen würde. Dem Verfassungsgerichtshof könne nicht unterstellt werden, dass er diesen Zusammenhang negieren wollte, indem er §25 Abs2 TBO 1998 nicht zur Gänze aufgehoben hat. Dies sei in der Natur der Anlassfälle begründet gewesen.

Um dem nun unerwünschten Auslegungsergebnis des §25 Abs2 leg. cit. vorzubeugen, müsse diese Bestimmung dahingehend verfassungskonform interpretiert werden, dass §25 Abs2 erster Satz leg. cit. auf jene Beschwerdeverfahren, denen im Hinblick auf die Aufhebung von §25 Abs2 letzter Satz leg. cit. Anlassfallwirkung zukomme, nicht angewendet werden dürfe. In diesen Fällen sei vielmehr der bereits im §25 Abs1 leg. cit. zugrundegelegte Nachbarbegriff entsprechend den Intentionen des Verfassungsgerichtshofes im oben dargelegten Sinn weit auszulegen. Für diese Auslegung spreche die Absicht des Gesetzgebers, den Nachbarbegriff korrespondierend zu den Nachbarrechten auszugestalten.

Mit 1. Jänner 2001 solle eine neue Regelung des §25 TBO 1998 in Kraft treten, mit der nicht nur der Kreis der Nachbarrechte sondern auch der Nachbarbegriff neu geregelt werden solle.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die vorläufigen Annahmen, dass das Beschwerdeverfahren, das Anlass zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens gegeben hat, zulässig ist und dass der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die Beschwerde §25 Abs2 erster Satz TBO 1998 anzuwenden hätte, haben sich als zutreffend erwiesen.

2. Auch die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmung treffen zu:

Die Landesregierung geht ebenso wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluss davon aus, dass die Regelung des Nachbarbegriffes nach der Intention des Gesetzgebers im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Mitspracherecht des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren steht. Auf Grund des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 1. Oktober 1999, G73/99, wurde jedoch die Einschränkung des Mitspracherechts des Nachbarn auf Geltendmachung der Abstandsbestimmungen wegen Widerspruchs zum Gleichheitssatz aufgehoben; sie kann daher zur sachlichen Rechtfertigung der in Prüfung gezogenen Bestimmung nicht mehr herangezogen werden. Da es sich beim vorliegenden Fall um einen Quasianlassfall handelt, in dem von der Gleichheitswidrigkeit des §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 und damit von einem weiter gehenden Mitspracherecht des Nachbarn auszugehen ist, erweist sich die in Prüfung gezogene Bestimmung schon deshalb als unsachlich, weil der enge Nachbarbegriff das weitere Mitspracherecht des Nachbarn unterlaufen würde.

Die Landesregierung regt an, §25 Abs2 erster Satz leg. cit. in jenen Beschwerdeverfahren, denen im Hinblick auf die Aufhebung von §25 Abs2 letzter Satz TBO 1998 Anlassfallwirkung zukommt, nicht anzuwenden. Durch die Aufhebung des zweiten Satzes dieser Bestimmung habe der erste Satz des §25 Abs2 leg. cit. eine vom Gesetzgeber nie beabsichtigte Bedeutung erlangt. Es sei die Absicht des Gesetzgebers gewesen, den Nachbarbegriff korrespondierend zum Mitspracherecht auszugestalten. Die Bestimmung sei unter Berücksichtigung des Erkenntnisses vom 1. Oktober 1999, G73/99, einer verfassungskonformen Auslegung im Sinne eines mit dem erweiterten Mitspracherecht korrespondierenden Nachbarbegriffes zugänglich.

Enthält ein Gesetz mehrere Bestimmungen, die aus dem gleichen Grund verfassungswidrig sind und hebt der Verfassungsgerichtshof nur jene Bestimmung auf, die im Anlassfall präjudiziell ist, so werden dadurch die übrigen - ebenfalls verfassungswidrigen - Bestimmungen nicht schon deshalb unanwendbar.

Wegen seines untrennbaren Zusammenhanges war der ganze erste Satz des §25 Abs2 TBO 1998 aufzuheben.

3. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz

B-VG.

4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Tirol zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche ergibt sich aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefasst werden.

Schlagworte

Baurecht, Nachbarrechte, VfGH / Anlaßfall, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Aufhebung Wirkung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:G93.2000

Dokumentnummer

JFT_09998795_00G00093_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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