TE OGH 1955/1/19 2Ob10/55

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Veröffentlicht am 19.01.1955
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Norm

ABGB §1295
Reichshaftpflichtgesetz §1
Reichshaftpflichtgesetz §3a
Reichshaftpflichtgesetz §9

Kopf

SZ 28/12

Spruch

Ist ein für den Schaden kausales Verschulden festgestellt, so haftet die Eisenbahn (Straßenbahn) über die Bestimmungen des Reichshaftpflichtgesetzes hinaus nach bürgerlichem Recht.

Entscheidung vom 19. Jänner 1955, 2 Ob 10/55.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

Der Kläger ist dadurch schwer verletzt worden, daß der Erstbeklagte als Motorführer eines Straßenbahnzuges der Linie 48 in Wien ungeachtet der aufgestellten Warntafel und der Handzeichen eines Aufsehers gegen einen offenen Kanaldeckel fuhr. Der Erstbeklagte wurde wegen Vergehens nach §§ 335 und 337 lit. a StG. verurteilt.

Unter Hinweis auf diese Verurteilung des Erstbeklagten und auf die Bestimmungen des RHG. hat der Kläger von beiden Beklagten (Zweitbeklagte sind die Wiener Stadtwerke-Verkehrsbetriebe) zur ungeteilten Hand die Zahlung eines Betrages von 20.203 S 48 g an restlichem Verdienstentgang und eines weiteren Betrages von 20.000 S an Schmerzengeld sowie einer monatlichen Rente von 1500 S "für verminderte Erwerbsfähigkeit" verlangt.

Das Erstgericht hat das Verfahren auf den Grund des Anspruches eingeschränkt und mit Zwischenurteil entschieden, daß das Klagebegehren dem Gründe nach zu Recht bestehe; das Erstgericht ist zum Ergebnis gekommen, daß den Kläger keinerlei Verschulden am Unfalle treffe.

Das Berufungsgericht bestätigt dieses Urteil. Die Revision der beiden Beklagten hatte keinen Erfolg.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Es kommt aber auch der Rechtsrüge keine Berechtigung zu. Die Zweitbeklagte führt darin aus, sich durch die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß sie als Unternehmerin eines gefährlichen Betriebes für die Verwirklichung der Betriebsgefahr durch Verschulden ihrer Leute ohne die Beschränkungen des RHG. hafte, für beschwert zu erachten. Damit ist klargestellt, daß die Zweitbeklagte ihre Haftung aus dem streitgegenständlichen Unfalle des Klägers vom 3. April 1953 - abgesehen von der Behauptung des Mitverschuldens des Klägers zu einem Viertel, die bereits früher erledigt worden ist - im Sinne der Bestimmungen der §§ 1 und 3 a RHG. nicht bestreitet, was sich übrigens schon aus dem Vorbringen der Zweitbeklagten in der Klagebeantwortung ergibt. Es steht also in diesem Zusammenhange bloß zur Erörterung, ob die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß die Zweitbeklagte mit dem Erstbeklagten voll hafte, zutrifft oder ob die Zweitbeklagte dem Kläger lediglich nach Maßgabe der Bestimmungen des § 3a RHG. schadenersatzpflichtig ist, ihm also bloß - Heilungskostenersatz verlangt er nicht - den Ersatz des Vermögensnachteiles zu leisten hat, den er dadurch erleidet, daß seine Erwerbsfähigkeit infolge der Verletzung vom 3. April 1953 zeitweise oder dauernd aufgehoben oder gemindert ist. Praktisch geht es also dabei vorliegendenfalls insbesondere um die Frage, ob auch die Zweitbeklagte dem Kläger Schmerzengeld zu leisten hat oder ob sie diesbezüglich keine Zahlungsverbindlichkeit trifft. In dieser Hinsicht verweist nun zwar die Zweitbeklagte als Revisionswerberin richtig auf die Einführung des RHG. in Österreich, und es trifft auch zu, daß in der Einführungsverordnung zum RHG. vom 3. Mai 1940, DRGBl. 1 S. 713, keine Bestimmung enthalten ist, die der Vorschrift des Art. IV Abs. 1 der Einführungsverordnung zum Kraftfahrzeugverkehrsgesetz vom 23. März 1940, DRGBl. I S. 537, entsprechen würde. Die Revisionswerberin übersieht aber die Bestimmung des § 9 RHG., derzufolge die gesetzlichen Vorschriften, nach welchen außer den im RHG. vorgesehenen Fällen - unter anderem - der Eisenbahn-Betriebsunternehmer, insbesondere wegen eines eigenen Verschuldens, für den bei dem Betriebe der Anlage durch Tötung oder Körperverletzung eines Menschen entstandenen Schaden haftet, unberührt bleiben. Im Gründe dieser Bestimmung ist die angefochtene Entscheidung im Sinne der bisherigen Praxis des Revisionsgerichtes zu billigen. Zwar hat zwischen dem Kläger und der Zweitbeklagten kein Vertragsverhältnis bestanden, in dessen Rahmen die Zweitbeklagte für das Verschulden des Erstbeklagten als Erfüllungsgehilfen nach § 1313a ABGB. haften würde, und bereits das Berufungsgericht hat darauf verwiesen, daß die Haftung der Zweitbeklagten nicht aus der Bestimmung des § 1315 ABGB. über die Haftung für den von einem untüchtigen Besorgungsgehilfen einem Dritten zugefügten Schaden abgeleitet werden könne (vgl. SZ. XXIII 273, SZ. XXIV 136, SZ. XXV 68 sowie SZ. XXV 306), das Revisionsgericht hält aber trotz vereinzelter Kritik (vgl. Wedl, einige Probleme des Haftpflichtrechtes und deren Kritik nach der neueren Rechtsprechung und Praxis, ÖJZ. 1951 S. 504 ff., insbesondere S. 510 f.) an der Ansicht (vgl. SZ. XXII 110 in Verbindung mit SZ. XXI 46, ferner SZ. XXII 80) fest, daß die Eisenbahn gemäß § 9 RHG. über die in den §§ 1 und 3 a RHG. vorgesehene Ersatzpflicht hinaus nach den Bestimmungen des ABGB. hafte, wenn durch das Urteil eines Strafgerichtes das Verschulden eines ihrer Organe festgestellt worden ist, wie im streitgegenständlichen Fall. Es entspricht den Erfordernissen der Verkehrsentwicklung und den Gedanken der sozialen Fürsorge, daß die Bahnunternehmung für die Folgen eines aus der Art ihres Betriebes entsprungenen Schadensfalles aufzukommen hat, wenn ihr oder einem ihrer Angestellten im Betriebe ein Verschulden nachgewiesen worden ist. Von dieser Auffassung abzugehen besteht umso weniger Anlaß, als auch die reichsdeutsche Lehre und Praxis (vgl. Geigel, Haftpflichtprozeß, 7. Aufl. S. 220 f. und die dortselbst bezogene Judikatur) auf der Grundlage des RHG. unter dem Gesichtspunkt der "Erhöhung der Betriebsgefahr" zu demselben Ergebnis gelangt. Erhöhte Betriebsgefahr liegt danach unter anderem dann vor, wenn der Unfall durch ein Verschulden eines Angestellten der Eisenbahn (Straßenbahn) (mit-) verursacht ist; dies führt nach dem genannten Autor (a. a. O. S. 221) praktisch dazu, daß der Eisenbahnunternehmer für das Verschulden seiner Angestellten haftet, ohne sich nach § 831 BGB. entlasten zu können. Das Revisionsgericht billigt daher die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß die Zweitbeklagte dem Kläger mit dem Erstbeklagten für die Folgen des von diesem verschuldeten Unfalles voll hafte.

Anmerkung

Z28012

Schlagworte

Eisenbahn Haftung für Verschulden ihrer Leute, Fremdverschulden, Haftung der Eisenbahn für -, Haftpflicht der Eisenbahn bei Verschulden ihrer Leute, Leutehaftung der Eisenbahn, Straßenbahn Haftung für Verschulden ihrer Leute

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1955:0020OB00010.55.0119.000

Dokumentnummer

JJT_19550119_OGH0002_0020OB00010_5500000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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