TE OGH 1958/1/8 2Ob603/57

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Veröffentlicht am 08.01.1958
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Norm

ABGB §1151
ABGB §1325
Eisenbahn- und Kraftfahrzeug- Haftpflichtgesetz §1
Reichshaftpflichtgesetz §1

Kopf

SZ 31/4

Spruch

Das Beförderungsunternehmen ist seinen Fahrgästen gegenüber zur Ankündigung der Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof und zu der damit verbundenen Aufforderung an die Fahrgäste, vom Bahnsteigrand zurückzutreten, vertraglich verpflichtet.

Entscheidung vom 8. Jänner 1958, 2 Ob 603/57.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:

Oberlandesgericht Graz.

Text

Am 6. März 1955 benützte die damals im 19. Lebensjahr stehende Klägerin als Fahrgast die Österreichischen Bundesbahnen. Sie traf mit dem Personenzug um 11.20 Uhr in B. ein, mußte dort aussteigen und wollte mit dem fahrplanmäßig um 11.35 Uhr aus der Richtung W. in B. ankommenden D-Zug in Richtung K. weiterfahren. Während sich die Klägerin mit einigen Begleitern in unmittelbarer Nähe des ersten Gleises bei einem Gepäckskarren aufhielt, fuhr der D-Zug auf diesem Gleis ein. Von einer offenstehenden Türe eines Waggons dieses Zuges erhielt die Klägerin einen Schlag gegen das Hinterhaupt, stürzte und geriet hiebei unter den Zug, wobei ihr der rechte Unterschenkel abgetrennt wurde. Das gegen den damaligen Zugschaffner Maximilian R. wegen unvorsichtigen Öffnens der Waggontüre eingeleitete Strafverfahren endete mit rechtskräftigem Freispruch nach § 259 Z. 3 StPO.

Mit ihrer Klage macht die Klägerin durch ihren ehelichen Vater Schadenersatzansprüche gegen die Republik Österreich (Österreichische Bundesbahnen) wegen des bezeichneten Unfalles geltend und bringt dazu vor, daß der Unfall einerseits auf die am Bahnhof B. völlig unzulänglichen Sicherheitsvorkehrungen überhaupt und andererseits auf ein Verschulden der für die Warnung der Reisenden, für die Zugsansage und für die Wartung des Bahnsteiges verantwortlichen Bahnorgane zurückzuführen sei.

Das Erstgericht schränkte das Verfahren auf den Grund des Anspruches ein und entschied mit Zwischenurteil, daß das Klagebegehren gegenüber der beklagten Partei dem Gründe nach mit 50% zu Recht und mit 50% nicht zu Recht bestehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das angefochtene Zwischenurteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zu neuer Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die Berufung der beklagten Partei würde auf diese Entscheidung verwiesen.

Der Oberste Gerichtshof gab weder dem Rekurs der klagenden Partei noch dem Rekurs der beklagten Partei Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

I: Zum Rekurs der beklagten Partei, der wegen der Ablehnung jedweden Verschuldens der Bahnorgane und wegen der Geltendmachung des Alleinverschuldens der Klägerin zunächst zu erörtern ist:

Dieser Rekurs der beklagten Partei ist in keiner Weise begrundet.

Das Berufungsgericht hat die Feststellung der ersten Instanz, die Ansage der Einfahrt des D-Zuges W.-V. sei nicht der Vorschrift entsprechend zirka drei Minuten vor Ankunft dieses Zuges, sondern erst zu einem Zeitpunkt erfolgt, ab dem den Reisenden nur 12 bis 15 Sekunden verblieben seien, um noch Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, als unbedenklich übernommen. Die Rechtsrüge ist daher insoweit unbeachtlich, als sie von diesen tatsächlichen Grundlagen abweicht. Im übrigen aber ist zu bemerken, daß die Rekurswerberin ihre Verpflichtung gegenüber der Klägerin aus dem Beförderungsvertrage in zu engen Grenzen als gegeben annimmt. Die Eisenbahn hat nämlich nicht nur für die Beförderung ihrer Fahrgäste an den Bestimmungsort an sich zu sorgen, sie hat vielmehr die unfallsfreie und ohne Körperschaden der Reisenden vorzunehmende Beförderung zu prästieren. Dazu gehört aber auch die Sorge für die gefahrfreie Benützung der Bahneinrichtungen seitens der Passagiere in einem Umsteigbahnhof, vorliegendenfalls in B., woselbst die Klägerin auf ihrer Reise von G. nach H. den Zug wechseln mußte. Mit Rücksicht auf die engen und unübersichtlichen Verkehrsverhältnisse im Bahnhof B. stellt sich die rechtzeitige Zugsansage, vorliegendenfalls die Ankündigung der Einfahrt des D-Zuges in den Bahnhof und die damit verbundene Aufforderung an die Fahrgäste, vom Bahnsteigrand zurückzutreten, keineswegs als bloßes Entgegenkommen der Eisenbahn, wie die Rekurswerberin vermeint, sondern als eine vertragliche Nebenverpflichtung des Beförderungsunternehmens gegenüber seinen Fahrgästen dar. Nichts anderes aber bedeutet auch die persönliche Warnung der auf dem Bahnsteig befindlichen Reisenden durch das Bahnhofspersonal. Die Eisenbahn muß eben mit Passagieren rechnen, denen - wie der Klägerin - die Ortskenntnis mangelt. Es entspricht aber auch der vertraglichen Verpflichtung der Eisenbahn gegenüber ihren Fahrgästen, den Bahnsteig in einem Zustand zu erhalten, der es ihnen ermöglicht, die für sie bestimmten Teile des Perrons gefahrlos zu benützen. Die Beurteilung der Vorinstanzen in diesen Richtungen ist frei von Rechtsirrtum. Keines der von der Rekurswerberin dagegen vorgebrachten Argumente greift durch. Dem automatischen Glockenzeichen, das vor der Einfahrt des Zuges ertönt, kann in bezug auf einen ortsfremden Passagier, wie die Klägerin, mangels Kenntnis seiner Bedeutung kein Gewicht beigemessen werden. Nach den zutreffenden Darlegungen der Untergerichte ist es für das Eisenbahnpersonal bestimmt, das seinerseits nach der Vernehmung des Glockenzeichens seine Vorkehrungen treffen und insbesondere die Reisenden vor der mit der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof verbundenen Gefahr warnen soll. Nach den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen kann auch nicht die Rede davon sein, daß die zur kritischen Zeit gegebene Schneeglätte des Bahnsteigrandes mit dem Unfall der Klägerin in keinem Kausalzusammenhang gestanden wäre. Schon der Umstand, daß die Klägerin und ihre Begleitung es wegen dieser Schneeglätte nicht wagten, vor dem Herankommen des Zuges ihren Standort zu verlassen, ergibt die von den Untergerichten angenommene Kausalität der Unterlassung der Bestreuung der glatten Stellen des Bahnsteiges für den Verkehrsunfall der Klägerin.

Bei diesem Umständen haben die Vorinstanzen die Haftung der beklagten Partei aus dem Beförderungsvertrag für die aus dem Unfall vom 6. März 1955 von der Klägerin im Rahmen der §§ 1325 f. ABGB. (vgl. § 9 RHG.) abgeleiteten Ansprüche - vorbehaltlich der Schadensaufteilung nach § 1304 ABGB. - zutreffend dem Gründe nach bejaht. Die Beklagte haftet ja der Klägerin als ihrer Vertragspartnerin gemäß § 1313a ABGB. für das Verschulden ihrer Organe als Erfüllungsgehilfen.

Die Entscheidung hängt also nur noch von der Beantwortung der Frage nach dem mitwirkenden Verschulden der geschädigten Klägerin und nach der daraus resultierenden Anspruchsminderung im Sinne des § 1304 ABGB. ab, mit anderen Worten, es ist noch fraglich, ob die Klägerin ein eigenes Verschulden trifft und in welchem Verhältnis zur Haftung der beklagten Partei das etwaige Mitverschulden der Klägerin an ihrem Unfall zu werten ist. In dieser Beziehung ist aber die Sache nicht spruchreif, wie das Berufungsgericht als letzte Tatsacheninstanz dargelegt hat. Zum Vorbringen der Rekurswerberin über das von ihr behauptete Selbstverschulden der Klägerin kann daher nur grundsätzlich Stellung genommen werden, weil die abschließende Beurteilung endgültige Tatsachenfeststellungen voraussetzt und derartige Feststellungen erst getroffen werden müssen. Soweit aber zu diesen Fragen schon derzeit Stellung genommen werden kann, ist zu bemerken, daß allerdings von einem Eisenbahnreisenden die Einhaltung der Verkehrsvorschriften und überhaupt die der jeweiligen Verkehrssituation entsprechende Aufmerksamkeit zu fordern ist. In der Einnahme des von der Klägerin bezogenem Standortes an sich kann aber noch nicht eine als Verschulden der später Verletzten zu wertende Unaufmerksamkeit erblickt werden. Es kann och von einem Passagier im allgemeinen angenommen werden, daß er während des Aufenthaltes auf dem für die Reisenden bestimmten Bahnsteig keinen besonderen Gefahren ausgesetzt sei. Bestimmte Teile des Perrons nicht zu benützen, wird von einem ortsfremden Reisenden nur dann erwartet werden dürfen, wenn er durch die Organe der Eisenbahn oder sonstige Hinweise vor einer Gefahr besonders gewarnt worden ist. Diese Umstände sollen eben durch die dem Erstgericht seitens der Vorinstanz aufgetragene Ergänzung der Sachverhaltsfeststellung geklärt werden, wie oben ausgeführt wurde. Im übrigen wird zur Frage des Selbstverschuldens der Klägerin wegen des Zusammenhanges auf die folgenden Ausführungen zum Rekurs der Klägerin verwiesen.

II. Zum Rekurs der klagenden Partei:

Diese Rekurswerberin bekämpft die Begründung des zweitinstanzlichen Beschlusses, weil die Vorinstanz ausgeführt habe, daß es der Klägerin als Unachtsamkeit, wenn auch nach den gegebenen Umständen als leichtes Verschulden, zur Last zu legen sei, daß sie mit dem Körper gegen den Zug zu eine Wendung gemacht und sich dadurch dem Zug ohne Notwendigkeit auf eine Entfernung von weniger als 1/2 m genähert habe. Die Rekurswerberin rügt diesen Passus der Beschlußbegründung zunächst als "teilweise aktenwidrig", dies jedoch zu Unrecht, weil nicht ersichtlich ist, daß das Berufungsgericht dabei von einem anderen Sachverhalt ausgegangen wäre, als es den Feststellungen der ersten Instanz entsprach. Der Ausdruck "Körperwendung gegen den Zug zu" umfaßt nämlich im weiteren Sinne auch die Drehung des Körpers um zirka 90 Grad nach rechts, so daß infolge dieser Wendung die Blickrichtung der Klägerin dieselbe wie die Einfahrtsrichtung des Zuges (Richtung L.) war. Der Rekurswerberin ist aber beizupflichten, wenn sie ausführt, daß in dieser Körperwendung ein Verschulden der Klägerin nicht anzunehmen sei. Es handelte sich dabei doch um eine in der Überraschung ausgeführte, rein instinktive Reaktionshandlung, hervorgerufen dadurch, daß beim Vorüberfahren des Zuges an der Klägerin Dampf aus der Lokomotive ausströmte und daß der Fahrtwind Schnee und Eisstäubchen gegen den Perron trieb. Dieser Körperwendung der Klägerin im letzten Moment kommt für die Beurteilung der Schuldfrage nur im Zusammenhang mit der noch offenen Frage, wieso die Klägerin an dieser Bahnsteigstelle geblieben oder ob sie etwa dorthin trotz Warnung des Bahnhofspersonals zurückgekehrt sei, Bedeutung zu, keineswegs aber selbständiges Gewicht. Der Sachverhalt wäre bezüglich dieser letzten Phase der Ereignisse anders zu beurteilen, wenn die Klägerin vor der bezeichneten Körperwendung erkannt hätte, daß eine Waggontüre des in den Bahnhof einfahrenden Zuges offen stehe. Dies war jedoch nach den maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen nicht der Fall. Auch bei der von der Klägerin vorgenommenen Körperwendung wäre der Zug ohne Unfall vorbeigekommen, wenn nicht die Waggontüre geöffnet gewesen wäre. Diesem Vorbringen der Rekurswerberin zu dem bezeichneten Punkt der Beschlußbegründung kommt also Berechtigung zu.

Zu einer Abänderung des Spruches der Vorinstanz führt diese zutreffende Anfechtung der Beschlußbegründung nicht, so daß auch dem Rekurs der Klägerin spruchgemäß nicht Folge zu geben war, weil es bei der - von der Klägerin nicht bekämpften - Aufhebung des Ersturteils seitens des Berufungsgerichtes zu verbleiben hat.

Anmerkung

Z31004

Schlagworte

Ankündigung eines einfahrenden Zuges, Haftung der Eisenbahn, Beförderungsunternehmen, Warnung der Fahrgäste vor einem einfahrenden, Zug, Einfahrender Zug, Warnung der Fahrgäste, Eisenbahn Warnung der Fahrgäste vor einem einfahrenden Zug, Haftung der Eisenbahn, Warnung der Fahrgäste vor einem einfahrenden Zug, Nebenverpflichtung, vertragliche, Warnung der Reisenden vor einem, einfahrenden Eisenbahnzug, Warnung der Fahrgäste vor einem einfahrenden Eisenbahnzug

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1958:0020OB00603.57.0108.000

Dokumentnummer

JJT_19580108_OGH0002_0020OB00603_5700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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