Kopf
SZ 34/104
Spruch
Die Furcht vor der angedrohten Verletzung jedes materiellen oder ideellen Interesses kann eine gegrundete sein.
Entscheidung vom 26. Juli 1961, 1 Ob 329/61.
I. Instanz: Bezirksgericht Hietzing; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.
Text
Die Klägerin hat den Beklagten - die Ehe der Streitteile ist noch aufrecht - zu 4 C 129/60 des Bezirksgerichtes Hietzing auf Leistung von Unterhalt geklagt, weil ihr der vom Beklagten gezahlte monatliche Unteraltsbetrag von 400 S zu gering erschien. Am 3. April 1960 unterfertigte sie auf Verlangen des Beklagten eine Erklärung, wonach sie diese Klage unter Anspruchsverzicht zurückziehe. Mit der vorliegenden, am 6. April 1960 eingebrachten Klage begehrte die Klägerin zunächst die Verurteilung des Beklagten zu einer Unterhaltsleistung von 33.33% seines jeweiligen Nettoeinkommens, änderte das Klagebegehren aber in der Folge auf Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von 830 S mit der Behauptung, sie sei zur Zeit der Unterfertigung der Erklärung über die Rückziehung der Klage 4 C 129/60 des Bezirksgerichtes Hietzing verpflichtungsunfähig gewesen und habe diese Erklärung nur durch Furcht bewogen unterschrieben.
Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Klägerin habe sich zur Zeit der Unterfertigung der Rückziehungserklärung vom 3. April 1960 nicht in einem Zustand der Handlungsunfähigkeit befunden. Wenn die Klägerin auch erregt gewesen sei, so sei ihr doch die Bedeutung ihrer Erklärung bewußt gewesen. Der Beklagte habe sich zwar geäußert, daß er sich erschießen werde, wenn die Klägerin die Klage nicht zurücknehme, doch sei die Klägerin dadurch nicht in ungerechte und gegrundete Furcht versetzt worden. Die Ankündigung, überhaupt keinen Unterhalt mehr leisten zu wollen, stelle keine solche Drohung dar, da sie im Hinblick auf die Möglichkeit der Eintreibung berechtigter Unterhaltsansprüche nicht zur Erregung gegrundeter Furcht geeignet gewesen sei. Auch die Drohung, sich selbst zu erschießen, sofern eine solche in diesem Falle ernst genommen werden könnte, sei keine Drohung mit einem der Klägerin zuzufügenden Übel und habe sie daher nicht in Furcht versetzen können. Die gegen dieses Urteil von der Klägerin eingebrachte Berufung hatte Erfolg. Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück, setzte dem Aufhebungsbeschluß jedoch einen Rechtskraftvorbehalt bei. Das Berufungsgericht wiederholte das Beweisverfahren teilweise und stellte ergänzend fest: Bevor die Klägerin die Klage 4 C 129/60 des Bezirksgerichtes Hietzing einbrachte, versprach ihr der Beklagte, 400 S monatlich an Unterhalt zu zahlen, womit die Klägerin jedoch nicht einverstanden war. Der Beklagte blieb dabei, daß er nicht mehr zahlen könne. Als er den Betrag von 400 S auch nur schleppend zahlte, entschloß sich die Klägerin im März 1960 zur Einbringung der ersten Unterhaltsklage. Bei einer Besprechung einige Tage vor der für Mitte April 1960 ausgeschriebenen Verhandlung sagte der Beklagte zur Klägerin mit der Aufforderung, die Verzichtserklärung zu unterschreiben: "Wenn du nicht unterschreibst, dann werde ich mich erschießen, und du bekommst überhaupt keine Alimente." Die Klägerin unterschrieb aus Angst, überdies weil sie sich bedroht fühlte, weil der Beklagte sie drohend anschaute und ihr schon einmal in den Jahren 1957 oder 1958 eine Ohrfeige versetzt hatte. Die Klägerin fürchtete sich auch, wieder nach der Heilanstalt Am Steinhof zurückgebracht zu werden, wo sie schon zweimal interniert gewesen war. Als die Klägerin dann zu ihrer Mutter zurückkehrte, zitterte sie am ganzen Körper und war so aufgeregt, daß ihr ein Arzt eine Injektion zur Beruhigung geben mußte. Nach Ansicht des Berufungsgerichtes sei die Verzichtserklärung der Klägerin vom 3 April 1960 wegen Zwanges unwirksam. Da auch eine Unterhaltsvereinbarung nicht vorliege, habe die Klägerin Anspruch auf den anständigen Unterhalt, der aber mangels Feststellung des Einkommens des Beklagten durch das Erstgericht vom Berufungsgericht nicht ausgemessen werden könne. Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
§ 870 ABGB. beschränkt den Tatbestand der gegrundeten Furcht nicht auf die Bedrohung inhaltlich bestimmter Rechtsgüter. Vielmehr kann die Furcht vor der angedrohten Verletzung jedes materiellen oder ideellen Interesses im einzelnen Fall eine gegrundete sein, also nicht nur die Furcht vor der Verletzung des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit, der Ehre, des Vermögens, sondern auch unter Umständen die Furcht vor einer Beeinträchtigung des geschäftlichen oder gesellschaftlichen Ansehens oder vor einer Störung der Seelenruhe (vgl. hiezu Gschnitzer in Klang 2. Aufl. IV 108).
Im gegebenen Fall darf auch die Tatsache nicht übersehen werden, daß die Klägerin mit Recht eine Beeinträchtigung materieller Ansprüche durch den Tod des Beklagten befürchten mußte. Ob die Klägerin im Falle des Todes des Beklagten allenfalls Anspruch auf eine Rente nach dem ASVG. oder nach der Pensionsversicherung dar Selbständigen hätte, kann dahingestellt bleiben, weil nach den Erfahrungen des täglichen Lebens die Witwenpensionen in der Regel hinter den Unterhaltsansprüchen nach § 91 ABGB. zurückbleiben, ebenso wie die Pensionsansprüche in der Regel geringer sind als das Einkommen, das ein Angestellter oder Selbständiger vor Bezug der Alters- oder sonstigen Rente hatte. Die Klägerin konnte daher wohl mit Recht mit einer Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Lage rechnen, falls der Beklagte seine Drohung, sich zu erschießen, wahr machen sollte. Insofern war die Drohung also gegen die Klägerin gerichtet und sollte sich auch gegen die Klägerin richten, äußerte sich doch der Beklagte, sie werde überhaupt keine Alimente bekommen, wenn er sich erschieße. Insofern handelt es sich demnach auch um eine ungerechte und gegrundete Furcht der Klägerin, die nach § 870 ABGB. den Unterhaltsverzicht der Klägerin vom 3. April 1960 rechtsunwirksam macht. Liegt aber weder ein rechtswirksamer Unterhaltsverzicht noch eine rechtswirksame Unterhaltsvereinbarung vor, so muß das Einkommen des Beklagten festgestellt werden, um den der Klägerin nach § 91 ABGB. gebührenden anständigen Unterhalt ausmessen zu können.
Anmerkung
Z34104 1Ob329.61Schlagworte
Drohung, Verletzung materieller oder ideeller Interessen, Furcht, gegrundete - im Sinne des § 870 ABGB., Gegrundete Furcht im Sinne des § 870 ABGB.European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1961:0010OB00329.61.0726.000Dokumentnummer
JJT_19610726_OGH0002_0010OB00329_6100000_000