TE OGH 1974/11/28 6Ob228/74

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Veröffentlicht am 28.11.1974
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Norm

ABGB §139

Kopf

SZ 47/137

Spruch

Den Eltern steht das Recht auf Erziehung ihres Kindes primär zu; ihr Verlangen nach Rückkehr ihres vor Jahren aus zwingenden Gründen freiwillig in einem Heim untergebrachten Kindes in ihre Hausgemeinschaft kann nur verweigert werden, wenn darin ein Mißbrauch des Erziehungsrechtes läge

OGH 28. November 1974, 6 Ob 228/74 (KG Korneuburg 5 R 235/74; BG Mistelbach P 59/74)

Text

Die Kinder Andrea, Christine und Helmut D wurden über Wunsch ihrer Eltern Anfang 1965 im SOS-Kinderdorf S untergebracht. Der Vater litt damals an Lungentuberkulose die Mutter arbeitete als Hilfskraft im Krankenhaus M. Die Eltern konnten ihre Kinder daher nicht bei sich haben. Am 16. September 1966 schlossen die Eltern der Kinder die Ehe. Im Hinblick auf die Ruckführung der Kinder haben die Eltern eine Eigentumswohnung erworben, welche räumlich für die Aufnahme der Kinder geeignet ist. Die Mutter ist nach wie vor im Krankenhaus M beschaftigt. Der Haushalt wird vom Vater geführt. Der Vater ist nicht voll arbeitsfähig und geht einer Nebenbeschäftigung nach. Für den Lebensunterhalt der Familie sorgt überwiegend die Mutter der Kinder.

Am 27. Juni 1974 ersuchten die Eltern beim Jugendamt der Bezirkshauptmannschaft M ihnen ihre drei Kinder nach den Sommerferien bzw. der Ruckkehr von einem Erholungsurlaub in Italien zu übergeben.

Das Jugendamt hatte Bedenken gegen die sofortige Rückgabe der Kinder an die Eltern und stellte am 7. August 1974 beim Pflegschaftsgericht den Antrag gemäß § 26 JWG gerichtliche Erziehungshilfe anzuordnen, den "vorläufigen Weiterverbleib" der Kinder im SOS-Kinderdorf S pflegschaftsbehördlich zu genehmigen und ein Sachverständigengutachten darüber einzuholen, wann der günstigste Zeitpunkt für eine Übergabe der Kinder an die Eltern gegeben sei und wie diese Rückgabe am besten vorbereitet werden könne. Das Jugendamt begrundete diesen Antrag im wesentlichen damit, mit der Schaffung eines entsprechenden Eigenheimes könne das Problem der Rückführung der Kinder nicht gelöst werden. Es seien Schwierigkeiten bei der Erziehung zu befürchten, da die Mutter zufolge ihrer Berufstätigkeit sich um die Pflege und Erziehung der Kinder nur im beschränkten Maße kümmern könne. Der Vater sei wegen seiner früheren schweren Erkrankung an Lungentuberkulose nicht voll arbeitsfähig, mute sich aber zu, der Erziehung von drei Kindern gerecht zu werden. Die unvermittelte Rückführung der Kinder, welche seit ihrer frühen Kindheit im Kinderdorf ihre Geborgenheit gefunden hätten, würde für sie einen seelischen Schock bedeuten. Nur eine allmähliche Überführung in die elterliche Umgebung sei dem Wohle der Kinder zuträglich. Auch die Leitung des Kinderdorfes sei der Ansicht daß die sofortige Rückgabe der Kinder an die Eltern unter den gegebenen Umständen nicht im Interesse der Kinder liege, ständig mit den Kindern in persönlicher und brieflicher Verbindung gewesen zu sein. Dem Leiter des Kinderdorfes sei schon seit Jahren bekannt gewesen, daß die Eltern die Kinder wieder zu sich nehmen würden. Es sei ihnen bedeutet worden, dies im Interesse der Kinder entsprechend vorzubereiten. Bei einem Besuch der Kinder mit der Kinderdorfmutter in M hätten die Eltern den Kindern erzählt, daß sie bisher wegen der ansteckenden Krankheit des Vaters im Kinderdorf untergebracht gewesen seien und in der nächsten Zeit wieder zu den Eltern zurückkehren würden. Die Kinder seien hierüber erfreut gewesen nicht aber die Kinderdorfmutter. Seit dieser Zeit bemühten sich die Eltern vergeblich, die Herausgabe der Kinder zu erreichen.

Das Erstgericht wies ohne weitere Erhebungen den Antrag des Jugendamtes, über die Minderjährigen gemäß § 26 JWG die gerichtliche Erziehungshilfe anzuordnen und den vorläufigen Weiterverbleib der Kinder im SOS-Kinderdorf S pflegschaftsbehördlich zu genehmigen, ab und ermächtigte den Vater, die Kinder aus dem Kinderdorf abzuholen. Es führte aus, da nicht behauptet worden sei, daß es den Minderjährigen an der nötigen Erziehung fehle, sei die wesentliche Voraussetzung für die Erziehungshilfe nach § 9 JWG nicht gegeben. Es sei durchaus möglich, daß durch den fast neunjährigen Aufenthalt im Kinderdorf eine starke Bindung der Kinder zur Kinderdorfmutter entstanden sei. Es sei jedoch nicht aktenmäßig bewiesen, daß die Kinder durch den Milieuwechsel "den berühmten Schock" erleiden müßten. Es bestunden weder zwischen den Eltern noch zwischen Eltern und Kindern Differenzen. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens, um den günstigsten Zeitpunkt für die Rückgabe der Kinder "psychologisch zu erfassen", sei nicht erforderlich.

Das Rekursgericht hob über Rekurs des Jugendamtes den Beschluß des Erstgerichtes mit dem Auftrag zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es führte aus, die Frage der völligen Gesundung des Vaters sei vom Erstgericht überhaupt nicht erörtert worden. Es müsse geprüft werden, ob der Vater nicht doch noch als "Bazillenstreuer" anzusehen oder ob zu befürchten sei, daß die Tuberkulose demnächst wieder offen werde. Erst wenn ein Gutachten eines Sachverständigen ergeben sollte, daß für die Kinder jede gesundheitliche Gefahr einer Ansteckung ausgeschlossen werden könne, werde man auf die übrigen Argumente und Gegenargumente psychischer Natur eingehen können. Es werde dann insbesondere vom Sachverständigen Professor Dr. A dazu Stellung zu nehmen sein, wie eine allmähliche Überführung der Kinder in die elterliche Pflege und Erziehung durchzuführen wäre, wobei der Umstand, daß die Erziehung nach den gegebenen Umständen überwiegend vom Vater erfolgen werde, besonders berücksichtigt werden müsse. Erforderlichenfalls werde die Eignung des Vaters auf Grund seiner psychischen Gegebenheiten zu untersuchen sein.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Revisionsrekurs der Eltern gegen den Aufhebungsbeschluß des Rekursgerichtes, den er für zulässig erachtete (JBl. 1973, 97; EvBl. 1973/292 u. v. a.), nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Die Revisionsrekurswerber behaupten, die gesetzlichen Voraussetzungen zur Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe nach § 26 JWG seien nicht gegeben. Es sei ihre Privatangelegenheit, ob sie die Kinder überwiegend durch die Mutter, den Vater oder vielleicht durch eine dritte Person in der Familiengemeinschaft pflegen und erziehen ließen.

Auszugehen ist davon, daß den Eltern das Recht auf Erziehung ihrer Kinder primär zusteht (§ 139 ABGB; 6 Ob 180/60). Die Entscheidung des vorliegenden Falles, in dem beide Eltern die Rückkehr der von ihnen - allerdings vor mehreren Jahren - aus zwingenden Gründen freiwillig in einem Heim untergebrachten - Kinder in ihre Hausgemeinschaft verlangen, kann daher nicht, wie das Rekursgericht offenbar gemeint hat, sowie bei einer Entscheidung nach § 142 ABGB ausschließlich auf das Wohl der Kinder abgestellt werden.

Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten kann Erziehungshilfe nur dann angeordnet werden, wenn sie deshalb geboten ist, weil die Erziehungsberechtigten ihre Erziehungsgewalt mißbrauchen oder die damit verbundenen Pflichten nicht erfüllen (§ 26 Abs. 1 JWG). Wie der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist also Voraussetzung für die Gewährung der Erziehungshilfe das Vorliegen eines Erziehungsnotstandes. Ein solcher setzt voraus, daß seitens der Eltern für das Kind überhaupt nicht gesorgt wird oder die Fürsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes oder der Allgemeinheit gefährdet wird (vgl. hiezu 140 der Beilagen, VII. GP, 16, 17; RZ 1961, 87; EvBl. 1969, 208; 8 Ob 146/72 u. a.). Dieser Fall liegt hier deshalb nicht vor, weil die Eltern bisher noch keine Gelegenheit hatten, die Erziehung ihrer Kinder selbst zu übernehmen.

Eine Nichterfüllung der mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten ist auch dann anzunehmen, wenn der Erziehungsberechtigte nicht dazu geeignet oder nicht imstande ist, dem Kind die erforderlich scheinende Hilfe zu gewähren. Ob dies der Fall ist, kann nur nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden (8 Ob 146/72). Die derzeitige Aktenlage bildet noch keine geeignete Grundlage, um feststellen zu können, ob ein solcher Erziehungsnotstand vorliegt.

Mit Recht hat das Rekursgericht darauf verwiesen, daß die Frage der vollen Gesundung des Vaters vom Erstgericht überhaupt nicht erörtert wurde. Auch die nach der Rekursentscheidung vorgelegte Bestätigung des Gesundheitsamtes der Bezirkshauptmannschaft M, daß der Vater derzeit keine Ansteckungsgefahr für seine Umgebung darstelle, reicht zur Beurteilung dieser Frage nicht aus. Das Rekursgericht hat daher dem Erstgericht mit Recht den Auftrag erteilt, ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Lungenheilkunde einzuholen, der sich auch darüber zu äußern haben wird, ob der Gesundheitszustand des Vaters ein derartiger ist, daß nicht gefürchtet werden muß, seine Tuberkulose werde möglicherweise in absehbarer Zeit wieder offen werden. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, würde dies noch nicht in jedem Fall die Anordnung der Erziehungshilfe rechtfertigen. Es müßte dann geprüft werden, ob einerseits die den Eltern zur Verfügung stehende Wohngelegenheit eine ausreichend getrennte Unterbringung der Kinder ermöglichen und ob der Vater seinem Wesen nach imstande und gewillt sein würde, ihm etwa zum Schutz der Kinder erteilten Weisungen der Bezirksverwaltungsbehörde nachzukommen (siehe die Bestimmungen des TuberkuloseG, BGBl. 127/1968). Nur wenn dies nicht der Fall sein sollte, könnte im Begehren der Eltern, die Kinder in die Hausgemeinschaft aufzunehmen, ein Mißbrauch des Erziehungsrechtes erblickt werden.

Darüber hinaus wird vom Erstgericht zu prüfen sein, ob die Eltern etwa aus anderen Gründen ungeeignet sind, die Kinder zu erziehen. Nur dann, wenn sich herausstellen sollte, daß aus schwerwiegenden Gründen ihre Erziehungseignung verneint werden müßte, könnte das primäre Erziehungsrecht ausgeschaltet und eine Erziehungshilfe (etwa durch Unterbringung in einem Heim) angeordnet werden. Schwierigkeiten, die sich aus der Rückkehr der Kinder zu den Eltern in psychischer Hinsicht ergeben könnten, können daher nicht berücksichtigt werden (8 Ob 180/64), es sei denn, daß sich daraus eine konkrete ernste Gefahr für die Entwicklung der Kinder und nicht eine bloß vorübergehende Beeinträchtigung derselben ergeben würde. Der Umstand, daß die Mutter ganztägig berufstätig ist, rechtfertigt jedenfalls die Annahme nicht, daß sie zur Erziehung der Kinder ungeeignet wäre und diese nur dem Vater obliegen würde. Dies wäre nur dann der Fall, wenn etwa der Vater nach seiner Persönlichkeit die Mutter völlig in den Hintergrund drängen sollte und sie deshalb auf die Erziehung der Kinder keinen Einfluß nehmen könnte. Es wird daher zweckmäßig sein, daß das Erstgericht zunächst sowohl den Vater als auch die Mutter ausführlich zu der Frage vernimmt, wie sie sich die Erziehung der Kinder vorstellen, um daraus ein Bild von der Persönlichkeit der Eltern und ihrer Erziehungseignung zu gewinnen. Ob dann noch weitere Erhebungen erforderlich sein werden, muß dem Erstgericht überlassen bleiben.

Anmerkung

Z47137

Schlagworte

Eltern, Verweigerung der Rückkehr des Kindes aus einem Heim nur, wenn, in diesem Verlangen ein Mißbrauch des Erziehungsrechtes läge, Erziehung, Recht auf - ihres Kindes steht Eltern primär zu, Kind, Eltern steht das Recht auf Erziehung ihres - primär zu

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1974:0060OB00228.74.1128.000

Dokumentnummer

JJT_19741128_OGH0002_0060OB00228_7400000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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