TE OGH 1979/9/13 8Ob106/79

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Veröffentlicht am 13.09.1979
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Norm

ABGB §22
ABGB §1295
ABGB §1325
ZPO §503 Z4

Kopf

SZ 52/136

Spruch

Der Schaden aus einer Körperverletzung ist auch dann zu ersetzen, wenn ein Ungeborener durch ein schädigendes Ereignis, das nach der Zeugung gesetzt wird, beeinträchtigt und dadurch mit Mißbildungen etc. geboren wird. Zur Begründung eines derartigen Ersatzanspruches genügt der Nachweis der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges; die Frage, ob ein solcher Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht ist, gehört dem Gebiet der Beweiswürdigung an

OGH 13. September 1979, 8 Ob 106/79 (OLG Wien 18 R 2/79; KG Wiener Neustadt 2 Cg 2157/75)

Text

Am 13. November 1972 kam es in Wiener Neustadt zu einem Zusammenstoß zwischen dem vom Erstbeklagten gelenkten LKW und dem von J G gelenkten PKW. Dabei wurde S K, die mit dem minderjährigen Kläger schwanger war, als Insassin des von J G gelenkten PKW schwer verletzt. Die Zweitbeklagte ist Haftpflichtversicherer des vom Erstbeklagten gelenkten LKW.

Der Kläger begehrt mit seiner am 1. April 1976 eingebrachten Klage den Ersatz der Behandlungskosten von 1200 S sowie Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden, die daraus entstehen, daß der Kläger als Leibesfrucht seiner Mutter dem vom Erstbeklagten verschuldeten Unfall zum Opfer gefallen sei, hinsichtlich der Zweitbeklagten mit der Beschränkung auf den Haftpflichtversicherungsvertrag. Er macht geltend, durch den Unfall habe seine Mutter mehrere schwere Verletzungen erlitten. Sie sei nach dem Unfall mehrere Stunden bewußtlos gewesen; ihre Bauchhöhle habe operativ geöffnet werden müssen, und schließlich sei die Entbindung des Klägers am 10. Jänner 1973 mit Kaiserschnitt erforderlich gewesen. Wegen der Störung der Sauerstoffversorgung des fötalen Gehirns des Klägers im Zusammenhang mit der Bewußtlosigkeit der Mutter sei bei ihm eine massive Gehirnschädigung eingetreten, die in Zukunft sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht große Schwierigkeiten mit sich bringen werde.

Der Kläger werde dauernder Behandlung bedürfen. Er werde seelische Qualen zu erdulden haben und auch körperlich hinter den anderen Kindern zurückbleiben. Er werde entweder keinen Beruf oder einen nur geringer leistungs- und einkommensorientierten Beruf ergreifen können. Zur Vermeidung späterer Verjährungseinreden müsse daher das gerichtliche Feststellungsurteil erwirkt werden.

Die Beklagten machten geltend, die Mutter des Klägers sei nicht bewußtlos geworden. Deren Operation sei komplikationslos verlaufen. Die Narkose habe keine Auswirkungen auf das Kind gehabt. Kaiserschnitt und Wochenbett seien ebenfalls ohne Komplikationen geblieben. Der Kläger habe keine unfallskausalen Verletzungen davongetragen. Die vom Kläger behaupteten Schäden könnten auch erst nach der Geburt entstanden oder ererbter Natur sein.

Das Erstgericht gab der Klage statt.

Es ging im wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Der Mutter des Klägers war vom behandelnden Frauenarzt als Geburtstermin des Klägers der 21. Jänner 1973 errechnet worden. Die Schwangerschaft verlief nicht komplikationslos. Am 27. Oktober 1972 wurde erstmals ein grenzwertiger systolischer und ein pathologischer diastolischer Blutdruck der Mutter festgestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt dauerte die Schwangerschaft 28 Wochen. Am 9. Jänner 1973, dem Aufnahmetag in die geburtshilfliche Abteilung des Krankenhauses Wiener Neustadt, somit in der 39. Woche der Amenorrhoe, betrug der Blutdruck 145/110. Diese für eine Schwangere weit überhöhten Blutdruckwerte waren Symptome einer bei der Mutter des Kindes bestehenden mittelschweren EPH - Gestose, eines pathologischen Schwangerschaftsverlaufes, der zu einer chronischen Plazentainsuffizienz führte, wodurch die Sauerstoffversorgung des ungeborenen Klägers beeinträchtigt wurde. Bei dem Unfall vom 13. November 1972, der sich um 7.15 Uhr ereignete, erlitt die Mutter des Klägers eine Gehirnerschütterung, eine Prellung des Brustkorbes und des Bauches, sowie des rechten Knies, eine Rißquetschwunde am rechten Handrücken, einen Bruch der linken Speiche im Handgelenksbereich, einen Verrenkungsbruch des rechten Kreuzdarmbeingelenkes und Brüche des rechten Sitz- und Schambeines. Durch den Unfall stand sie auch unter Schockeinwirkung. Sie wurde von der Rettung um 7.45 Uhr in die Unfallsabteilung des Allgemeinen Öffentlichen Krankenhauses Wiener Neustadt eingeliefert. Es wurde eine Schockbehandlung eingeleitet, nach der eine gewisse Besserung im Zustand der Mutter des Klägers eintrat. In der Folge kam es jedoch zu einer weiteren Verschlechterung, vor allem des Kreislaufzustandes, so daß sich die behandelnden Ärzte um 11 Uhr zu einer probeweisen Öffnung der Bauchhöhle entschlossen, weil sie eine Bauchhöhlenblutung vermuteten; diese Vermutung bestätigte sich jedoch in der Folge nicht. Die Operation dauerte 50 Minuten. Die Mutter des Klägers stand von 11.40 Uhr bis 12.35 Uhr unter Narkose. Ab der Einlieferung durch die Rettung und der Umlagerung von der Tragbahre bis nach der Operation befand sich die Mutter des Klägers in Rückenlage. Als Folge dieser Rückenlage kam es bei ihr zu einem sogenannten Vena-cava-caudalis-Syndrom. Dies bedeutet, daß infolge des Druckes des erschlafften Uterus in der Rückenlage auf das Einströmungsgebiet der Vena cava caudalis, welches ein wesentliches Zustromgebiet für die rechte Herzhälfte darstellt, das Herz zu wenig Blut bekam und ein Blutdruckabfall eintrat. Dieser bewirkte seinerseits eine Sauerstoff Unterversorgung der Plazenta und des ungeborenen Kindes. Am 1. September 1973 wurde die Mutter des Klägers in die gynäkologische Abteilung des Krankenhauses Wiener Neustadt wegen der bevorstehenden Geburt überstellt. Infolge der schweren Beckenverletzung war die Vornahme einer Kaiserschnittentbindung vorgesehen. Einen Tag vor dem geplanten Geburtstermin erlitt sie einen Blutsturz, der die Folge einer vorzeitigen Plazentaablösung war. Auf Grund dieser lebensbedrohenden Situation für Mutter und Kind wurde sofort eine Kaiserschnittentbindung eingeleitet, die ohne Komplikationen verlief. Nachdem zunächst keine gesundheitlichen Auffälligkeiten bestanden, zeigte sich aber etwa nach einem Lebensjahr, daß das Kind in der Entwicklung, insbesondere was das Sitzen, Stehen und Gehen betraf, hinter der altersmäßigen Norm zurückblieb, so daß in der Folge ärztliche Behandlung notwendig war. Der Kläger leidet an einer Tetraparesis spastica infantilis, die sich in einer motorischen Störung aller vier Extremitäten, vorwiegend aber der unteren Extremitäten äußert. Daneben besteht eine deutliche Retardierung, durch die alle psychischen Dimensionen betroffen sind. Erbschäden infolge einer numerischen oder strukturellen Chromosomenanomalie liegen nicht vor. Ursache des die Krankheit des Klägers hervorrufenden Hirnschadens waren einerseits die oben beschriebene Sauerstoffunterversorgung, die als Folge der chronischen Plazentainsuffizienz im Verlaufe der Schwangerschaft auftrat, andererseits die akute, durch das Vena-cava-caudalis-Syndrom herbeigeführte Plazentainsuffizienz, die zu einer weiteren Sauerstoffverarmung des Gehirns und damit zu einer Hirnschädigung führten. Während die als Folge der bestehenden Gestose aufgetretene chronische Plazentainsuffizienz mit dem Unfallsgeschehen in keinem Zusammenhang steht, ist die akute Plazentainsuffizienz nach dem Vena- cava-caudalis-Syndrom eine Unfallsfolge, weil dieses Syndrom seinerseits eine Folge der Rückenlage vor und während der Operation am Unfallstag war. Krankenhausbehandlung und Operation wiederum waren Folgen des vom Erstbeklagten verschuldeten Unfalles. Jede der beiden festgestellten Ursachen für den Cerebralschaden des Klägers könnte allein diesen ebenfalls verursacht haben, jedoch beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß nach einer Gestose eine Hirnschädigung auftritt, 3 Promille, bis 5 Promille. Das Erstgericht gelangte zu dem Ergebnis, daß das Beweisverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergeben habe, daß der vom Erstbeklagten allein verschuldete Verkehrsunfall Mitursache für die festgestellte Krankheit des Klägers ist. Die Möglichkeit, daß die Hirnschädigung durch einen pathologischen Verlauf der Schwangerschaft allein hätte hervorgerufen werden können, betrug nur 3 Promille bis 5 Promille. Der hohe Grad der Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges genüge für die Bejahung der Haftung der Beklagten.

Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes und sprach aus, daß der Wert des das Feststellungsbegehren - betreffenden Streitgegenstandes 50 000 S übersteigt.

Das Berufungsgericht, das die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich übernommen hat, führte in rechtlicher Hinsicht aus, der Mensch habe auch Anspruch auf Schadenersatz wegen Körperverletzung, wenn die Verletzung seiner Gesundheit auf einer Vorschädigung in seinem embrionalen Zustand beruhe. Hinsichtlich der natürlichen Kausalität sei auf Grund des übernommenen Sachverhaltes davon auszugehen, daß der Hirnschaden des Klägers auch auf den vom Erstbeklagten verschuldeten Unfall zurückzuführen sei. Es sei den Beklagten nicht gelungen, einen anderen tatsächlichen Zusammenhang wahrscheinlicher zu machen. Soweit die Beklagten in ihrer Berufung geltend machten, hinsichtlich der ärztlichen Versorgung der Mutter des Klägers ab dem Abtransport nach dem Unfall könne doch angenommen werden, daß diese ordnungsgemäß ausgeführt worden sei, und damit unterstellten, daß die Mutter des Klägers nicht fachgerecht behandelt worden sei, stelle dieses Vorbringen eine im Berufungsverfahren unzulässige Neuerung dar.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Hier geht es um die Frage, ob der Kläger von den Beklagten den Ersatz des Schadens verlangen kann, den er infolge spastischer Lähmungserscheinungen und einer deutlichen Retardierung erleidet, weil er mit einer Hirnschädigung geboren wurde. Diese Frage wurde vom Berufungsgericht zutreffend bejaht. Im Sinne der herrschenden Lehre (vgl. Koziol, Haftpflichtrecht II, 97; Selb, Schädigung des Menschen vor der Geburt - Ein Problem der Rechtsfähigkeit ?, Archiv für civilistische Praxis - AcP - Band 166, 76 ff.; Esser, Schuldrecht II, 1971, 399; Stoll, DJZ 1972, 366) und der Rechtsprechung (BGH DJZ 1972, 363) ist der Schaden aus einer Körperverletzung nicht nur zu ersetzen, wenn sie eineni schon geborenen Menschen zugefügt wird, sondern auch dann, wenn ein Ungeborener durch ein schädigendes Ereignis, das - wie hier - nach der Zeugung gesetzt wird, beeinträchtigt und dadurch mit Mißbildungen, Krankheiten oder krankhaften Anlagen und Krankheitsanfälligkeiten geboren wird.

Die Beklagten wenden sich in ihrer Rechtsrüge gegen die Feststellung der Untergerichte, daß der Hirnschaden des Klägers auf den vom Erstbeklagten verschuldeten Unfall zurückzuführen sei. Sie machen geltend, das Gutachten des Sachverständigen Univ-Prof. Dr. B, auf das diese Feststellung gestützt werde, lasse keine eindeutige Zuordnung des Hirnschadens des Klägers zum Unfallgeschehen zu. Aus dessen Ausführungen über Prozentsätze zur Häufigkeit des Auftretens eines Hirnschadens bei den Schwangerschaftsleiden der Kindesmutter könne kein zwingender Rückschluß auf die Ursächlichkeit des Unfallsgeschehens gezogen werden. Ein 100%iger Nachweis, daß der Hirnschaden unfallskausal sei, sei nicht erbracht worden. Es sei unzulässig, bloß mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeiten zu operieren.

Diese Ausführungen der Revision richten sich gegen die Bejahung des medizinisch naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhanges, der in das Gebiet der im Revisionsverfahren unanfechtbaren Beweiswürdigung gehört. Der naturwissenschaftliche Zusammenhang kann regelmäßig nicht mit mathematischer Exaktheit nachgewiesen werden. Wie der OGH wiederholt ausgesprochen hat, genügt zur Begründung eines Ersatzanspruches der Nachweis der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges (vgl. JBl. 1953, 18; EvBl. 1957/220; RZ 1960, 101). Ob ein solcher Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht ist, gehört dem Gebiet der Beweiswürdigung an (vgl. RZ 1960, 101). Eine Denkgesetzwidrigkeit der von den Untergerichten auf Grund der Ausführungen des Sachverständigengutachtens, die Wahrscheinlichkeit, daß eine Hirnschädigung nach einer Gestose auftrete, betrage nur 3 bis 5 Promille (nicht Prozent), festgestellten allergrößten Wahrscheinlichkeit des natürlichen Kausalzusammenhanges zwischen der Unfallsverletzung der Mutter des Klägers und der Hirnschädigung des Klägers vermochten die Beklagten nicht aufzuzeigen.

Wie aus den Feststellungen des Erstgerichtes eindeutig hervorgeht, hat dieses die Möglichkeit, daß die Hirnschädigung durch einen pathologischen Verlauf der Schwangerschaft allein hervorgerufen worden wäre, auf Grund der geringen Wahrscheinlichkeit einer solchen Möglichkeit nicht als gegeben angesehen. Hatte aber die pathologische Sauerstoffunterversorgung des noch ungeborenen Klägers während der Schwangerschaft für sich allein - ohne die Unfallsverletzung der Mutter des Klägers - die bei diesem aufgetretene Hirnschädigung nicht herbeigeführt, so stellt diese Krankheitserscheinung, die sich erst durch den Unfall im Zusammenhang mit der anlagebedingten Plazentainsuffizienz ergeben hat, eine Folge des Unfalles im Rechtssinne dar, für die die Beklagten zu haften haben (vgl. ZVR 1973/132; ZVR 1976/369; ZVR 1977/108).

Hinsichtlich ihres Neuvorbringens im Berufungsverfahren, das das Berufungsgericht als unzulässig bezeichnet hat, gestehen die Beklagten nunmehr selbst zu, ein solches Vorbringen im Verfahren erster Instanz nicht erstattet zu haben. Damit erübrigt sich, auf die diesbezüglichen Ausführungen näher einzugehen.

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Anmerkung

Z52136

Schlagworte

Körperverletzung Ungeborener

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1979:0080OB00106.79.0913.000

Dokumentnummer

JJT_19790913_OGH0002_0080OB00106_7900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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