TE Vwgh Erkenntnis 2005/5/23 2005/06/0031

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Veröffentlicht am 23.05.2005
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Index

25/02 Strafvollzug;
27/01 Rechtsanwälte;

Norm

EuRAG 2000 §1;
RAO 1945 §1;
RAO 1945 §5;
StVG §90b Abs3;
StVG §90b Abs5;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2005/06/0032

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Bernegger, Dr. Waldstätten, Dr. Rosenmayr und Dr. Bayjones als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gubesch, über die Beschwerden 1. des Bundesministers für Justiz (protokolliert zu Zl. 2005/06/0031/früher Zl. 2003/20/0456) und 2. des GP, derzeit in der Justizanstalt G (protokolliert zu Zl. 2005/06/0032/früher Zl. 2003/20/0480), der Letztere vertreten durch Dr. Gerhard Halbreiner, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Kaiserfeldgasse 23/II, gegen den Bescheid der Vollzugskammer beim Oberlandesgericht Graz vom 29. August 2003, GZ. Vk 35/03-4, betreffend Öffnung eines Briefes gemäß § 90b StVG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Zweitbeschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 921,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem an die belangte Behörde gerichteten Schreiben vom 14. Juni 2003 machte der Zweitbeschwerdeführer u.a. geltend, ihm stehe das Recht zu, Schreiben an Rechtsbeistände (Rechtsanwälte) in einem verschlossenen Umschlag zur Absendung zu geben und Schreiben von Rechtsbeiständen (Rechtsanwälten etc.) in einem verschlossenen Umschlag zu erhalten. Briefe von Rechtsbeiständen dürften nur in Gegenwart des Strafgefangenen und nur aus Anlass der in § 90b Abs. 3 Z. 1 und Z. 2 StVG genannten Gründen geöffnet bzw. gelesen werden. Lägen solche Gründe bei ihm vor, sei ihm nicht ersichtlich, von wem diese festgestellt worden seien. Er erhebe Beschwerde, "da ich den Brief meines Rechtsbeistandes Dr. HZ, Bem rakpark 38-39, elsö emelat egyes szam" nicht im originalverschlossenem Briefumschlag am 12. Juni 2003 ausgefolgt erhalten habe.

Der Leiter der Justizanstalt G nahm gegenüber der belangten Behörde mit Schreiben vom 3. Juli 2003 zu dieser Beschwerde in der Weise Stellung, dass der Zweitbeschwerdeführer am 23. Juli 2003 befragt worden sei, ob der von ihm in der Beschwerde angeführte ungarische Rechtsbeistand Dr. HZ in Österreich vertretungsbefugt und in welcher Verteidigerliste er in Österreich eingetragen sei. Der Zweitbeschwerdeführer habe dazu erklärt, dass ihm nicht bekannt sei, ob dieser ungarische Rechtsbeistand in Österreich vertretungsbefugt bzw. ob und in welcher Verteidigerliste er in Österreich eingetragen sei. Da der Justizanstalt keine gegenteilige Information bekannt sei, würden die von Dr. HZ an den Zweitbeschwerdeführer gerichteten Briefsendungen gemäß § 90 StVG behandelt und nicht als Anwaltspost gemäß § 90b StVG.

Die belangte Behörde gab mit dem angefochtenen Bescheid der Beschwerde des Zweitbeschwerdeführers darüber, dass ihm ein Brief des Dr. HZ geöffnet übergeben worden bzw. die Öffnung des Briefes nicht in seiner Gegenwart durchgeführt worden sei, keine Folge.

Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, Dr. HZ sei in keiner Verteidigerliste in Österreich eingetragen. Er sei auch kein in Österreich niedergelassener Rechtsanwalt, ebenso wenig sei er in einem EU-Vertragsstaat als Rechtsanwalt und Verteidiger niedergelassen. § 90b StVG bestimme, dass Schreiben, die ein Strafgefangener unter zutreffender Angabe des Absenders an öffentliche Stellen, Rechtsbeistände oder Betreuungsstellen richtete, in einem verschlossenen Umschlag zur Absendung gegeben werden dürften bzw. dürften solche Schreiben dieser Stellen nur im Fall eines begründeten und nicht auf andere Weise überprüfbaren Verdachtes einer unerlaubten Sendung von Geld und Gegenständen und nur in Gegenwart des Strafgefangenen geöffnet werden.

Das Gesetz bestimme in § 90b Abs. 5 die Rechtsbeistände. Danach seien Rechtsbeistände Rechtsanwälte, Notare, Verteidiger und Wirtschaftstreuhänder. Wenngleich der Gesetzgeber nicht ausdrücklich erwähnt habe, dass nur solche Rechtsanwälte und Verteidiger als Rechtsbeistände im Sinne dieses Gesetzes zu gelten hätten, die in Österreich vertretungsbefugt seien, ergebe sich dies eindeutig aus der Gesamtgestaltung dieser Gesetzesbestimmung. Auch bei den öffentlichen Stellen werde nicht ausdrücklich auf die österreichischen öffentlichen Stellen eingeschränkt. Es sei dies allerdings unzweifelhafter Gesetzeswille, da als Ausnahme angeführt werde, dass bei ausländischen Strafgefangenen auch die konsularische Vertretung ihres Heimatstaates gemeint sei. Auf Grund dieser Ausnahmeregelung für die konsularischen Vertretungen sei zu schließen, dass hinsichtlich der Rechtsanwälte, Notare und Verteidiger eine Ausweitung auf ausländische Personen dieses Berufsstandes nicht normiert worden sei. Durch die Vorgangsweise der Anstaltsleitung bei der Aushändigung des Briefes des Dr. HZ sei daher das Strafvollzugsgesetz nicht verletzt worden.

Die belangte Behörde legte zu Zl. 2005/06/0031 die Verwaltungsakten vor, erstattete in beiden Beschwerdeverfahren eine Gegenschrift und beantragte jeweils die Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:

§ 90 Abs. 1 und § 90b Strafvollzugsgesetz, BGBl. Nr. 144/1969 (StVG) i.d.F. BGBl. Nr. 799/1993 und BGBl. I Nr. 134/2002, lauten wie folgt:

"§ 90. (1) Von Strafgefangenen verfasste Schreiben sind von ihrer Absendung und für Strafgefangene eingehende Schreiben vor ihrer Aushändigung im Allgemeinen nur zu überwachen, soweit dies notwendig ist, um allenfalls darin enthaltene unerlaubte Sendungen von Geld und anderen Gegenständen zurückzuhalten. Außerdem sind sie vom Anstaltsleiter oder einem von diesem hiezu bestimmten Strafvollzugsbediensteten stichprobenweise und ansonsten insoweit zu lesen, als dies mit Rücksicht auf die psychiatrische oder psychologische Betreuung des Strafgefangenen oder deswegen erforderlich ist, weil der Verdacht besteht, dass ein Schreiben nach § 90a zurückzuhalten sein werde."

"Schriftverkehr mit öffentlichen Stellen, Rechtsbeiständen und Betreuungsstellen

§ 90b. (1) Schreiben, die ein Strafgefangener unter zutreffender Angabe des Absenders an öffentliche Stellen (Abs. 4), Rechtsbeistände (Abs. 5) oder Betreuungsstellen (Abs. 6) richtet, dürfen in einem verschlossenen Umschlag zur Absendung gegeben werden.

(2) Sind solche Schreiben an öffentliche Stellen (Abs. 4) gerichtet, so dürfen sie nur im Falle eines begründeten und nicht auf andere Weise überprüfbaren Verdachts einer unerlaubten Sendung von Geld oder Gegenständen und nur in Gegenwart des Strafgefangenen geöffnet werden.

(3) Sind solche Schreiben an Rechtsbeistände (Abs. 5) oder Betreuungsstellen (Abs. 6) gerichtet oder handelt es sich um Schreiben dieser Personen und Stellen oder um Schreiben dieser Personen und Stellen oder um Schreiben öffentlicher Stellen (Abs. 4) an einen Strafgefangenen, so dürfen sie nur in dessen Gegenwart und nur

1.

aus dem Grunde des Abs. 2 oder

2.

im Falle eines begründeten Verdachts, dass

a)

auf dem Schreiben ein falscher Absender angegeben ist,

b)

der Inhalt des Schreibens eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt darstellt oder

              c)              der Inhalt des Schreibens den Tatbestand einer gerichtlich strafbaren Handlung verwirklicht oder der Vorbereitung einer solchen Handlung dient,

geöffnet werden. Gelesen werden dürfen solche Schreiben nur in den Fällen der Z 2 lit. b und c; soweit sich dabei der Verdacht bestätigt, sind die Schreiben zurückzuhalten.

(4) Als öffentliche Stellen gelten

1. der Bundespräsident, die Mitglieder der Bundesregierung, inländische allgemeine Vertretungskörper, Gerichte und andere Behörden, die Volksanwaltschaft sowie Angehörige einer dieser Stellen;

     1a.        das Europäische Parlament, der Rat der

Europäischen Union sowie die Kommission und der Gerichtshof der

Europäischen Gemeinschaften;

     2.        der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

sowie der nach dem Europäischen Übereinkommen zur Verhütung der Folter eingerichtete Ausschuss;

2a. die Internationalen Gerichte (§ 1 des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 263/1996) und der Internationale Strafgerichtshof;

3. bei ausländischen Strafgefangenen auch die konsularische Vertretung ihres Heimatstaates.

(5) Als Rechtsbeistände gelten Rechtsanwälte, Notare, Verteidiger und Wirtschaftstreuhänder.

(6) Als Betreuungsstellen gelten

1. der Bewährungshelfer des Strafgefangenen, Dienst- und Geschäftsstellen für Bewährungshilfe sowie Vereinigungen, die mit Aufgaben der Bewährungshilfe betraut sind;

2. allgemein anerkannte Vereinigungen und Einrichtungen, die sich mit der Beratung und Unterstützung von Angehörigen der Strafgefangenen und mit der Entlassenenbetreuung befassen."

Gemäß § 1 Abs. 1 der Rechtsanwaltsordnung, RGBl. Nr. 96/1868 - RAO (Wiederinkraftsetzung durch das Gesetz über die Wiederherstellung der österreichischen Rechtsanwaltschaft, StGBl. Nr. 103/1945) i.d.F. BGBl. I Nr. 71/1999, bedarf es zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft in der Republik Österreich keiner behördlichen Ernennung, sondern lediglich der Nachweisung der Erfüllung der in dieser Bestimmung angeführten Erfordernisse unter Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte (§§ 5 und 5a).

Gemäß § 5 RAO i.d.F. BGBl. Nr. 159/1956 und 524/1987 hat, wer die Rechtsanwaltschaft erlangen will, unter Nachweis aller gesetzlichen Erfordernisse bei dem Ausschuss der Rechtsanwaltskammer, in deren Sprengel er seinen Kanzleisitz einnimmt, unter Angabe des Letzteren seine Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte zu erwirken.

Gemäß § 1 des Bundesgesetzes über den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassung von Europäischen Rechtsanwälten in Österreich (EuRAG), BGBl. I Nr. 27/2000, regelt dieses Bundesgesetz die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs und die Niederlassung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft in Österreich durch Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sowie der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die berechtigt sind, als Rechtsanwalt unter einer der in der Anlage zu diesem Bundesgesetz angeführten Bezeichnungen beruflich tätig zu sein (europäische Rechtsanwälte).

Gemäß § 2 EuRAG dürfen europäische Rechtsanwälte, soweit sie Dienstleistungen im Sinne des Art. 50 EGV erbringen, in Österreich vorübergehend rechtsanwaltliche Tätigkeiten wie ein in die Liste der Rechtsanwälte einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragener Rechtsanwalt erbringen, wobei sie jedoch den sich aus den Bestimmungen dieses Teils ergebenden Beschränkungen unterliegen (dienstleistende europäische Rechtsanwälte).

Gemäß § 9 EuRAG dürfen europäische Rechtsanwälte sich in Österreich unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsstaats auf Dauer zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft mit den sich aus den Bestimmungen dieses Teils ergebenden Beschränkungen niederlassen, wenn sie auf Antrag in die Liste der niedergelassenen europäischen Rechtsanwälte eingetragen werden.

Gemäß Art. 19 EMRK, BGBl. Nr. 210/1958 i.d.F. des 11. Zusatzprotokolles zur EMRK, BGBl. III Nr. 30/1998, wird, um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsschließenden Teile in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben, ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden als "Gerichtshof" bezeichnet) errichtet. Er nimmt seine Aufgabe als ständiger Gerichtshof wahr.

Gemäß Art. 34 EMRK in der angeführten Fassung kann der Gerichtshof von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch einen der Hohen Vertragsschließenden Teile in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. Die Hohen Vertragsschließenden Teile verpflichten sich, die wirksame Ausübung dieses Rechts nicht zu behindern.

Gemäß Art. 36 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EGMR, BGBl. III Nr. 13/2000 (im Folgenden: VerfO des EGMR; gemäß deren Art. 104 in Kraft getreten am 1. November 1998, Kundmachung im BGBl. am 20. Jänner 2000) können die in Art. 34 der Konvention genannten natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen und Personengruppen eine Beschwerde zunächst selbst oder durch einen Vertreter nach Abs. 4 einreichen.

Art. 36 Abs. 4 VerfO des EGMR lautet wie folgt:

"(4) a) Der Vertreter des Beschwerdeführers muss ein in einer Vertragspartei zugelassener Rechtsbeistand mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei sein oder aber eine andere Person, die der Kammerpräsident zulässt."

Die Republik Ungarn hat die EMRK am 5. November 1992 (einschließlich der Anerkennung der Individualbeschwerde gemäß Art. 25 EMRK in der Stammfassung) und u.a. das Protokoll Nr. 11 betreffend die Umgestaltung des durch die Konvention eingeführten Kontrollmechanismus am 26. April 1995 ratifiziert vgl. dazu Frowein-Peukert, EMRK-Kommentar, 1996, S 988f).

Der erstbeschwerdeführende Bundesminister macht insbesondere geltend, dass gemäß § 90b Abs. 3 StVG Schreiben an Rechtsbeistände oder Schreiben dieser Personen an einen Strafgefangenen nur in dessen Gegenwart und nur aus den in § 90b Abs. 3 Z. 1 und 2 lit. a bis c StVG genannten Gründen geöffnet werden und nur in den Fällen der Z. 2 lit. b und c gelesen bzw. bei Bestätigung der darin normierten Verdachtslage zurückgehalten werden dürften. Gemäß § 90b Abs. 4 Z. 2 StVG gälten als öffentliche Stellen u.a. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und gemäß § 90b Abs. 5 StVG als Rechtsbeistände u.a. Rechtsanwälte.

Weder der Wortlaut des § 90b StVG noch die betreffenden Gesetzesmaterialien (946 BlgNR 18. GP) schränkten den privilegierten Personenkreis auf ausnahmslos zur Berufsausübung in der Republik Österreich berechtigte (sogenannte inländische) Rechtsanwälte ein. Schutzbereich des § 90b Abs. 5 StVG sei der im Innenverhältnis gepflogene Kontakt eines Rechtsanwaltes zu seinem Klienten. Das WTO-Abkommen (GATT) BGBl. Nr. 1/1995 i.d.F. BGBl. III Nr. 61/1999 lasse auch für ausländische Anwälte einzelne Beratungstätigkeiten im Inland im genau determinierten Umfang, insbesondere im Zusammenhang mit ausländischem Recht, zu. § 90b StVG regle insbesondere den Schriftverkehr eines Strafgefangenen u. a. mit öffentlichen Stellen und mit Rechtsbeiständen (u.a. Rechtsanwälte) auch im Lichte des Urteiles des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 25. März 1992, Z 25/1990/243/314, im Fall Campbell gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien). Der EGMR komme dabei zum Ergebnis, dass - wenn auf Grund konkreter Umstände nichts Anderes geboten sei - das Risiko eines bloß möglichen Missbrauches von der Notwendigkeit überwogen werde, die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen einem Anwalt und seinem Klienten zu achten. Der Verfassungsgerichtshof sei in dem Erkenntnis vom 2. Dezember 1993, G 134/93, VfSlg. Nr. 13.630, dieser Auffassung beigetreten, dass das Öffnen und Lesen der Korrespondenz eines Häftlings mit seinem Anwalt ohne konkrete Verdachtsmomente im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht gerechtfertigt sei.

Aus dieser Sicht sei für ausländische Anwälte aber § 90b Abs. 5 StVG auch im Zusammenhang mit § 90 Abs. 4 StVG zu verstehen. Danach dürften Schreiben der Strafgefangenen an die Europäischen Instanzen in Strassburg nicht überwacht werden. Die Republik Ungarn habe mit 5. November 1992 die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK) samt Zusatzprotokollen ratifiziert. Damit sei u. a. ein im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei zugelassener Rechtsbeistand mit dortigem Wohnsitz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertretungsbefugt (Art. 36 VerfO des EGMR). Korrespondiere ein Strafgefangener mit einem abstrakt vertretungsbefugten ausländischen Rechtsanwalt, der diesen vor dem Europäischen Gerichtshof vertreten könne, so dürfe im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation des § 90b Abs. 5 StVG der unüberwachte Schriftverkehr mit den genannten öffentlichen Stellen (indirekt) nicht dadurch umgangen werden, dass der Schriftverkehr mit dem ausländischen Rechtsanwalt überwacht werde, ausgenommen der Fälle des § 90b Abs. 2 und 3 StVG. Im Sinne der vom EGMR und dem Verfassungsgerichtshof anerkannten grundsätzlichen Schutzwürdigkeit der Vertraulichkeit des Verhältnisses eines Anwaltes zu seinem Klienten müsse dies letztlich auch für allfällige vorbereitende Korrespondenz zwischen einem Anwalt und dem Klienten gelten, unabhängig ob daraus resultierend ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch anhängig gemacht werde. Sei die Person eines einschreitenden ausländischen Rechtsanwaltes in seiner Funktion verifiziert und lägen auch keine konkreten Gründe im Sinne des § 90b Abs. 2 und 3 StVG vor, so sei ein unüberwachter Briefverkehr zwischen einem ausländischen Rechtsanwalt und einem Strafgefangenen aus den dargelegten Gründen zuzulassen. Die Öffnung eines von einem derartigen ausländischen Rechtsanwalt an einen Strafgefangenen gerichteten Schreibens stehe daher mit § 90b StVG nicht im Einklang.

Auch der Zweitbeschwerdeführer wendet sich gegen die von der belangten Behörde zu § 90b Abs. 5 StVG vorgenommene Einschränkung in Frage kommender Rechtsbeistände im Hinblick auf Rechtsanwälte und Verteidiger auf in Österreich vertretungsbefugte Rechtsanwälte und Verteidiger. Hätte der Gesetzgeber dies tatsächlich gewollt, so hätte er es durch die Beifügung "in Österreich zugelassene bzw. in die Verteidigerliste eingetragene oder im EU-Vertragsstaat zugelassene oder niedergelassene Rechtsanwälte" entsprechend zum Ausdruck bringen können.

Unter den Begriff der "Rechtsanwälte" gemäß § 90b Abs. 5 StVG sind jedenfalls die in die Liste der Rechtsanwälte gemäß § 1 i. V.m. § 5 RAO 1945 eingetragenen und zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft in der Republik Österreich befugten Rechtsanwälte zu subsumieren. Unter diesen Begriff fallen jedenfalls aber auch alle "europäischen Rechtsanwälte" im Sinne des § 1 EuRAG, das sind Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sowie der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die berechtigt sind, als Rechtsanwalt unter einer der in der Anlage zu diesem Bundesgesetz angeführten Bezeichnungen im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit beruflich tätig zu sein.

Zu der sich im vorliegenden Fall stellenden Frage, ob auch ein in der Republik Ungarn zugelassener Rechtsbeistand als Rechtsbeistand im Sinne des § 90b Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 StVG angesehen werden kann, ist Folgendes auszuführen:

Aus dem Wortlaut des § 90b Abs. 4 StVG kann dazu aus der ausdrücklichen Einschränkung auf "inländische allgemeine Vertretungskörper, Gerichte und andere Behörden" in Bezug auf die im Rahmen dieser Bestimmung beachtlichen öffentlichen Stellen ein Hinweis darauf erblickt werden, dass der Gesetzgeber eine Einschränkung auf inländische Einrichtungen ausdrücklich zum Ausdruck bringt, andernfalls hätte es der Beifügung des Wortes "inländisch" nicht bedurft. Die Regelung in § 90b Abs. 5 StVG über die möglichen Rechtsbeistände enthält eine derartige Einschränkung nicht. Aus dem Umstand, dass im § 90b Abs. 4 Z. 3 StVG für ausländische Strafgefangene ausdrücklich vorgesehen ist, dass auch die konsularische Vertretung ihres Heimatstaates als öffentliche Stelle gilt, kann nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes zur vorliegenden Frage nichts gewonnen werden, weil das Wort "inländisch" in § 90b Abs. 4 StVG sich auch auf die in der Folge angeführten Gerichte und Behörden bezieht, sodass die konsularischen Vertretungen des Heimatstaates eines Strafgefangenen in Österreich davon nicht mit umfasst sind.

Bei der Lösung der vorliegenden Auslegungsfrage ist insbesondere Art. 8 EMRK und die dazu ergangene Judikatur betreffend den Briefverkehr von Strafgefangenen (insbesondere das Urteil des EGMR vom 25. März 1992 im Fall Campbell gegen Vereinigtes Königreich; vgl. auch Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention2, 1996, s. 362 ff, insb. Rz 37) beachtlich.

Gemäß Art. 8 EMRK (i.d.F. BGBl. III Nr. 30/1998) hat u. a. jedermann Anspruch auf Achtung seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechtes nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ein Eingriff in das jedermann zustehende Recht auf Achtung seines Briefverkehrs durch eine öffentliche Behörde ist nur zulässig, insoweit er gesetzlich vorgesehen ist und darüber hinaus zur Erreichung eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zwecke notwendig ist. In dem Urteil des EGMR vom 25. März 1992 im Fall Campbell gegen das Vereinigte Königreich hat dieser Gerichtshof im Zusammenhang mit der Beurteilung der Beschwerde eines Häftlings betreffend das Öffnen und Lesen seiner Korrespondenz mit seinem Anwalt durch die Gefängnisverwaltung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen der Notwendigkeit der Überwachung der Korrespondenz zwischen einem Häftling und seinem Anwalt zur Erreichung des legitimen Zieles der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und der der Anwalt-Klient-Beziehung zukommenden Vertraulichkeit vorgenommen. Er hat dabei die Ansicht vertreten, dass die bloße Möglichkeit eines Missbrauches von der Notwendigkeit überwogen wird, die Vertraulichkeit zu achten, die der Anwalt-Klient-Beziehung zukommt (vgl. das Urteil vom 25. März 1992, Z 52). Der EGMR hat in diesem Urteil weiters ausgesprochen (Z. 48 des Urteiles), dass der Briefverkehr mit einem Rechtsanwalt, unabhängig davon, ob er einen Rechtsstreit betrifft oder nicht, im Lichte des Art. 8 EMRK grundsätzlich privilegiert ist. Ein solcher Brief darf von der Gefängnisverwaltung geöffnet werden, wenn sie einen vernünftigen Grund ("reasonable cause") zur Annahme hat, dass er verbotene Gegenstände enthält, der mit den üblichen Untersuchungsmethoden nicht entdeckt werden konnte. Es sollten geeignete Garantien vorgesehen werden, die das Lesen eines solchen Briefes verhindern, wie etwa das Öffnens eines solchen Briefes in Anwesenheit des Häftlings. Das Lesen der Post eines Gefangenen an und von einem Anwalt sollte nur bei Vorliegen besonderer Umstände erlaubt werden, wenn die privilegierte Behandlung missbraucht wird, sodass der Inhalt des Briefes die Sicherheit im Gefängnis gefährdet oder die Sicherheit anderer oder auf andere Weise von strafrechtlicher Natur ist. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 2. Dezember 1993, G 134/93, VfSlg. Nr. 13.630, dieser Ansicht des EGMR angeschlossen.

Mit der Neuregelung des Briefverkehrs von Strafgefangenen in der StVG-Novelle im Jahre 1993 (BGBl. Nr. 799) sollte u.a. dieser Judikatur betreffend den Briefverkehr eines Strafgefangenen mit seinem Anwalt (in § 90b StVG) entsprochen werden.

§ 90b Abs. 5 StVG ist daher im Lichte des Art. 8 EMRK und der dazu ergangenen Judikatur des EGMR und des Verfassungsgerichtshofes betreffend den Briefverkehr von Strafgefangenen auszulegen. Das Gebot des Schutzes des Briefverkehrs zwischen Strafgefangenen und Anwälten gemäß Art. 8 EMRK kann nicht nur dahingehend verstanden werden, dass dieser Schutz für die einzelnen Mitgliedstaaten der EMRK jeweils nur in Bezug auf jene Rechtsbeistände gilt, die in ihrem Gebiet zum Tätigwerden als Rechtsbeistand zugelassen sind, sondern dieses Gebot der Achtung des Briefverkehrs eines Strafgefangenen mit einem Anwalt muss auch in Bezug auf die Korrespondenz mit einem in einem anderen Mitgliedstaat der EMRK zugelassenen Rechtsbeistand, das kein Mitglied der Europäischen Union ist, bezogen werden. Auf den Inhalt des Schreibens eines Rechtsbeistandes kommt es nach dem Urteil des EGMR im Fall Campbell (Z. 48) nicht an.

Für diese Auslegung spricht auch die Regelung des Art. 36 der VerfO des EGMR, nach der Beschwerden natürlicher Personen, nicht staatlicher Organisationen und von Personengruppen gemäß Art. 34 EMRK auch durch einen Vertreter nach Abs. 4 eingereicht werden kann. Gemäß Art. 36 Abs. 4 lit. a VerfO des EGMR muss der Vertreter des Beschwerdeführers ein in einer Vertragspartei zugelassener Rechtsbeistand mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei sein oder aber eine andere Person, die der Kammerpräsident zulässt. Danach ist jeder in einer Vertragspartei der EMRK zugelassene Rechtsbeistand mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei zur Vertretung vor dem EGMR befugt. Die Republik Ungarn ist - wie bereits erwähnt - seit November 1992 Mitglied der EMRK und hat auch die Individualbeschwerdebefugnis des EGMR anerkannt.

Der Auffassung der belangten Behörde, dass nur solche Rechtsanwälte und Verteidiger als Rechtsbeistände im Sinne dieses Gesetzes zu gelten hätten, die in Österreich vertretungsbefugt seien, kann somit nicht gefolgt werden. Der angefochtene Bescheid erweist sich daher schon aus diesem Grund als inhaltlich rechtswidrig.

Bei diesem Ergebnis war auf das übrige Beschwerdevorbringen des erstbeschwerdeführenden Bundesminister nicht mehr einzugehen.

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 23. Mai 2005

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2005:2005060031.X00

Im RIS seit

23.06.2005

Zuletzt aktualisiert am

07.10.2008
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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