TE OGH 1986/1/23 8Ob84/85

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Veröffentlicht am 23.01.1986
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Monika K*****, vertreten durch Dr. Helmut Steiner, Rechtsanwalt in Baden, wider die beklagten Parteien 1.) Friedrich C*****, und 2.) W***** Versicherungs-AG, *****, vertreten durch Dr. Johannes Schriefl und Dr. Peter Paul Wolf, Rechtsanwälte in Wien, wegen 53.650,-- S samt Anhang und Feststellung (Streitwert 10.000,-- S) infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 12. September 1985, GZ 18 R 198/85-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt vom 3. Mai 1985, GZ 2 Cg 428/84-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben und das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes mit der Maßgabe bestätigt, daß das die Feststellung einer Haftung der Beklagten für mehr als die Hälfte aller Unfallsfolgen betreffende Feststellungsmehrbegehren ausdrücklich abgewiesen wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 3.073,64 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 480,- S an Barauslagen und 235,79 S an USt.) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 20. Mai 1984 ereignete sich gegen 17,50 Uhr auf der Bundesstraße 16 im Ortsgebiet von Ebreichsdorf ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit ihrem Motorfahrrad Vespa PK 50 S (*****) und der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW Citroen GX 2200 (*****) beteiligt waren. Dabei wurde die Klägerin verletzt und wurden beide Fahrzeuge beschädigt. Das gegen beide Unfallsbeteiligten eingeleitete Strafverfahren wurde gemäß § 90 Abs. 1 StPO eingestellt.

Die Klägerin begehrte mit pflegschaftsbehördlicher Genehmigung (P 4/85-2 des Erstgerichtes) von den Beklagten zur ungeteilten Hand – vom Alleinverschulden des Erstbeklagten ausgehend – die Bezahlung von S 53.650,-- samt Anhang (für Schmerzengeld und verschiedene Sachschäden) und stellte ein entsprechendes Feststellungsbegehren. Der Erstbeklagte habe durch Einbiegen nach links den ihr als Lenker des die Richtung beibehaltenen Fahrzeuges zukommenden Vorrang verletzt.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens, weil die Klägerin den Verkehrsunfall allein verschuldet habe. Der Erstbeklagte habe seinen PKW zum Einbiegen nach links (in die Nebenfahrbahn Hauptplatz Ebreichsdorf) angehalten. Nachdem der Lenker eines ihm in einer Fahrzeugkolonne entgegenkommenden Fahrzeuges dieses vorschriftsmäßig vor der „Kreuzung“ der Bundesstraße mit der Zufahrt zur Nebenfahrbahn angehalten hätte, sei der Erstbeklagte nach links eingebogen. Als die Klägerin am rechten Fahrbahnrand vorschriftswidrig an der stehenden Fahrzeugkolonne vorbeigefahren sei, sei es zur Kollision gekommen. Da der Erstbeklagte mit einem solchen verkehrswidrigen Verhalten der Klägerin nicht habe rechnen müssen, treffe diese das Alleinverschulden an dem Unfall. Schließlich wendete die Beklagte den am Fahrzeug des Erstbeklagten entstandenen Schaden in der Höhe von S 14.000,-- der Klagsforderung gegenüber aufrechnungsweise ein.

Demgegenüber erwiderte die Klägerin, daß die Fahrzeugkolonne erst zum Stehen gekommen sei, nachdem der von den Beklagten erwähnte PKW angehalten habe; das Anhalten dieses PKWs sei für sie aber nicht vorherzusehen gewesen. Als dieser sie „soeben“ überholende PKW angehalten habe, sei sie „normal“ am rechten Fahrbahnrand weitergefahren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Urteil des Erstgerichtes (von einem gleichteiligen Verschulden der beteiligten Verkehrsteilnehmer ausgehend) dahin ab, daß es die eingeklagte Forderung mit S 26.825,-- als zu Recht bestehend und mit demselben Betrag als nicht zu Recht bestehend und die Gegenforderung mit S 7.000,-- als zu Recht bestehend und mit demselben Betrag als nicht zu Recht bestehend erkannte und der Klägerin den Betrag von S 19.825,-- samt Anhang unter Abweisung des Leistungsmehrbegehrens zusprach. Außerdem stellte es die Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden der Klägerin aus dem gegenständlichen Verkehrsunfall zur Hälfte, die Haftung der zweitbeklagten Partei überdies nur bis zur Höhe der am Unfallstag für den PKW des Erstbeklagten vereinbarten Haftpflichtversicherungssumme fest, wobei allerdings eine ausdrückliche Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens im Spruch der Entscheidung unterblieb. Schließlich sprach das Berufungsgericht aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entscheiden habe, im bestätigenden Teil S 60.000,--, nicht übersteigt, im abändernden Teil S 300.000,-- nicht übersteigt und die Revision gegen den abändernden Teil zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die auf den Anfechtungsgrund des § 503 Abs. 1 Z 4 ZPO gestützte Revision der Beklagten mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern.

Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Die von den Vorinstanzen über den bereits wiedergegebenen Sachverhalt hinaus getroffenen Feststellungen lassen sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen:

Die Klägerin fuhr auf der Bundesstraße 16, nachdem sie mehrere hundert Meter vor der nachmaligen Unfallstelle in diese nach rechts eingebogen war, in Richtung Wien. Die im Bereich der Unfallsstelle gradlinig verlaufende Fahrbahn der Bundesstraße 16 wird – in Fahrtrichtung Wien betrachtet – auf der rechten Seite von der parallel zur Bundesstraße verlaufenden Nebenfahrbahn des Hauptplatzes Ebreichsdorf durch einen mit Bäumen bepflanzten Grünstreifen getrennt. Etwa gegenüber dem Haus Hauptplatz Nr 16 befindet sich in diesem Grünstreifen eine ca 11,6 m breite Öffnung, die die Zufahrt von der Bundesstraße zur Nebenfahrbahn ermöglicht. Die Fahrbahn der Bundesstraße 16 weist sowohl in Fahrtrichtung Wien als auch in der Gegenrichtung (Richtung Weigelsdorf) je einen 4,3 m breiten Fahrstreifen auf.

Bei Annäherung an die – in Fahrtrichtung der Klägerin gesehen rechts gelegene – Zufahrt zu der Nebenfahrbahn wurde die Klägerin vorerst von einer Fahrzeugkolonne überholt; diese Fahrzeugkolonne mußte sodann wegen einer – in Fahrtrichtung der Klägerin gesehen (eine geraume Wegstrecke) jenseits der Zufahrt zur Nebenfahrbahn befindlichen – Verkehrsampel verkehrsbedingt anhalten, wodurch sich die Fahrzeugkolonne aufstaute und über die Zufahrt zur Nebenfahrbahn zurück reichte. Der Erstbeklagte lenkte sein Fahrzeug in Richtung Weigelsdorf, also der Fahrzeugkolonne entgegen, und zwar in der Absicht, nach links in die Nebenfahrbahn Hauptplatz Ebreichsdorf abzubiegen. Wegen der entgegenkommenden Fahrzeuge mußte er sein Fahrzeug vorerst anhalten; er ordnete dieses zum Linksabbiegen ein und hatte auch den linken Blinker eingeschaltet, um das Abbiegemanöver anzuzeigen. Nachdem die Kolonne verkehrsbedingt zum Stillstand gekommen war, gab der Lenker des ersten Fahrzeuges, das – in dessen Fahrtrichtung gesehen – noch vor der Zufahrt zur Nebenfahrbahn angehalten worden war und eine Lücke offen gelassen hatte, dem Erstbeklagten durch Handzeichen zu verstehen, daß er abbiegen solle, worauf der Erstbeklagte nach links abbog und sein Fahrzeug in Richtung Nebenfahrbahn lenkte. Zwischenzeitig hatte die Klägerin mit ihrem Moped die Fahrzeugkolonne, die sich aufgestaut hatte, eingeholt und begann an dieser Kolonne rechts vorbeizufahren. Für dieses Fahrmanöver stand insoweit Raum zur Verfügung, als die Klägerin ihr Moped ohne Gefahr einer Streifung der anderen Fahrzeuge vorbeilenken konnte. Bedingt durch deren Körpergröße besaß die Klägerin während des Vorbeifahrens für den Erstbeklagten in ihrer Sitzposition auf dem Moped keinen Auffälligkeitswert, da nur ein geringer Teil ihres Kopfes die Dächer der in der Kolonne befindlichen Fahrzeuge überragte und die Klägerin dadurch für den Erstbeklagten nicht wahrnehmbar war. Die Geschwindigkeit der Klägerin während des Vorbeilenkens an den Fahrzeugen betrug mit hoher Wahrscheinlichkeit rund 30 km/h; dies hat zur Folge, daß der Erstbeklagte zu einem Zeitpunkt, in dem die Klägerin noch nicht in seinem Sichtbereich war, eine Vollbremsung seines Fahrzeuges hätte durchführen müssen, um eine Kollision zu vermeiden. Zur Zeit eines solchen Bremsentschlusses wäre die Klägerin mit absoluter Sicherheit durch die aufgestauten Fahrzeuge verdeckt gewesen und hätte demnach zwangsläufig für den Erstbeklagten keine Veranlassung bestanden, eine Bremsung seines Fahrzeuges durchzuführen. Der Erstbeklagte wurde auf die Klägerin erst aufmerksam, als diese mit dem Moped im Bereich des hinteren Teiles der rechten Beifahrertür gegen den PKW des Erstbeklagten stieß. Im Zeitpunkt des Anstoßes befand sich die Vorderfront des PKWs auf Höhe der linken Begrenzung (Grünstreifen) der Nebenfahrbahn, und zwar nahezu in einem rechten Winkel zur Fahrbahnlängsachse der B 16; dadurch bestand für den Erstbeklagten nur mehr eine sehr eingeschränkte Möglichkeit, das Moped, das sich rechts neben der Fahrzeugkolonne näherte, überhaupt wahrzunehmen.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß der Klägerin gegenüber dem Erstbeklagten kein Vorrang zugekommen sei, obwohl sie ihre Fahrtrichtung beibehalten habe. Sie habe nämlich gegen das Verbot des „Vorbeischlängelns“ nach § 12 Abs. 5 StVO verstoßen. Durch dieses Verbot solle unter anderem auch verhindert werden, daß es zu Zusammenstößen mit Fahrzeugen komme, die vor der angehaltenen Kolonne nach links einbiegen. Hier sei allenfalls auch § 18 Abs. 3 StVO anzuwenden und es sei dieser Bestimmung auch dadurch Rechnung getragen worden, daß die Fahrzeuge noch vor der Zufahrt zur Nebenfahrbahn angehalten hätten, um dem Erstbeklagten das Linksabbiegen zur Nebenfahrbahn zu ermöglichen. An Fahrzeugen, die gemäß § 18 Abs. 3 StVO anhielten, dürfe aber nach § 17 Abs. 4 StVO nur vorbeigefahren werden, wenn wenigstens zwei Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung vorhanden seien. Dies sei an der Unfallsstelle aber nicht der Fall. Ein Verstoß gegen § 17 Abs. 4 StVO habe allerdings keinen Einfluß auf den Vorrang. Die Klägerin habe jedoch ihren Vorrang wegen des Verstoßes gegen § 12 Abs. 5 StVO verloren. Dem Erstbeklagten hingegen könne weder der Vorwurf eines fahrtechnischen noch eines Aufmerksamkeitsfehlers oder eines vorschriftswidrigen Verhaltens wegen Verletzung des Vorranges gemacht werden, weshalb die Unfallursache allein im Fahrverhalten der Klägerin liege.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als Ergebnis eines mangelfreien Verfahrens und einer unbedenklichen Würdigung der aufgenommenen Beweise und ging bei seiner rechtlichen Beurteilung davon aus, daß § 17 Abs. 4 und § 18 Abs. 3 StVO außer Betracht bleiben könnten, weil die im § 19 Abs. 6 StVO angeführten Verkehrsflächen keine Querstraßen im Sinne dieser Bestimmung seien (ZVR 1978/313, 1983/71 ua), daß die Fahrzeuge, an denen die Klägerin vorbeigefahren sei, aber vor der Zufahrt zu einer Nebenfahrbahn im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 4 und § 19 Abs. 6 StVO und damit nicht vor einer Querstraße im Sinne der genannten Gesetzesstellen angehalten hätten. Die Klägerin habe daher nicht gegen § 17 Abs. 4, wohl aber gegen § 12 Abs. 5 StVO verstoßen. Müßten nämlich Fahrzeuge vor Kreuzungen, Straßenengen, schienengleichen Eisenbahnübergängen und dergleichen angehalten werden, so dürften nach dieser Bestimmung Lenker einspuriger, später ankommender Fahrzeuge nicht neben oder zwischen den bereits angehaltenen Fahrzeugen vorfahren, um sich mit ihren Fahrzeugen weiter vorne aufzustellen. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes hätte die Klägerin „die Fahrzeugkolonne, die sich (vor der Verkehrsampel) aufgestaut hätte, eingeholt und begonnen, an dieser Kolonne rechts vorbeizufahren“. Es möge zutreffen, daß die die Kolonne bildenden Fahrzeuge die Klägerin vorher überholt hätten, das von der Klägerin gelenkte Motorfahrrad sei aber in dem Zeitpunkt, als mehrere Fahrzeuge vor ihr angehalten hätten, als später ankommendes Fahrzeug im Sinne des § 12 Abs. 5 StVO anzusehen. Die Klägerin hätte daher ihr Fahrzeug hinter dem letzten in der Kolonne stehenden Fahrzeug ebenfalls anhalten müssen, zumal nach den Verfahrensergebnissen davon auszugehen sei, daß sie vorgefahren sei, um es weiter vorne aufzustellen. Verfehlt sei aber die Auffassung des Erstgerichtes, daß dem Erstbeklagten kein vorschriftswidriges Verhalten anzulasten sei. Da er nach links eingebogen sei, sei er gegenüber der Klägerin gemäß § 19 Abs. 5 StVO wartepflichtig gewesen. Die Klägerin habe ihren Vorrang entgegen der Auffassung des Erstgerichtes aber nicht durch ihr eigenes vorschriftswidriges Verhalten (ZVR 1977/53; 1984/135 ua) und auch nicht dadurch verloren, daß der Lenker eines der angehaltenen PKW auf seinen Vorrang verzichtet habe, weil ein solcher Verzicht nur für das eigene Fahrzeug und nicht auch für andere Verkehrsteilnehmer wirke (SZ 45/65; ZVR 1981/10, 1983/71 uva). Der Erstbeklagte habe allerdings nur dann eine besonders vorsichtige Fahrweise einhalten müssen, wenn er in Betracht habe ziehen müssen, daß er einen bevorrangten Verkehrsteilnehmer behindern könnte. Es sei also zu prüfen, ob er damit habe rechnen müssen, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer rechts an der Fahrzeugkolonne vorbeifahren werde. Dies werde aber durch § 12 Abs. 5 StVO nicht ausgeschlossen, weil darin ausdrücklich nur das Vorfahren zu dem Zweck verboten werde, um sich weiter vorn aufzustellen. Aus dem Wortlaut der Bestimmung sei daher zu schließen, daß ein Verfahren zu einem anderen Zweck (hier etwa in der Absicht, nach rechts durch die auch vom Erstbeklagten benützte Zufahrt in die Nebenfahrbahn einzubiegen) erlaubt sei. Allein diese Auslegung werde dem Umstand gerecht, daß der Gesetzgeber nicht das Vorfahren allgemein verboten, sondern eine bestimmte Absicht angeführt habe. Andernfalls hätte der letzte Halbsatz, in dem diese Absicht umschrieben werde, entfallen müssen. Daß es auf diese Absicht ankomme, ergebe sich zumindest schlüssig auch aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (ZVR 1981/155, 1984/204). Der Erstbeklagte habe daher nicht vertrauen dürfen, daß ihm kein Fahrzeug entgegenkommen werde und hätte sich als Wartepflichtiger beim Einbiegen nur vortasten dürfen, um gegebenenfalls den Vorrang eines solchen Fahrzeuges wahren zu können. Es hätten daher beide Fahrzeuglenker gegen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung verstoßen. Bei der Teilung des Verschuldens wägen zwar Verstöße gegen die Vorrangregeln im allgemeinen schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten (ZVR 1984/210, 1985/27 uva), dies bedeute jedoch nicht, daß jede Verletzung einer Vorrangregel schwerer als irgendein anderer Verstoß gegen andere Verkehrsvorschriften ins Gewicht falle (ZVR 1983/162). Unter den besonders gelagerten Verhältnissen des vorliegenden Falles sei die dem Erstbeklagten vorzuwerfende Vorrangverletzung aber nicht schwerer zu werten als das verkehrswidrige Verhalten der Klägerin, weil für den Erstbeklagten die Unrichtigkeit seines Verhaltens nicht leicht erkennbar gewesen sei. Eine Teilung des Verschuldens zu gleichen Teilen sei damit angemessen. In diesem Umfang sei der Berufung Folge zu geben gewesen.

Da die Lösung der Frage, ob den Erstbeklagten ein Verschulden treffe, von der Auslegung des § 12 Abs. 5 StVO abhänge und dazu eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle, sei die Revision für zulässig zu erklären gewesen (§§ 500 Abs. 3 und 502 Abs. 4 Z 1 ZPO).

Demgegenüber wiederholen die Revisionswerber ihre Auffassung, die Klägerin habe das Alleinverschulden an dem Unfall zu verantworten. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Wenn die Beklagten in ihrer Rechtsrüge vorerst meinen, das Berufungsgericht habe die Bestimmung des § 18 Abs. 3 StVO zu Unrecht nicht angewendet und dies damit begründen, daß auch eine Nebenfahrbahn eine dem Verkehr dienende Verkehrsfläche darstelle, so übersehen sie, daß die genannte Bestimmung darauf abstellt, daß die Fahrzeugkolonne bis zu einer Querstraße (oder eine die Fahrbahn querende Gleisanlage) zurückreicht und nicht schon zu irgendeiner Verkehrsfläche. Im vorliegenden Fall hatte der Erstbeklagte die Absicht, in eine Nebenfahrbahn (§ 2 Abs. 1 Z 4 StVO), also in eine im Sinne des § 19 Abs. 6 StVO untergeordnete Verkehrsfläche einzufahren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind aber – wie das Berufungsgericht zutreffend erkannte – die im § 19 Abs. 6 StVO beispielsweise angeführten Verkehrsflächen keine Querstraßen im Sinne der genannten Gesetzesstelle (ZVR 1972/186; ZVR 1978/313; ZVR 1983/71 uva). Davon abzugehen bietet auch der vorliegende Fall keinen Anlaß. Handelte es sich aber bei den Fahrzeugen, die hinter dem PKW stehen blieben, dessen Lenker dem Erstbeklagten das Zeichen einzubiegen gab, nicht um solche, die gemäß § 18 Abs. 3 StVO anhielten, so galt für die Klägerin auch nicht das Vorbeifahrverbot des § 17 Abs. 4 StVO. Im übrigen entspricht es ebenfalls der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß das in dieser Gesetzesstelle normierte Vorbeifahrverbot ebensowenig wie die Vorschrift des § 18 Abs. 3 StVO einen Einfluß auf die Vorrangregeln hat (ZVR 1982/154 und 209; ZVR 1983/181 ua). Auch ein Verstoß der Klägerin gegen die §§ 17 Abs. 4 und 18 Abs. 3 StVO hätte ihr somit ihren Vorrang nicht genommen, zumal nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes durch die Übertretung von Verkehrsvorschriften der Vorrang nicht verloren geht (ZVR 1984/128, 135, 200, 268 uva). Das Berufungsgericht hat daher richtig darauf hingewiesen, daß der der Klägerin anzulastende Verstoß nach § 12 Abs. 5 StVO ihr den ihr gemäß § 19 Abs. 5 StVO zukommenden Vorrang gegenüber dem Erstbeklagten nicht nahm.

In Bekämpfung des dem Erstbeklagten vom Berufungsgericht gemachten Vorwurfes, er hätte bei seinem Einbiegen in Betracht ziehen müssen, daß er einen bevorrangten Verkehrsteilnehmer behindern könnte, wenden sich die Revisionswerber schließlich noch gegen die Auslegung des § 12 Abs. 5 StVO durch das Berufungsgericht. Durch das in dieser Bestimmung normierte Verbot sollten ihrer Ansicht nach alle Gefahren unterbunden werden, die durch das Vorbeischlängeln entstehen könnten. Auch hier kann den Revisionswerbern nicht gefolgt werden. Mit Recht verweist das Berufungsgericht darauf, daß nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung das dort normierte Verbot nur für jene Lenker einspuriger, später herankommender Fahrzeuge gilt, die vorfahren, um sich mit ihren Fahrzeugen weiter vorne aufzustellen. Gerade aus dem von den Revisionswerbern selbst gebrauchten Argument, wonach durch das Verbot des Vorfahrens das sonst oft mehrfach erforderliche Überholen desselben Fahrzeuges unterbunden werden sollte, spricht für die vom Berufungsgericht vertretene Ansicht, denn wenn die Klägerin an der Kolonne vorbei gefahren wäre, um auf Höhe des vor der Zufahrt anhaltenden PKWs nach rechts in die Nebenfahrbahn einzubiegen, so wäre ein neuerliches Überholen der Klägerin durch die Fahrzeuge der Kolonne, an der sie vorbeigefahren war, gar nicht denkbar. Da der PKW, der dem Erstbeklagten das Zeichen zum Einbiegen gab, vor der Zufahrt zur Nebenfahrbahn, in die auch der Erstbeklagte es jedenfalls nicht ausschließen, daß ein Fahrzeug an der anhaltenden Kolonne vorbeifahren und nach rechts in die Nebenfahrbahn einbiegen werde. Bei schlechten Sichtverhältnissen ist aber der im Nachrang befindliche Kraftfahrer verpflichtet, sich „vorzutasten“, um so den Vorrang eines anderen Verkehrsteilnehmers wahren zu können (ZVR 1978/279; ZVR 1979/64 und 164; ZVR 1985/5 uva). Da der Erstbeklagte unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen die erforderliche Vorsicht und Aufmerksamkeit beim Einbiegen nach links außer acht gelassen hat, hat das Berufungsgericht ihm mit Recht eine Verletzung des Vorranges der Klägerin und damit ein Verschulden an dem Unfall angelastet. Von einer mangelnden Haftung der Beklagten für die Unfallsfolgen kann somit überhaupt keine Rede sein.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß Vorrangverletzungen in der Regel schwerer wiegen als andere Verkehrswidrigkeiten. Aus welchen Gründen das von der Klägerin hier gezeigte, einen Verstoß gegen § 12 Abs. 5 StVO darstellende Fahrverhalten
– daß die Klägerin nicht die Absicht gehabt hätte, sich weiter vorne aufzustellen und nach rechts hätte einbiegen wollen, wurde von ihr ja gar nicht behauptet – ein größeres Mitverschulden als der Vorrangverstoß des Erstbeklagten begründen sollte, wird von den Revisionswerbern nicht einmal darzutun versucht und ist der Aktenlage auch nicht zu entnehmen. Die Beklagten können sich daher durch die vom Berufungsgericht vorgenommene Schadensteilung nicht beschwert erachten.

Der Revision mußte somit der Erfolg versagt werden, wobei die Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens im Spruch zum Ausdruck zu bringen war.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

Textnummer

E07547

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0080OB00084.850.0123.000

Im RIS seit

16.01.1995

Zuletzt aktualisiert am

16.01.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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