TE OGH 1986/5/26 8Ob18/86

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Veröffentlicht am 26.05.1986
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Vogel, Dr.Kropfitsch und Dr.Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef S***, Vorarbeiter, 7532 Litzelsdorf 162, vertreten durch Dr.Hans Miksch, Rechtsanwalt in Jennersdorf, wider die beklagten Parteien 1.) Christine K***, Vertragsbedienstete (Hausmädchen), 4532 Rohr, Haselberg 22, und 2.) C*** Versicherungs-AG, 1013 Wien, Börsegasse 14, beide vertreten durch Dr.Josef Lechner, Rechtsanwalt in Steyr, wegen 158.008 S s.A. und Feststellung infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 20.November 1985, GZ 2 R 160/85-38, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Kreisgerichtes Steyr vom 26.April 1985, GZ 2 Cg 365/83-30, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger ist schuldig, den Beklagten die mit 4.937,09 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Barauslagen von 1.200 S und die Umsatzsteuer von 339,74 S) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 20. Juli 1982 ereignete sich auf der Voralpen-Bundesstraße B 122 zwischen Sierning und Bad Hall im Bereiche des Hametwaldes im Gemeindegebiet von Waldneukirchen ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Bauvorarbeiter auf der dortigen Baustelle und die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin eines PKWs Fiat 128 beteiligt waren. Die Zweitbeklagte war zum Unfallszeitpunkt Haftpflichtversicherer des Fahrzeuges der Erstbeklagten. Die Erstbeklagte wurde vom Bezirksgericht Grünburg rechtskräftig schuldig erkannt, daß sie im Baustellenbereich des Bauloses Hametwald den die Straße von rechts nach links überquerenden Kläger zu spät sah und zu Boden stieß, wodurch der Kläger eine schwere Körperverletzung, nämlich einen Sprung am Kahnbein rechts, eine Zerrung der rechten Schulter, eine Prellung und Hautabschürfungen am linken Unterschenkel erlitt. Hiedurch hat sie das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 1. Fall StGB begangen. Die von der Erstbeklagten dagegen erhobene Berufung blieb im Schuldausspruch erfolglos. In seinen Feststellungen ging das Strafgericht davon aus, daß sich die Erstbeklagte mit ihrem PKW unter Zugrundelegung einer Annäherungsgeschwindigkeit von 30 km/h 29,56 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt befand, als der Kläger hinter einem Bagger hervor auf die Fahrbahn trat. Sie leitete 12,09 m vor der späteren Zusammenstoßstelle eine Vollbremsung ein und reagierte zumindest 0,83 bis 1,53 Sekunden zu spät. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger von den Beklagten zur ungeteilten Hand insgesamt 158.008 S s.A., davon an Schmerzengeld 157.400 S und an Spesen 608 S; weiters stellte er ein Feststellungsbegehren. Die Erstbeklagte treffe das Alleinverschulden an diesem Unfall, weil sie im Baustellenbereich trotz einer gestaffelten Geschwindigkeitsbeschränkung von 70, 50 und 30 km/h einen vor ihr fahrenden LKW mit 50 bis 60 km/h überholt und dadurch den Kläger übersehen und niedergestoßen habe. Außerdem liege ihr eine verspätete Reaktion zur Last.

Die Beklagten wendeten ein, den Kläger treffe das überwiegende Verschulden, weil er überraschend und ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten die Fahrbahn der Bundesstraße betreten habe. Die Erstbeklagte habe die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h nicht überschritten; es sei ihr höchstens eine verspätete Reaktion im Ausmaß von 0,83 bis maximal 1,53 Sekunden anzulasten. Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren - ausgehend vom Alleinverschulden der Erstbeklagten - mit 140.608 S s.A. sowie dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt und wies das Mehrbegehren von 17.400 S s.A. ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es - ausgehend von einem Mitverschulden des Klägers von einem Viertel - diesem nur 105.456 S s.A. zuerkannte und das Feststellungsbegehren nur mit drei Viertel als berechtigt erachtete. Das Gericht zweiter Instanz sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschied, nicht 300.000 S und im bestätigten Teil nicht 60.000 S übersteigt. Aus Anlaß der Revision des Klägers berichtigte (ergänzte) es den Urteilsspruch dahin, daß es die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO für zulässig erklärte. Es bedürfe die Frage, ob ein auf einer Straßenbaustelle beschäftigter Bauarbeiter ebenfalls den Bestimmungen über den Fußgängerverkehr nach § 76 StVO unterliege, der Klarstellung durch das Höchstgericht. Die Beklagten beantragen in der daraufhin erstatteten Revisionsbeantwortung, die Revision entweder zurückzuweisen oder ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zwar zulässig, weil das Berufungsgericht in seiner Begründung von der ständigen Judikatur des Obersten Gerichtshofes abwich; sie ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt. Die Vorinstanzen gingen bei der hier allein noch relevanten Frage des Mitverschuldens des Klägers von folgenden weiteren Feststellungen aus:

Die Erstbeklagte fuhr um ca. 13,30 Uhr mit ihrem PKW auf der Voralpenbundesstraße aus Richtung Sierning kommend in Richtung Bad Hall. Im Gemeindegebiet von Waldneukirchen befand sich im Bereich des Hametwaldes - in Fahrtrichtung der Erstbeklagten gesehen - auf dem rechten Fahrstreifen eine Baustelle, die mit den Vorschriftszeichen "Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h, dann 50 km/h und schließlich 30 km/h" sowie dem Vorschriftszeichen "Wartepflicht bei Gegenverkehr" abgesichert war. Darüber hinaus war die rechte Fahrbahnhälfte durch einen rot-weiß-rot gestrichenen Schranken abgesperrt. Die mit Rauhasphalt belegte Fahrbahn war zur Unfallszeit trocken; die Sicht auf die spätere Unfallstelle betrug mehrere hundert Meter.

Der Kläger war mit seiner Arbeitspartie damit beschäftigt, die Straßenböschungen der neuen Trasse mit Humus zu versehen. Zu diesem Zweck wurde je nach Gegebenheiten Humus von der rechten oder linken Straßenseite mittels Bagger herangeholt und auf den Böschungen verteilt. Der Bagger war zu dieser Zeit mit der Schaufel Richtung Bad Hall weisend auf dem rechten abgeschrankten Fahrstreifen rund 0,5 m links der Mittellinie abgestellt, weil an der Böschung auf dieser Straßenseite gearbeitet wurde. Da von der anderen Straßenseite Erde benötigt wurde, wollte der Kläger den Baggerfahrer Otto W*** dorthin einweisen und begann, hinter dem Bagger hervortretend, die Fahrbahn zu überqueren, nachdem bereits unmittelbar vorher Johann L*** auf die andere Straßenseite (das ist die für die Erstbeklagte linke Straßenseite) gegangen war. Außer den genannten Arbeitern waren noch zwei weitere Arbeiter mit Planierungsarbeiten an der rechten Straßenböschung beschäftigt. Die Erstbeklagte näherte sich zu dieser Zeit aus Richtung Sierning kommend der Baustelle, überholte zunächst im Bereich der Geschwindigkeitsbeschränkungen zwischen 50 km/h und 30 km/h den von Bernhard H*** gelenkten LKW und durchfuhr anschließend den Baustellenbereich auf der linken, nicht abgeschrankten Seite mit einer Geschwindigkeit von mindestens 30 km/h. Als sie noch rund 30 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt war, trat der Kläger hinter dem Bagger hervor und begann, mit dem Rücken in Richtung der Erstbeklagten weisend und mit den Händen gestikulierend, über die Fahrbahn zu gehen. Er hatte, bevor er mit dem Überqueren der Fahrbahn begann, zwar den schon langsamer werdenden, von Bernhard H*** gelenkten LKW gesehen, nicht aber den PKW der Klägerin wahrgenommen.

Die Erstbeklagte reagierte zunächst auf den über die Fahrbahn mit einer Geschwindigkeit von 4 km/h gehenden Kläger nicht, sondern leitete erst knapp 12 m bzw. 2 Sekunden vor Erreichen der späteren Kollisionsstelle eine Vollbremsung (mit einer Bremsverzögerung von mindestens 7,5 m/sec 2 ) ein.

Der Kläger wurde, als er sich noch etwa 1 m vom linken Fahrbahnrand entfernt befand, von der Stirnseite des PKW erfaßt und zu Boden geschleudert. Er hatte vom abgestellten Bagger bis dorthin eine Wegstrecke von knapp 4 m in einer Zeitspanne von rund 3,5 Sekunden zurückgelegt.

Auf einer Strecke von 29,56 m hätte bei Berücksichtigung der Reaktions- und Bremsansprechzeit die Anhaltestrecke rund 12 m bis zum Stillstand betragen; es wäre sogar bei einer leichten Bremsung mit einer Bremsverzögerung von 1,75 m/sec 2 ein Anhalten vor dem Kläger möglich gewesen. Dadurch wäre außerdem ein Zeitgewinn von 1,6 Sekunden erreichbar gewesen. In dieser Zeit hätte der Kläger bei normalem Gehen mit 4 km/h eine weitere Wegstrecke von 1,75 m zurückgelegt, und er wäre beim Erreichen der Überquerungsstelle durch den PKW der Erstbeklagten 1 m links außerhalb des PKWs gewesen. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß das Verschulden der Erstbeklagten schon auf Grund des rechtskräftigen Strafurteiles gegeben sei. Hingegen sei dem Kläger ein Mitverschulden nicht anzulasten. Er sei im Zuge von Bauarbeiten berechtigt gewesen, die Fahrbahn zu betreten und auch Anweisungen zu geben, durch die unter Umständen der fließende Verkehr behindert und aufgehalten werde. Es sei Aufgabe der Autolenker, in solchen Situationen besonders aufmerksam und reaktionsbereit zu fahren und sich auf das Verhalten der Bauarbeiter einzustellen.

Das Berufungsgericht vertrat jedoch die Auffassung, daß auch für den Kläger als Bauarbeiter die Vorschrift des § 76 Abs 4 lit b StVO gelte, wonach Fußgänger an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt und ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann auf die Fahrbahn treten dürfen, wenn sie sich vergewissert haben, daß sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden. Nach ständiger Rechtsprechung hätten Fußgänger vor dem Betreten der Fahrbahn sorgfältig zu prüfen, ob sie die Straße noch vor dem Eintreffen von Kraftfahrzeugen mit Sicherheit überqueren können. Bei Erreichen der Fahrbahnmitte müsse sich der Fußgänger neuerlich vergewissern, ob sich von rechts ein Fahrzeug nähert. Er habe stehenzubleiben, wenn ein Fahrzeug so nahe ist, daß eine gefahrlose Fahrbahnüberquerung vor diesem nicht mit Sicherheit möglich ist. Diesen Verpflichtungen habe das Verhalten des Klägers in keiner Weise entsprochen. Er habe das Fahrzeug der Erstbeklagten trotz uneingeschränkter objektiver Wahrnehmbarkeit überhaupt nicht gesehen, was nur damit erklärbar sei, daß er sich weder beim Betreten der Fahrbahn noch bei Erreichen der für den Verkehr freien Fahrstreifenmitte darum kümmerte, ob von links ein Fahrzeugverkehr herankam. Der Kläger habe in völliger Sorglosigkeit und unter Mißachtung der erwähnten gesetzlichen Vorschriften, die auch im Bereich einer Baustelle ihre Gültigkeit haben, die Fahrbahn überquert, ohne dem von links kommenden Fahrzeugverkehr irgendeine Beachtung zu schenken. Er sei vielmehr mit dem Rücken in Fahrtrichtung der Erstbeklagten und mit den Händen gestikulierend über die Fahrbahn gegangen. Obwohl der Kläger als Vorarbeiter auf dieser Baustelle tätig war, habe er keinesfalls derart sorglos die freie Fahrbahnhälfte überqueren dürfen. Auch im Baustellenbereich könne der Kläger nicht davon entbunden werden, mit dem allenfalls herankommenden Fließverkehr Sichtkontakt aufzunehmen. Ein Aufhalten des fließenden Verkehrs in Baustellenbereichen werde zweifelsohne in vielen Fällen notwendig und unumgänglich sein; das berechtige deshalb aber noch niemanden und erst recht nicht einen für die Baustellensicherung mitverantwortlichen Vorarbeiter, die für den fließenden Verkehr bestimmten Flächen rückwärtsgehend ohne einen Blick nach hinten zu betreten und zu überqueren. Der Sorgfaltsverstoß des Klägers wiege so schwer, daß er auch gegenüber dem grob verkehrswidrigen Fehlverhalten der Erstbeklagten nicht nur als geringfügig eingeschätzt und vernachlässigt werden könne. Es sei daher die Bewertung seines Mitverschuldens im Sinne des § 7 Abs 1 EKHG mit einem Viertel gerechtfertigt.

Demgegenüber stellt sich die Revision des Klägers auf den Standpunkt des Erstgerichtes.

Im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichtes ist zunächst davon auszugehen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ein mit der Durchführung von Straßenarbeiten auf einer Baustelle befaßter Arbeiter - wie dies der Kläger

war - grundsätzlich nicht den Regeln der StVO über den Fußgängerverkehr unterworfen ist (ZVR 1968/184; ZVR 1973/86; 2 Ob 204/72; 8 Ob 169/73; ZVR 1980/10 u.a.). Der Kläger war an sich auch nicht verpflichtet, eine Schutzausrüstung im Sinne des § 98 Abs 2 StVO zu tragen, weil die Arbeiten durch das Gefahrenzeichen "Baustelle" (§ 50 Z 9 StVO) gekennzeichnet waren (siehe S 109 des Strafaktes U 253/82); eine solche Verpflichtung wird von den Parteien demgemäß auch nicht releviert.

Die dargestellten Grundsätze enthoben aber den Kläger nicht, jene Sorgfalt gegenüber seiner körperlichen Integrität an den Tag zu legen, die unter den gegebenen Umständen unerläßlich war, um ihn vor Schaden zu bewahren (vgl. auch 2 Ob 204/72 u.a.). Insoweit verwies das Berufungsgericht zutreffend darauf, daß es einer sträflichen Leichtsinnigkeit und Sorglosigkeit gleichkam, wenn der als Vorarbeiter auf der Straßenbaustelle fungierende Kläger - ohne dem aus Richtung Sierning kommenden Verkehr die geringste Aufmerksamkeit zu schenken und mit dem Rücken der Erstbeklagten zugewandt - die für den Verkehr frei gebliebene restliche Fahrbahnhälfte überquerte. Er mußte jedenfalls damit rechnen, daß sich aus der genannten Richtung kommende Fahrzeuge bereits so nahe befanden, daß sie selbst bei optimaler Reaktion des Lenkers nicht mehr zeitgerecht angehalten werden konnten. Wenngleich zwar das überwiegende Verschulden am Unfall der Erstbeklagten angelastet wurde, weil sie infolge Unaufmerksamkeit eine grobe Reaktionsverzögerung zu verantworten hat, war das Mitverschulden des Klägers im dargestellten Sinn demnach nicht zu vernachlässigen. Er kann sich vielmehr durch den ihm angelasteten Mitverschuldensanteil von einem Viertel nicht als beschwert erachten.

Seiner Revision war daher der Erfolg zu versagen.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

Anmerkung

E08279

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1986:0080OB00018.86.0526.000

Dokumentnummer

JJT_19860526_OGH0002_0080OB00018_8600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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