TE OGH 1987/4/7 2Ob20/87

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Veröffentlicht am 07.04.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Mario L***, geboren am 27. März 1974, derzeit Hirtenkloster Graz, vertreten durch Dr. Franz Gölles, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagten Parteien 1. Johann G***, Hilfsarbeiter, Thalleinerstraße 10, 8570 Voitsberg, 2. A*** E*** V*** A***,

Bösendorferstraße 13, 1015 Wien, beide vertreten durch Dr. Werner Thurner, Dr. Peter Schaden, Rechtsanwälte in Graz, wegen S 813.308,50 s.A. und Feststellung, infolge Revision aller Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 22. Dezember 1986, GZ 2 R 194/86-51, womit infolge Berufung aller Parteien das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 23. Juli 1986, GZ 6 Cg 298/84-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision der beklagten Parteien wird nicht Folge gegeben. Der Revision des Klägers wird teilweise Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung einschließlich des unangefochten gebliebenen und des bestätigenden Teiles insgesamt zu lauten hat:

"1. Es wird festgestellt, daß die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand dem Kläger für drei Viertel aller künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 24. Dezember 1982 ersatzpflichtig sind; die Haftung der zweitbeklagten Partei als Haftpflichtversicherin ist mit der Versicherungssumme des Haftpflichtversicherungsvertrages betreffenden PKW Simca 1301, St 745.211, für den Unfallszeitpunkt begrenzt.

2. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger binnen 14 Tagen bei Exekution den Betrag von S 586.273,35 samt 4 % Zinsen aus S 540.371,40 vom 25. Oktober 1984 bis 26. Dezember 1984, 4 % Zinsen aus S 480.000,-- seit 27. Dezember 1984, 9,875 % Zinsen aus S 52.378,10 seit 27. Dezember 1984 und 4 % Zinsen aus S 53.886,41 seit 7. März 1986 zu bezahlen.

3. Das Mehrbegehren auf Feststellung der Ersatzpflicht der beklagten Parteien für alle künftigen Schäden über das Ausmaß von drei Vierteln hinaus, das Mehrbegehren auf Zahlung eines Betrages von S 227.035,15 samt Zinsen sowie das Zinsenmehrbegehren werden abgewiesen.

Die beklagten Parteien haben zur ungeteilten Hand dem Kläger die mit S 66.141,10 bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz und die mit S 8.830,80 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Der Kläger hat den Beklagten die mit S 5.197,25 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen."

Die beklagten Parteien haben weiters zur ungeteilten Hand dem Kläger die mit S 6.847,99 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Der Kläger hat den Beklagten die mit S 5.921,44 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 24. Dezember 1982 um 12,25 Uhr fuhr der stark alkoholisierte (1,9 %o Blutalkoholgehalt) Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW auf der 6,2 m breiten steiermärkischen Landesstraße 317 mit einer Geschwindigkeit von 65 bis 70 km/h in einem Tiefenabstand von ca. 40 m hinter einem anderen PKW. Auf eine Entfernung von etwa 200 m konnte er den damals 8 3/4 Jahre alten Kläger sehen, der die Fahrbahn von rechts nach links überqueren wollte. Die Lenker beider PKW verminderten die Geschwindigkeit auf etwa 56 km/h. Wegen des vorderen PKWs blieb der Kläger stehen, machte einen Schritt zurück, ließ diesen PKW vorbeifahren und blickte ihm nach. Der Erstbeklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von 56 km/h weiter, gab kein Hupzeichen und rechnete damit, der Kläger werde stehen bleiben. In diesem Fall wäre der Erstbeklagte in einem Seitenabstand von ca. 1,60 m am Kläger vorbeigefahren. Der Kläger lief jedoch, ohne vorher nach links geblickt zu haben, plötzlich los, stieß gegen den PKW und erlitt sehr schwere Verletzungen. Der Kläger war damals 1,25 m groß und besuchte die dritte Klasse der Volkschule. Er hatte in der Schule Verkehrsunterricht gehabt, auch seine Mutter hatte ihm gesagt, daß er bei Straßenüberquerungen nach rechts und links schauen müsse. Der Erstbeklagte wurde wegen des Unfalles vom Strafgericht des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 (§ 81 Z 2) StGB schuldig erkannt.

Der Kläger begehrt Ersatz eines Betrages von S 813.308,50 (darin eine Verunstaltungsentschädigung von S 150.000,--) samt 4 % Zinsen. Für einen Teil seines Begehrens fordert er wegen eines aufgenommenen Kredites 9,875 % Zinsen. Weiters begehrt der Kläger die Feststellung der Haftung der Beklagten - jene der Zweitbeklagten beschränkt mit der Haftpflichtversicherungssumme - für seine künftigen Schäden. Die Beklagten wendeten ein, das überwiegende Verschulden treffe den Kläger.

Das Erstgericht ermittelte einen Schaden des Klägers in der Höhe von S 761.697,80 (darin S 130.000,-- Verunstaltungsentschädigung), sprach dem Kläger hievon zwei Drittel, somit S 507.798,52 samt stufenweisen Zinsen zu und gab dem Feststellungsbegehren insoweit statt, als die Haftung der Beklagten für zwei Drittel der künftigen Schäden des Klägers festgestellt wurde. Das Feststellungs- und das Leistungsmehrbegehren sowie das Zinsenmehrbegehren wurden abgewiesen.

Bei der Schadensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Gunsten des Klägers lastete das Erstgericht dem Erstbeklagten an, daß er weder angehalten noch mit dem Kläger Kontakt aufgenommen habe und daß er schwer alkoholisiert gewesen sei. Vom Kläger habe allerdings Einsicht in die grundlegenden Verkehrsregeln des § 76 Abs 1 StVO erwartet werden können, sein Verschulden sei aber milder zu beurteilen als das eines Erwachsenen.

Das Berufungsgericht gab den Berufungen des Klägers und der beklagten Parteien nicht Folge. Der Erstbeklagte könne sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, er habe also nicht darauf vertrauen dürfen, daß sich der Kläger verkehrsgerecht verhalten werde. Nach der Wahrnehmung, daß der Kläger die Fahrbahn überqueren wolle und dem vorbeifahrenden PKW nachblicke, hätte er daher seine Geschwindigkeit herabsetzen und ein Hupzeichen abgeben müssen. Da er diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei, treffe ihn ein sehr erhebliches Verschulden. Andererseits habe vom Kläger aber die Einsicht in die grundlegenden Verkehrsregeln des § 76 Abs 1 StVO erwartet werden können. Wegen des vorschriftswidrigen Überquerens der Fahrbahn sei ihm daher ein Verschulden anzulasten, das aber milder zu beurteilen sei als das eines Erwachsenen. In der Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Gunsten des Klägers könne daher kein Rechtsirrtum erblickt werden. Als Verunstaltungsentschädigung sei ein Betrag von S 130.000,-- angemessen.

Sowohl der Kläger als auch die beklagten Parteien bekämpfen das Urteil des Berufungsgerichtes mit Revision. Der Kläger begehrt Abänderung dahin, daß ein weiterer Betrag von S 273.899,26 zugesprochen und dem Feststellungsbegehren zur Gänze stattgegeben werde, die Beklagten streben hingegen an, daß nur ein Betrag von insgesamt S 380.848,90 zugesprochen und die Haftung der Beklagten nur für 50 % der Unfallsfolgen festgestellt werde.

Die Parteien beantragen jeweils, der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist teilweise berechtigt, nicht jedoch jene der beklagten Parteien.

Zur Revision der Beklagten:

Die Beklagten vertreten die Ansicht, ein Verschulden des Erstbeklagten sei nur daraus abzuleiten, daß der Kläger ein Kind sei, dem gegenüber der Vertrauensgrundsatz nicht gelte. Hätte es sich um einen erwachsenen Fußgänger gehandelt, wäre der Unfall für den Erstbeklagten ein unabwendbares Ereignis gewesen. Eine überhöhte Geschwindigkeit oder eine Reaktionsverspätung sei dem Erstbeklagten nicht anzulasten, es habe sich also nicht um einen typischen Alkoholunfall gehandelt. Der Kläger habe das unfallsauslösende Verschuldensmoment zu vertreten. Der Unfall habe sich beim Hintereinanderfahren ereignet, für den Erstbeklagten sei es nicht erkennbar gewesen, daß der Kläger gerade sein Fahrzeug nicht vorbeifahren lassen würde. Es sei daher eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 vorzunehmen.

Die von den beklagten Parteien gar nicht bekämpfte Ansicht der Vorinstanzen, der Erstbeklagte habe gemäß § 3 StVO nicht auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des nur 1,25 m großen, noch nicht einmal neun Jahre alten Klägers vertrauen dürfen, entspricht der ständigen Rechtsprechung (2 Ob 7/68, 2 Ob 175/75, 8 Ob 170/81 ua). Der Erstbeklagte bemerkte, daß der Kläger die Straße überqueren will und in die andere Richtung schaut. Er hätte daher nicht ohne Abgabe eines Hupzeichens mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfahren dürfen. Darin, daß er dies getan hat, liegt ein erhebliches Verschulden. Dazu kommt, daß der Erstbeklagte alkoholisiert war, weshalb sein schuldhaftes Fehlverhalten im Sinne der ständigen Rechtsprechung als vermehrt schwerwiegend zu beurteilen ist (ZVR 1981/181, ZVR 1982/148, ZVR 1983/19, ZVR 1984/195, ZVR 1985/21 uva).

Das Verschulden des Erstbeklagten ist daher wesentlich schwerer als das des unmündigen Klägers, weshalb der Revision der beklagten Parteien ein Erfolg zu versagen war.

Zur Revision des Klägers:

a) Zur Verschuldensteilung:

Die Ansicht des Klägers, es sei ihm kein Verschulden am Unfall anzulasten, kann nicht geteilt werden. Nach ständiger Rechtsprechung sind Unmündige nicht unter allen Umständen deliktsunfähig. Ihre Verantwortlichkeit ist vielmehr unter Berücksichtgung des Maßes an Einsicht, das bei ihnen zur Zeit des Unfalles vorhanden war und der Art ihres für den Unfall ursächlichen Verhaltens im Einzelfall zu prüfen (EFSlg 33.748, 33.758, 36.170, 41.093, 43.512 uva). Von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wurde daher auch bei Volkschulkindern (die teilweise sogar jünger waren als der Kläger) ein Verschulden angenommen, wenn sie gegen die grundlegenden Verkehrsregeln des § 76 Abs 1 StVO verstießen (EFSlg 36.172, 38.580, 41.101, 48.642 uva). Da der Kläger bereits die dritte Klasse Volkschule besuchte, Verkehrsunterricht erhalten hatte und auch von seiner Mutter entsprechend unterwiesen worden war, besteht keinerlei Grund, im vorliegenden Fall anders zu entscheiden.

Bei der Schadensteilung ist allerdings zu berücksichtigen, daß das Mitverschulden Unmündiger milder zu beurteilen ist, als unter gleichen Umständen das Verschulden Erwachsener (EFSlg 43.510, 46.084, 48.624 uva). In Fällen, in denen dem Kraftfahrzeuglenker ein schwerwiegendes Verschulden anzulasten ist, wurde daher im allgemeinen eine Schadensteilung im Verhältnis von 3 : 1 zu Gunsten des die Straße unvorsichtig betretenden Kindes vorgenommen (2 Ob 73/77, 2 Ob 174/83, 2 Ob 45, 46/85). Da dem Erstbeklagten wegen seiner Alkoholisierung ein schwerwiegendes Verschulden trifft, ist auch im vorliegenden Fall eine Schadensteilung in diesem Verhältnis berechtigt.

b) Zur Verunstaltungsentschädigung:

Maßgebend für die Höhe der Entschädigung nach § 1326 ABGB sind nach ständiger Rechtsprechung das Ausmaß der Entstellung des Verletzten und die Größe der Wahrscheinlichkeit der durch die Verunstaltung bedingten Behinderung seines besseren Fortkommens (EFSlg 48.662 uva). Im vorliegenden Fall ist für die Bemessung der Verunstaltungsentschädigung insbesondere von Bedeutung, daß beim Kläger auf Grund der Unfallsverletzung eine Deformierung der Nase, Narben im Gesicht und anderen Körperteilen, eine Facialisparese links und dauernder Speichelfluß aus dem linken Mundwinkel bestehen, daß er eine verwaschene und verlangsamte Sprache hat und eine Gangbehinderung und Bewegungseinschränkung im Sinne einer traumatischen, spastischen, inkompletten Tetraplegie aufweist. Die Gangbehinderung ist derart, daß der Kläger auf die Benützung eines Selbstfahrstuhles angewiesen ist. Es handelt sich somit insgesamt um eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der äußeren Erscheinung, sodaß eine darauf zurückführende Behinderung des besseren Fortkommens in hohem Maße wahrscheinlich ist. Der als Entschädigung nach § 1326 ABGB begehrte Betrag von S 150.000,-- ist daher nicht überhöht, er entspricht vielmehr den Beträgen, die in den letzten Jahren Kindern bei ähnlich gravierenden Verunstaltungen zugesprochen wurden (1 Ob 607/82, 8 Ob 273/82, 8 Ob 35/84). Zu dem vom Erstgericht ermittelten Schaden des Klägers kommen daher weitere S 20.000,--, sodaß sich ein Betrag von insgesamt S 781.697,80 ergibt. Davon hat der Kläger Anspruch auf drei Viertel, somit auf S 586.273,35 samt stufenweisen Zinsen. Dabei wurde der vom Erstgericht vorgenommenen Zinsenberechnung unter Berücksichtigung der geänderten Schadensteilung und der erhöhten Verunstaltungsentschädigung gefolgt. Auch das Feststellungsbegehren war entsprechend der Schadensteilung abzuändern.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz gründet sich auf § 43 Abs 1 und 2 ZPO, jene über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens auf die §§ 40, 41 und 50 ZPO.

Anmerkung

E10704

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0020OB00020.87.0407.000

Dokumentnummer

JJT_19870407_OGH0002_0020OB00020_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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