TE OGH 1987/7/15 1Ob32/87

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Veröffentlicht am 15.07.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Hofmann, Dr. Schlosser und Dr. Redl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Heinz H*****, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr. Michael Metzler, Rechtsanwalt in Linz, wider die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1., Singerstraße 17-19, wegen restlicher S 75.000,-- samt Anhang infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 9. März 1987, GZ. 14 R 15/87-42, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 6. Oktober 1986, GZ. 52/55 Cg 1009/84-37, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben; die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie einschließlich des bereits in erster Instanz rechtskräftig erfolgten Zuspruchs zu lauten haben:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 60.000 samt 4 % Zinsen seit 1.6.1983 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei die mit S 31.933,60 bestimmten Prozeßkosten und Kosten der Rechtsmittelverfahren (darin enthalten S 2.827,60 Umsatzsteuer und S 830,-- Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde mit Urteil des Geschwornengerichtes beim Landesgericht Innsbruck vom 12. 6. 1968, 10 Vr 2557/66-119, wegen des Verbrechens des Meuchelmordes nach den §§ 134, 135 StG zu einer schweren Kerkerstrafe von 20 Jahren verurteilt. Der Kläger verbüßte diese Strafe in der Männerstrafanstalt Garsten. Mit Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 29. 4. 1981, 10 Bs 16/81-77, wurde in Abänderung des Beschlusses des Kreisgerichtes Steyr vom 2. 12. 1980, 11 b Nc 524/80-65, dem Kläger der Rest der über ihn verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 46 Abs 1 StGB unter Setzung einer fünfjährigen Probezeit bedingt nachgesehen. Es wurde ausgesprochen, daß die Durchführung der Entlassung dem Gericht erster Instanz obliegt. Dieser Beschluß wurde dem Kreisgericht Steyr im Postweg übersendet. Dort geriet er infolge eines Versehens bei der Aktenbündelung bis zum 22. 6. 1981 außer Evidenz. Die Haftentlassung des Klägers erfolgte erst am 25. 6. 1981, 8 Uhr. Mit Beschlüssen des Oberlandesgerichtes Linz vom 15. 9. 1982, 8 Ns 500/82, und des Obersten Gerichtshofes vom 31. 1. 1983, 10 Os 199/82, wurde festgestellt, daß ein Ersatzanspruch des Klägers wegen vermögensrechtlicher Nachteile aus der ungerechtfertigten Haft im Zeitraum vom 29. 4. 1981, 12 Uhr, bis 25. 6. 1981, 8 Uhr, zu Recht besteht.

Der Kläger begehrt, gestützt auf die Bestimmungen des § 1 AHG, des § 1329 ABGB und des Art. 5 Abs 5 MRK, den ihm durch die rechtswidrige und schuldhafte Haftverlängerung entstandenen immateriellen Schaden in der Höhe von S 100.000. Die längere Freiheitentziehung sei unter anderem deshalb für ihn mit schwerer Unbill verbunden gewesen, weil er während der Haft an Asthma erkrankt sei und aus diesem Grund die längere Haft umso stärker als Nachteil empfunden habe. Die Haft habe seinen Leidenszustand verlängert. Er habe schon jeden Tag auf die positive Entscheidung des Oberlandesgerichtes Linz gewartet.

Die beklagte Partei bestritt nur die Höhe des geltend gemachten Anspruches. Da der Kläger zu einer 20jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, habe er an die Möglichkeit denken müssen, die gesamte Freiheitsstrafe zu verbüßen. Der Kläger habe sich bereits an die Haftsituation in einer Strafvollzugsanstalt gewöhnt gehabt, sodaß von einem vertieften seelischen Schaden nicht die Rede sein könne. Bei der Ausmessung sei auch zu berücksichtigen, daß der Unrechtsgehalt des Organverhaltens äußerst gering sei. Mit einem Ersatzbetrag von S 150,-- pro Tag, insgesamt also mit S 8.500,--, sei der immaterelle Schaden des Klägers zur Gänze abgegolten. Der Kläger sei während der strafgerichtlichen Anhaltung auch nicht an Asthma erkrankt; er habe sich bester Gesundheit erfreut. Das Erstgericht gab dem Begehren mit dem Betrag von S 25.000 samt Anhang unangefochten statt. Das Mehrbegehren wies es ab. Es stellte fest, der Kläger habe seit 1968 an Lungenasthma gelitten. Dies habe 1979 zu seiner Arbeitsunfähigkeit geführt. Erst etwa ein halbes Jahr nach der Haftentlassung hätten die Asthmaanfälle allmählich abgenommen. Grund für diese Erkrankung sei neben einer anlagebedingten Empfindlichkeit die psychische Belastung durch den Strafvollzug gewesen.

Rechtlich vertrat das Erstgericht die Auffassung, daß eine Gewöhnung des Klägers an die Haft insoweit vorgelegen sei, als die um 56 Tage und 20 Stunden länger dauernde Haft in Anbetracht der davor bereits jahrelangen Haftzeit keine zusätzliche Störung des seelischen Gleichgewichtes und kein zusätzliches Gefühl des Verletztseins beim Kläger hätten verursachen können. Daß der Kläger mit einer positiven Erledigung seiner Beschwerde habe rechnen müssen, sodaß ihm ein längeres Zuwarten ohne Kenntnis von der positiven Erledigung eine ganz besondere Unbill verursacht hätte, sei nicht anzunehmen. Auch bei rechtzeitiger Haftentlassung wäre sein Gesundheitszustand kein besserer gewesen. Die ungerechtfertigte Haft sei also für diese Schmerzen nicht kausal gewesen. Eine Entschädigung von S 25.000 erscheine dem Gericht gemäß § 273 ZPO angemessen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ließ es nicht zu. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes. Bei der Bemessung der Schadenshöhe sei dem Erstgericht kein Rechtsirrtum unterlaufen. Abgesehen von der vom Erstgericht zu Recht angenommenen Gewöhnung an die Situation sei es zu berücksichtigen, daß der Kläger zum Unterschied von den Fällen der ungerechtfertigten gesetzwidrigen Inhaftnahme nicht dem Bewußtsein des gesetzwidrigen Freiheitsentzuges ausgesetzt gewesen sei, da er nicht genau habe wissen können, ab wann die Fortdauer der Haft gesetzwidrig geworden sei. Er sei auch nicht aus dem Berufs- und Familienleben herausgerissen worden und habe daher nicht die damit verbundene Schande für sich und seine Familie fürchten müssen. Unter Berücksichtigung seiner sozialen Stellung, seiner kulturellen Bedürfnisse und der beruflichen Verhältnisse erscheine der vom Erstgericht ausgemessene Betrag von S 25.000 durchaus angemessen.

Die außerordentliche Revision des Klägers ist zulässig, da, wie das Berufungsgericht selbst ausführte, eine Bemessung immateriellen Schadens für die rechtswidrige Verlängerung einer zunächst rechtmäßigen Haft noch nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens war. Sie ist auch teilweise berechtigt.

Die Verletzung der Gefühlswelt durch ungerechtfertigte Haft hat nicht notwendigerweise ein äußeres Erscheinungsbild. Sie ist daher weitaus schwieriger als der immaterielle Schaden bei Körperverletzungen zu objektivieren (JBl 1982, 263 unter Hinweis auf Bydlinski in JBl , 242). Auch dem Ersatz dieses immateriellen Schadens kommt Genugtuungsfunktion zu. Bei Ausmessung eines durch rechtswidrige Haft verursachten immateriellen Schadens stehen daher Dauer und Intensität des erlittenen Ungemachs im Vordergrund der Bemessung (SZ 48/49). Als bestimmende Faktoren für die Bemessung sind weiters die psychophysische Situation des Betroffenen, die Beschaffenheit seiner Gefühlswelt, seine Empfindsamkeit und die Schwankungsbreite seiner Psyche zu berücksichtigen. Die Leistung des Schadenersatzbetrages soll Ausgleich für die entgangene Lebensfreude sein und dem Geschädigten helfen, das gestörte Gleichgewicht seiner Persönlichkeit wieder herzustellen (JBl 1982, 263; SZ 48/69; Reischauer in Rummel, ABGB, Rz 9 zu § 1329; Schwimann-Harrer, ABGB V Rz 4 zu § 1329). Der zu leistende Betrag für die rechtswidrige Verlängerung der Haft des Klägers kann aber nicht unter Bedachtnahme auf die soziale Stellung des Klägers und seine späteren Lebensverhältnisse geringer bemessen werden. Es entspricht bei der Ausmessung des Schmerzengeldes für Körperverletzungen ständiger, von der Lehre überwiegend gebilligter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß die soziale Stellung des Verletzten für die Höhe des zuerkannten Schmerzengeldbetrages ohne Relevanz ist (ZVR 1960/87; ZVR 1959/129; JBl 1953, 382; SZ 25/268; SZ 23/71 ua, zuletzt 1 Ob 527/82; Jarosch-Müller-Piegler, Das Schmerzengeld4 159 f; Schwimann-Harrer aaO Rz 64 zu § 1325; vgl. Mertens in Münchener Kommentar2 § 847 BGB Rz 19; Lorenz, Immaterieller Schade und die billige Entschädigung in Geld, 170 f). Nichts anderes hat auch für die Ausmittlung des Genugtuungsbetrages, sei es nach § 1329 ABGB oder nach Art. 5 Abs 5 MRK, zu gelten. Gegenteiliges wurde auch nicht in der Entscheidung SZ 58/80 = JBl 1986, 114, die einen Notzuchtsfall betraf, in dem auf die soziale Stellung des Opfers hingewiesen wurde, ausgesprochen. Wie bereits Danzl im Sonderheft der ZVR Jänner 1987, Das Schmerzengeld in der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Innsbruck seit der Zivilverfahrensnovelle 1983, 19, FN 244, zutreffend ausführte, wurde nicht etwa dargelegt, daß der sozial Bessergestellte mehr Mittel benötige, um sich entgangene Lebensfreude zu verschaffen als der sozial Unterprivilegierte; die Entscheidungsgründe zeigen vielmehr auf, daß dort auf das Ausmaß der seelischen Qualen der Betroffenen durch die zusätzliche psychische Belastung des vergewaltigten Opfers nach Bekanntwerden der Tat in seiner Umgebung samt nachfolgender Bagatellisierung des Verbrechens und Parteinahme von Teilen der ländlichen Dorfgemeinschaft für den Täter abgestellt wurde. Das dieser Entscheidung zugrundeliegende soziale Umfeld des Opfers war demnach Grundlage für dessen besondere psychische Beeinträchtigung. Daraus wurde eine Erhöhung des Schmerzengeldbetrages abgeleitet. Berücksichtigt man im vorliegenden Fall die nahezu zwei Monate währende rechtswidrige Verlängerung des Freiheitsentzuges und die durch das Asthmaleiden bedingte, wenn auch erst im nachhinein realisierte besondere psychophysische Situation des Klägers sowie die Tatsache, daß sich das Asthmaleiden bald nach der Haftentlassung besserte, weshalb es naheliegt, daß die Besserung, wie der Kläger auch schon während der Haft vermuten mußte, bei früherer Haftentlassung eher eingetreten wäre, erscheint ein Genugtuungsbetrag für die dadurch erlittenen immateriellen Schäden in der Höhe von insgesamt S 60.000 angemessen.

Der Revision ist teilweise Folge zu geben; die Urteile der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, daß dem Kläger über den rechtskräftig zuerkannten Betrag von S 25.000 ein weiterer von S 35.000 zuzusprechen ist.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 43 Abs 2, 50 ZPO bzw. § 43 Abs 2 ZPO. Die Ausmessung des Betrages ist weitgehend vom richterlichen Ermessen abhängig. Kostenbemessungsgrundlage sind daher die jeweils ersiegten Beträge.

Textnummer

E11537

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0010OB00032.870.0715.000

Im RIS seit

31.07.1995

Zuletzt aktualisiert am

17.08.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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