TE OGH 1989/3/7 10ObS84/89

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Veröffentlicht am 07.03.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisions- und Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Franz Köck (Arbeitgeber) und Karl Amsz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gisela H***, Pensionistin, 4170 Haslach, Raiden 9, vertreten durch Dr.Walter Rinner, Rechtsanwalt in Linz, wider die beklagte Partei A*** U***

(Landesstelle Linz), 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Adolf Fiebich, Dr.Vera Kremslehner und Dr.Josef Milchram, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente und Hilflosenzuschusses infolge Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil und Revision (richtig Rekurs) der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. November 1988, GZ 13 Rs 109/88-22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20. April 1988, GZ 15 Cgs 76/87-16, teils bestätigt, teils aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

1. Der als Revision bezeichnete Rekurs der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

2. Der Revision der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die (einschließlich der Umsatzsteuer von 514,50 S) mit 3.087 S bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 13. August 1986 stellte die beklagte Partei für die Folgen des (Arbeits)Unfalls vom 7. November 1983 ab 17. Juni 1986 nach § 209 Abs 1 ASVG eine Dauerrente von 50 vH der Vollrente zuzüglich Zusatzrente und zwei Kinderzuschüssen fest und lehnte die Gewährung eines Hilflosenzuschusses für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 zur Vollrente "bzw" ab 17. Juni 1986 zur Dauerrente von 50 vH der Vollrente nach § 105a ASVG ab. Die Ablehnung der Gewährung eines Hilflosenzuschusses zur Vollrente begründete sie mit mangelnder Hilflosigkeit. Zu der seit 17. Juni 1986 gewährten Teilrente gebühre der Hilflosenzuschuß schon mangels Gewährung einer Vollrente nicht.

Mit der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage begehrte die Klägerin eine Dauervollrente samt Zusatzrente und zwei Kinderzuschüsse ab 17. Juni 1986, für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 einen Hilflosenzuschuß zur Vollrente und ab 17. Juni 1986 einen Hilflosenzuschuß, "soweit dieser nicht durch die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter zu gewähren sei", (welche die Gewährung eines Hilflosenschusses zur Pension ab 17. Juni 1986 bereits bescheidmäßig abgelehnt hatte).

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei, der Klägerin ab 17. Juni 1986 eine Dauervollrente samt Zusatzrente und zwei Kinderzuschüssen im gesetzlichen Ausmaß (Punkt 1.) und für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 (zur Vollrente) einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß (Punkt 2.) zu leisten, wies das auf Leistung eines Hilflosenzuschusses ab 17. Juni 1986 gerichtete Mehrbegehren ab (Punkt 3.) und trug der beklagten Partei auf, der Klägerin für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 eine vorläufige Zahlung von monatlich 2.000 S, ab 17. Juni 1986 von monatlich 8.000 S zu erbringen (Punkt 4.). Schließlich legte es der beklagten Partei den Ersatz der Prozeßkosten auf (Punkt 5.). Das Erstgericht stellte hinsichtlich des Hilflosenzuschusses im wesentlichen fest, daß die Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. November 1983 bis 16. Juni 1986 zwar allein essen und trinken, im Rollstuhl sitzend einfache Mahlzeiten zubereiten, Geschirr abwaschen, sich waschen und frisieren, an- und auskleiden, das Feuer in einem Holz- oder Kohleofen unterhalten und mit Stützkrücken oder im Rollstuhl das Klosett erreichen konnte, jedoch keinen mit Wasser gefüllten Topf tragen, eine Sitzbadewanne nicht allein besteigen oder verlassen, keine Aufräum- oder sonstigen Hausarbeiten verrichten und die Wohnung nicht allein verlassen konnte.

Daraus schloß das Erstgericht, daß die Klägerin bis 16. Juni 1986 hilflos iS des § 105a ASVG war.

Die Klägerin ließ die Abweisung ihres auf einen Hilflosenzuschuß ab 17. Juni 1986 gerichteten Mehrbegehrens (Punkt 3. des erstgerichtlichen Urteils) unbekämpft. Gegen die Punkte 1., 2., 4. u 5. erhob die beklagte Partei Berufung wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil in diesem Umfang im klageabweisenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben. Zum Anspruch auf Hilflosenzuschuß vertrat die Berufungswerberin die Meinung, die Klägerin habe sich vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 in einem unfallbedingten Heilverfahren befunden. Deshalb seien ihr damaliger Gesundheitszustand und die Funktionsausfälle nicht dauernd gewesen, was einen Hilflosenzuschuß ausschließe. Dieser stehe nur dann zu, wenn Wartung und Hilfe für einen längeren, nicht von vornherein absehbaren Zeitraum erforderlich seien. Das Erstgericht habe § 105a ASVG auch nicht iS der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ausgelegt.

Das Berufungsgericht bestätigte den Punkt 2. des erstgerichtlichen Urteils mit Teilurteil, hob die Punkte 1. und 4. ohne Rechtskraftvorbehalt auf, trug dem Erstgericht diesbezüglich eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und änderte Punkt 5. dahin ab, daß es die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehielt.

Die zweite Instanz vertrat zur Frage des Hilflosenzuschusses die Rechtsansicht, das Erstgericht habe § 105a ASVG entsprechend der (seit SSV-NF 1/46 ständigen) höchstgerichtlichen Rechtsprechung ausgelegt. Dazu, wie lange der Bedarf nach Wartung und Hilfe bestehen müsse, um als "ständig" iS der zit Gesetzesstelle zu gelten, habe der Oberste Gerichtshof noch nicht Stellung genommen. Diesbezüglich könne auf die ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien (als seinerzeit letzter Instanz in Leistungsstreitsachen) zurückgegriffen werden, nach der Hilflosigkeit erst dann vorliege, wenn jemand für einen längeren, nicht absehbaren Zeitraum und nicht nur während eines eng begrenzten, vorhersehbaren Zeitraumes ohne wesentliche Unterbrechung ständiger Wartung und Hilfe bedürfe. Mit dem Bescheid der beklagten Partei vom 29. August 1984 sei der Klägerin ab 8. Mai 1984 bis zur Beendigung der Unfallheilbehandlung und der dadurch bedingten völligen Erwerbsunfähigkeit eine Vollrente samt Zusatzrente und Kinderzuschuß zuerkannt worden. Schon daraus ergebe sich, daß zur Zeit der Bescheiderlassung das Ende der Unfallheilbehandlung und der völligen Erwerbsunfähigkeit nicht absehbar gewesen seien. Rückblickend zeige sich auch, daß die völlige Erwerbsunfähigkeit bis zum Ende der Heilbehandlung 25 Monate gedauert habe. Dies stelle einen längeren Zeitraum iS der erwähnten ständigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien dar. Gegen die zutreffende Beurteilung des Erstgerichtes, daß der erforderliche Betreuungsaufwand während des genannten Zeitraumes über dem durchschnittlichen Hilflosenzuschuß gelegen sei, habe die Berufungswerberin nicht vorgebracht. Der Zuspruch eines Hilflosenzuschusses zur Vollrente für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 sei daher berechtigt. Gegen den die Punkte 1. u 4. des erstgerichtlichen Urteils aufhebenden Entscheidung und im Zusammenhang damit auch gegen den Vorbehalt der Kostenentscheidung richtet sich das als Revision bezeichnete Rechtsmittel der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das "Teilurteil" durch gänzliche Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.

Gegen das Teilurteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das Begehren auf Leistung eines Hilflosenzuschusses auch für die Zeit vom 8. Mai 1984 bis 16. Juni 1986 abzuweisen, allenfalls das angefochtene Urteil zwecks neuerlicher Verhandlung und Entscheidung durch das Erstgericht aufzuheben.

Die Klägerin beantragt, der Revision der beklagten Partei nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Zum Rechtsmittel der Klägerin:

Das als Revision bezeichnete Rechtsmittel ist unzulässig. Es richtet sich nicht gegen das den Hilflosenzuschuß betreffende Teilurteil des Berufungsgerichtes, sondern gegen dessen im Berufungsverfahren ergangenen Beschluß, mit dem die Rechtssache hinsichtlich des Begehrens auf Weitergewährung der Vollrente ab 17. Juni 1986 zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen wurde. Gegen diesen Beschluß ist nach dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG unter Berücksichtigung des § 47 Abs 1 ASGG auch in Arbeits- und Sozialrechtssachen anzuwendenden § 519 Abs 1 Z 3 ZPO der Rekurs - wie das Rechtsmittel der Klägerin richtig zu bezeichnen gewesen wäre - nicht statthaft, weil im Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluß des Berufungsgerichtes nicht zugleich ausgesprochen wurde, daß das Verfahren in erster Instanz erst nach eingetretener Rechtskraft dieses Beschlusses aufzunehmen oder fortzusetzen sei, also der sogenannte Rechtskraftvorbehalt fehlt (so auch 29. Juni 1988 9 Ob A 137/88 unter Berufung auf Kuderna, ASGG § 45 Erl 12).

Das Rechtsmittel der Klägerin war daher zurückzuweisen.

Zur Revision der beklagten Partei:

Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision der beklagten Partei ist nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin beharrt auf ihrer schon in der Berufung vertretenen Auslegung, daß "ständige" Hilflosigkeit nur dann vorliege, wenn sie für einen längeren, im voraus nicht absehbaren Zeitraum ohne wesentliche Unterbrechung bestehe. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall gewesen, weil während des unfallbedingten Heilverfahrens eine Vielzahl von stationären und ambulanten Behandlungen einander abgewechselt hätten und bei der gebotenen ex-ante Betrachtung ein "persistierender" und überschaubarer Zustand, insbesondere ein 25 Monate dauerndes Heilverfahren nicht feststellbar gewesen sei.

Der (österreichische) Bundesgerichtshof definierte in seinem Erkenntnis 11. Dezember 1937 BGHSlg 1703/A Hilflosigkeit iS des damals geltenden § 256 Abs 2 GSVG BGBl 1935/107, wonach dem Versicherten, der derart hilflos war, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedurfte, ein Hilflosenzuschuß gebührte, als dauernden und unheilbaren Zustand, der den Versicherten gänzlich und dauernd unfähig macht, wenigstens eine der regelmäßig wiederkehrenden lebenswichtigen Funktionen allein vorzunehmen, so daß er ständig - also ohne wesentliche Unterbrechungen - der Hilfe einer anderen Person bedarf (vgl auch Linzmeier, Der Hilflosenzuschuß DRdA 1956, 41 (43).

Kienastberger, Der Hilflosigkeitsbegriff des ASVG und seine Auslegung durch die bisherige Rechtsprechung DRdA 1956, 149, wies darauf hin, daß die Unheilbarkeit des Zustandes von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter nicht zur Voraussetzung der Gewährung eines Hilflosenzuschusses gemacht werde. Diese Anstalt habe den Zuschuß vielmehr auch zu Renten wegen vorübergehender Invalidität gewährt, in denen der Gesundheitszustand also als durchaus besserungsfähig anzusehen gewesen sei. Die Unheilbarkeit einer Erkrankung stelle daher kein zwingendes Erfordernis für die Zuerkennung des Hilflosenzuschusses dar.

Linzmeier, Gedanken zum Hilflosenzuschuß DRdA 1957, 98 (102), berichtet, daß sämtliche Senate des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Wien insofern dem zitierten E des Bundesgerichteshofes nicht gefolgt seien, als sie das Merkmal der Unheilbarkeit nicht mehr verlangt bzw stillschweigend übergangen hätten. Als Hilflosigkeit sei demnach jener dauernde Zustand anzusehen, der den Versicherten gänzlich und dauernd unfähig mache, wenigstens eine der regelmäßig wiederkehrenden lebenswichtigen Funktionen allein vorzunehmen, so daß er ständig, dh ohne wesentliche Unterbrechung, der Hilfe einer anderen Person bedürfe. Durch die Weglassung des Merkmales der Unheilbarkeit erscheine es nun schwierig, das Merkmal "dauernd" zu definieren. Dem Artikelverfasser sei auch keine Definition durch ein Schiedsgericht bekannt geworden. Tatsächlich sei es auch nahezu unmöglich, hier eine entsprechende Begrenzung im Hinblick darauf zu finden, daß nunmehr auch Beziehern einer Invaliditätsrente wegen vorübergehender Invalidität ein Hilflosenzuschuß gewährt werden könne. Es müsse daher dem einzelnen Fall überlassen bleiben, die untere Grenze des Merkmales "dauernd" zu bestimmen. Die obere Grenze werde ohnehin durch die Dauer der Rentengewährung bestimmt.

Zrubecky-Prähauser, VersRSch 1968, 345 (349), erwähnen, daß ständige Hilfsbedürftigkeit einen länger dauernden Zustand voraussetze, in dem Hilfe ohne wesentliche Unterbrechung zur Verfügung stehen müsse.

Kuderna, Der Begriff der Hilflosigkeit im ASVG DRdA 1968, 188 (190f), ging auf diese Problematik näher ein und wies darauf hin, daß dem Tatbestandsmerkmal "ständig" eine zweifache Bedeutung zukomme: es erstrecke sich einerseits auf die Häufigkeit der einzelnen Betreuungsmaßnahmen, also auch die Frequenz innerhalb einer Zeiteinheit, andererseits auf die Gesamtdauer der notwendigen Pflege. Die Betreuungsmaßnahmen müßten innerhalb gewisser kurzer Zeitabstände immer wieder notwendig sein. Außerdem habe der Zustand der Hilflosigkeit während eines bestimmten längeren Zeitraumes anzudauern. Eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Mindestdauer der Betreuungsbedürftigkeit könne nur unter Berücksichtigung der näheren Umstände des Einzelfalles unter Bedachtnahme auf die mit der Gewährung des Hilflosenzuschusses verbundene Absicht des Gesetzgebers gefunden werden. Die Mindestdauer werde sich danach richten, ob der Leistungsempfänger für den Fall des Unterbleibens oder Aufschiebens derartiger lebensnotwendiger Verrichtungen, die er infolge seines Leidenszustandes nicht allein vornehmen könne, verkommen müßte. Von Bedeutung sei auch die Vorhersehbarkeit der Dauer und des (den Wegfall der Betreuungsbedürftigkeit bedingenden) Erfolges des Heilungsprozesses. Seien Dauer oder Heilungserfolg nicht absehbar, sei die Wartungs- und Hilfebedürftigkeit ständig gegeben. Für den anderen Fall gelte das oben Gesagte (also die Berücksichtigung der näheren Umstände des Einzelfalles). Lägen die übrigen Voraussetzungen der Hilflosigkeit für einen längeren, wenn auch zeitlich begrenzbaren Zeitraum vor, gebühre daher entgegen der E des Oberlandesgerichtes Wien SSV 5/127 ebenfalls der Hilflosenzuschuß. Die in der E des Oberlandesgerichtes Wien SSV 3/18 verlangte Voraussetzung eines hinsichtlich seiner Dauer nicht vorhersehbaren Zustandes sei insofern inkonsequent, als darin - wenn auch im nachhinein - ein Hilflosenzuschuß für eine begrenzte Zeit zugesprochen worden sei. Für die Wartungs- und Hilfebedürftigkeit sowie für die dem Leistungsbezieher für den Fall des Unterbleibens der ihm nicht zumutbaren lebensnotwendigen Verrichtungen drohenden Folgen sei es jedoch ohne jede Bedeutung, ob die zeitliche Dauer und der Heilungserfolg bereits im vorhinein prognostiziert oder erst im nachhinein festgestellt werden könnten. Das Postulat der Vorhersehbarkeit führe daher zu einer unterschiedlichen Behandlung grundätzlich gleichartiger Fälle. Dazu komme, daß die von den ärztlichen Sachverständigen retrospektiv getroffenen Vorhersagen keineswegs immer eine gesicherte Grundlage besäßen. Die Sachverständigen wendeten oft nur Erfahrungssätze an oder ließen sich vom tatsächlichen Heilungsverlauf leiten. Die analoge Anwendung des § 256 ASVG dränge sich im übrigen geradezu auf. Schließlich bestehe auch die Möglichkeit, einen unbefristet gewährten Hilflosenzuschuß unter Berufung auf § 99 ASVG zu entziehen. Nach Tomandl, System 51, werde aus dem Wort "ständig" unbestritten gefolgert, daß die Betreuungsbedürftigkeit nicht bloß vorübergehender Natur sein dürfe.

Kuderna, Der Anspruch auf Hilflosenzuschuß im Wandel der Judikatur DRdA 1988, 293 (300), verweist auf die schon in seinem Artikel DRdA 1968, 190 erwähnte zweifache Bedeutung des Begriffsmerkmales "ständig", die sich sowohl auf die Gesamtdauer der notwendigen Betreuung als auch auf die Häufigkeit der einzelnen Betreuungsmaßnahmen, also auf deren Frequenz innerhalb einer Zeiteinheit, erstrecke. Weil die erstgenannte Bedeutung in der Praxis kaum Anlaß zu Auslegungsproblemen gebe, möge es genügen, darauf hinzuweisen, daß sich das erforderliche Mindestausmaß der Gesamtdauer der Betreuungsbedürftigkeit danach richte, ob der Behinderte für den Fall des Unterbleibens oder des Aufschiebens lebensnotwendiger Verrichtungen in seiner persönlichen Existenz ernsthaft bedroht wäre. Das setze eine entsprechend kostenintensive Betreuungsbedürftigkeit während eines eng begrenzten Zeitraumes voraus.

Das bis 31. Dezember 1986 als letzte Instanz in Leistungsstreitsachen zuständige Oberlandesgericht Wien vertrat die Ansicht, ein Anspruch auf Hilflosenzuschuß während eines begrenzten Zeitraumes könne dann existent werden, wenn von vornherein nicht anzunehmen sei, daß es sich um eine kurzfristige Krankheit handle (SSV 3/18, SSV 7/32, SVSlg 17.801 ua), verhältnismäßig kurz dauernde Krankenstände oder Verletzungen, bei denen wegen Bettlägerigkeit eine nur vorübergehende Hilflosigkeit bestehe, rechtfertigten nicht die Gewährung eines Hilflosenzuschusses (SVSlg 17.804, 19.730; SSV 15/106 mwN), ständige Hilflosigkeit liege erst vor, wenn der Pensionist für einen längeren und nicht absehbaren Zeitraum, also nicht während eines bloß eng begrenzten und vorhersehbaren Zeitraumes ohne wesentliche Unterbrechung ständiger Wartung und Hilfe bedürfe (SSV 20/33), betonte aber immer wieder, daß eine Hilflosigkeit von fast fünf Monaten (SVSlg 17.801), von mehr als drei Monaten (SVSlg 17.804), von bloß drei Monaten (SSV 9/50 ua), von fünf Monaten (SVSlg 19.730), von mehreren Monaten (SVSlg 19.731), ja auch unter drei Monaten (SSV 20/33) keineswegs so kurz wäre, daß ein Hilflosenzuschuß (mangels ständiger Wartungs- und Hilfebedürftigkeit) ausgeschlossen wäre. Die E SVSlg 17.804 hob hervor, die Voraussehbarkeit des Endes der Hilflosigkeit mindere nicht ihren Grad und beseitige daher auch nicht die Rechtsgrundlage für die Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses.

Der erkennende Senat schließt sich der insbesondere von Kuderna, DRdA 1968, 191, vertretenen Rechtsansicht an, daß es nicht darauf ankommt, ob die Dauer der Wartungs- und Hilfebedürftigkeit vorhersehbar ist oder allenfalls erst im nachhinein festgestellt werden kann, sondern nur darauf, daß das ständige Betreuungsbedürfnis eine Mindestdauer nicht unterschreitet, die unter Bedachtnahme auf den Zweck des Hilflosenzuschusses unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ermittelt werden muß. Daß diese Mindestdauer im vorliegenden Fall, in dem die Klägerin rund 25 Monate ständig der Wartung und Hilfe bedurfte, um ein Vielfaches überschritten wurde, bedarf keiner weiteren Erörterung. Der Revision der beklagten Partei war daher nicht Folge zu geben. Nach § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG hat die beklagte Partei der Klägerin die Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Anmerkung

E17103

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00084.89.0307.000

Dokumentnummer

JJT_19890307_OGH0002_010OBS00084_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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