TE OGH 1989/6/20 10ObS47/89

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Veröffentlicht am 20.06.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr Herbert Vesely (Arbeitgeber) und Dr. Ferdinand Podkowicz (Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria H***, Hausfrau, 4845 Rutzenmoos, Tiefenweg 7, vertreten durch Dr. August Rogner, Rechtsanwalt in Vöcklabruck, wider die beklagte Partei S*** DER BAUERN, 1031 Wien, Ghegastraße 1,

diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22.November 1988, GZ 12 Rs 110/88-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 26. Mai 1988, GZ 24 Cgs 1163/87-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Klägerin erlitt am 23.9.1969 einen Arbeitsunfall und bezieht deshalb von der beklagten Partei eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 v.H. der Vollrente. Zur Zeit der Zuerkennung der Rente bestanden die Unfallsfolgen in einem mit mäßiger Gibbusbildung, knöchern geheiltem Kompressionsbruch des ersten Lendenwirbels und einer Einschränkung der Rumpfbeweglichkeit.

Die Klägerin begehrte mit ihrer Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihr eine Versehrtenrente im Ausmaß von 40 v.H. der Vollrente zu bezahlen, weil sich ihr Zustand gegenüber jenem zur Zeit der Feststellung der Versehrtenrente wesentlich verschlechtert habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es als erwiesen annahm, daß der durch den Arbeitsunfall hebeigeführte Gesundheitszustand der Klägerin seit der Zuerkennung der Rente gleichgeblieben ist. Es folgerte daraus rechtlich, daß deshalb die im § 183 Abs 1 ASVG für die Neufeststellung der Rente festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Gegen dieses Urteil erhob die Klägerin Berufung, in der sie unter anderem vorbrachte, daß sie im Verfahren erster Instanz erfolglos gebliebene Beweisanträge, nämlich die Einholung von "Gutachten" und "Unterlagen" verschiedener Krankenhäuser und die Vernehmung mehrerer Ärzte, die sie untersucht hätten, gestellt habe. Diese Beweisanträge seien allerdings nicht in das Verhandlungsprotokoll aufgenommen worden.

Das Berufungsgericht trug dem Erstgericht auf, sich zu diesem Vorbringen zu äußern und die Klägerin hiezu zu vernehmen. Diese Vernehmung wurde von dem für den Wohnsitz der Klägerin zuständigen Bezirksgericht im Rechtshilfeweg durchgeführt, ohne daß die Parteien hiezu geladen wurden. Die die Verhandlung in erster Instanz leitende Richterin gab außerdem eine schriftliche Stellungnahme zum Berufungsvorbringen der Klägerin ab.

Nach Vorliegen dieser Erhebungsergebnisse gab das Berufungsgericht der Berufung nicht Folge. Es nahm als erwiesen an, daß die Klägerin die in der Berufung behaupteten Beweisanträge nicht gestellt hat, und kam zu dem Ergebnis, es bilde keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens, daß das Erstgericht die Klägerin nicht dazu anleitete, weitere Behauptungen oder Beweisanträge zu stellen, daß es sie nicht als Partei vernahm und daß es nicht weitere Sachverständigengutachten einholte.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung (an das nicht näher bezeichnete Gericht) zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die Klägerin macht als Mangel des Berufungsverfahrens geltend, daß ihr Vertreter "dem Bescheinigungsverfahren", welches das Berufungsgericht über die von ihr behaupteten Beweisanträge durchführte, nicht beigezogen worden ist.

Das Berufungsgericht hat die Verfahrensschritte im Zusammenhang mit der Prüfung der von der Klägerin in der Berufung behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz von Amts wegen angeordnet; es handelt sich dabei daher um Erhebungen des Berufungsgerichtes (vgl. zu diesem Begriff Fasching, ZPR Rz 807). Holzhammer (Zivilprozeßrecht2 238) vertritt hiezu in Anlehnung an die deutsche Lehre die Auffassung, daß es sich um einen "Freibeweis" handle, der sowohl hinsichtlich der Erkenntnisquellen als auch des Verfahrens dem richterlichen Ermessen unterliege. Fasching meint hingegen (aaO), daß sich auch Erhebungen - mangels abweichender gesetzlicher Regeln und schon aus Gründen des Parteiengehörs und der Überprüfbarkeit - im Rahmen der Verfahrensvorschriften zu halten und bei Fehlen von Sondervorschriften nach den Regeln über die Beweisaufnahme zu richten hätten.

Was die Erkenntnisquellen betrifft, hält der erkennende Senat hier die Einholung einer schriftlichen Stellungnahme der die Verhandlung leitenden Richterin für zulässig. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob in diesem Zusammenhang der Meinung Holzhammers über den "Freibeweis" oder der von Fasching zu den Erhebungen vertretenen Meinung zu folgen ist, weil dieser selbst von der Unbeschränktheit der Beweismittel ausgeht (aaO Rz 925 f) und auch der Oberste Gerichtshof, der bisher die Aufzählung der Beweismittel in der ZPO als erschöpfend ansah (SZ 23/1, 5 Ob 77/74 ua), die Verwertung des Ergebnisses einer Anfrage an eine Behörde als Urkundenbeweis entweder uneingeschränkt für zulässig erachtete (SZ 9/97; 8 Ob 93,94/65; 8 Ob 163/72) oder sie jedenfalls dann billigte, wenn die Anfrage nicht an Stelle von beantragten, gesetzlich zulässigen Beweisen durchgeführt wurde (SZ 23/1). Hier kommt dazu noch, daß im § 473 Abs 2 ZPO für einen vergleichbaren Fall die Einholung von "Aufklärungen" des Gerichtes erster Instanz vorgesehen ist und daß darunter sicher auch eine schriftliche Stellungnahme fällt. All diese Gesichtspunkte führen daher zu dem Ergebnis, daß die Bedenken, welche die Klägerin in der Revision gegen die Berücksichtigung der schriftlichen Stellungnahme der die Verhandlung leitenden Richterin erhob, nicht berechtigt sind. Zur Form der Erhebungen, die zur Prüfung der vom Berufungswerber behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz angeordnet werden, fehlt eine gesetzliche Regelung. Wohl sind im § 473 Abs 2 ZPO Erhebungen "zur Feststellung der Berufungsgründe oder der Nichtigkeit" vorgesehen. Diese Regelung steht aber offensichtlich im Zusammenhang mit dem vorangehenden Absatz 1, in dem festgelegt wird, daß über die Berufung in den Fällen des § 471 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung und ohne vorhergehende mündliche Verhandlung durch Beschluß zu entscheiden ist. Zu diesen Fällen gehört zwar die Nichtigkeit des Urteils oder des Verfahrens erster Instanz (vgl. § 471 Z 5 und 7 ZPO), nicht aber die Mangelhaftigkeit dieses Verfahrens.

Der Oberste Gerichtshof hat zum § 473 Abs 2 ZPO schon mehrfach ausgesprochen, daß die darin vorgesehenen Erhebungen - insbesondere auch dann, wenn sie zur Feststellung einer Nichtigkeit dienen - formlos und ohne Beiziehung der Parteien durchzuführen sind (EvBl 1956/153; RZ 1964, 139; RZ 1968, 108; SZ 53/4; RZ 1987/74). Soweit dies überblickt werden kann, hat er zwar zur Frage, in welcher Form Erhebungen zur Feststellung einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz durchzuführen sind, noch nicht Stellung genommen. Würde man der wiedergegebenen, zur Feststellung einer Nichtigkeit vertretenen Ansicht folgen, so müßte sie auf Grund eines Größenschlusses zwar auch für die Feststellung eines Mangels des Verfahrens erster Instanz gelten. Der erkennende Senat vermag diese Ansicht jedoch in dieser allgemeinen Form nicht aufrechtzuerhalten. Nach § 509 Abs 3 ZPO sind Erhebungen oder Beweisaufnahmen, die zur Feststellung der im § 503 Abs 1 Z 1 und 2 ZPO angeführten Revisionsgründe notwendig sind, durch einen ersuchten Richter durchzuführen und es sind ihnen stets die Parteien zuzuziehen. Aus den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage der ZPO (vgl. Mat. Zivilprozeßgesetze 362) ergibt sich, daß diese Regelung getroffen wurde, weil eine mündliche Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof vermieden werden sollte. Auf das Berufungsverfahren trifft diese Erwägung allerdings nicht zu, weil dort, anders als gemäß § 509 Abs 1 und 2 ZPO im Revisionsverfahren, über die Berufung im allgemeinen nach mündlicher Berufungsverhandlung zu entscheiden ist (§ 480 iVm § 492 ZPO). Für diese Fälle bedarf es einer § 509 Abs 3 ZPO vergleichbaren Regelung nicht, weil die Ergebnisse der Erhebungen und Beweisaufnahmen in der Berufungsverhandlung erörtert werden können (und auch müssen). Findet eine Berufungsverhandlung nicht statt, weil die Parteien hierauf verzichtet haben und das Berufungsgericht sie nicht für notwendig hält (§ 492 ZPO) oder weil über die Berufung jedenfalls in nichtöffentlicher Sitzung zu entscheiden ist (§ 471 ZPO), so muß jedoch § 509 Abs 3 ZPO berücksichtigt werden.

Dies gebietet schon das Gebot nach verfassungskonformer Auslegung (Bydlinski in Rummel, ABGB, § 6 Rz 21; JBl 1978, 438). Müßten die Parteien an den Erhebungen nicht beteiligt werden, wenn eine Berufungsverhandlung nicht stattfindet, so wäre das gleichheitswidrig, weil ein sachlich begründeter Unterschied zum Revisionsverfahren nicht zu erkennen ist (vgl. zur Verfassungswidrigkeit in einem solchen Fall VfSlg 6884 mwN). Überdies muß Art.6 Abs 1 MRK beachtet werden, dem Verfassungsrang zukommt (BGBl.1964/59). Zu den Garantien, die diese Bestimmung gewährleistet, zählt auch das rechtliche Gehör, das in einem Zivilverfahren nicht nur dann verletzt wird, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (SZ 54/124).

Eine ähnliche Ansicht wurde im Ergebnis zu den Erhebungen nach § 473 Abs 2 ZPO schon von Neumann (Komm4 II 1280) unter Berufung auf Klein (Vorlesungen 244) vertreten. Sie wurde zwar von Fasching zunächst abgelehnt (Komm.IV 92). Wie die schon bezogenen Ausführungen (Zivilprozeßrecht Rz 807) zeigen, scheint nunmehr aber auch dieser Autor der hier vertretenen Meinung zuzuneigen. Zusammenfassend ist der erkennende Senat daher der Auffassung, daß den Parteien in den im § 509 Abs 3 ZPO genannten Fällen - auf andere Fälle ist hier nicht einzugehen - Gelegenheit gegeben werden muß, zu den Ergebnissen der durchgeführten Erhebungen oder Beweisaufnahmen Stellung zu nehmen. Wird eine mündliche Berufungsverhandlung anberaumt, geschieht dies jedenfalls durch Ladung der Parteien zu dieser Verhandlung. In anderen Fällen kann es entweder dadurch geschehen, daß die Parteien zu der für eine Vernehmung anberaumten Tagsatzung gemäß § 131 Abs 1 ZPO geladen werden, oder daß ihnen, wenn eine Tagsatzung nicht anberaumt wurde, die Ergebnisse der Erhebungen oder Beweisaufnahmen zur Kenntnis gebracht werden und ihnen eine Frist zur Stellungnahme gesetzt wird. Hier hätte das Berufungsgericht daher entweder eine mündliche Verhandlung anberaumen oder den Parteien und somit auch dem der Klägerin im Rahmen der Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalt (vgl. § 64 Abs 1 Z 3 iVm § 93 Abs 1 ZPO) die Ergebnisse der durchgeführten Erhebungen vor seiner Entscheidung zur Kenntnis bringen müssen. Da es dies unterließ, leidet sein Verfahren jedenfalls an einem Mangel. Er war in abstracto geeignet, die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung herbeizuführen, und ist deshalb wesentlich (vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht Rz 1765; SZ 50/150 ua).

Ohne Bedeutung ist, daß das Berufungsgericht zur Durchführung der Erhebungen nicht verpflichtet war, weil die Beweislast für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit eines Protokolles die Partei trifft, die sie behauptet (Fasching, Kommentar II 998; 3 Ob 125/85). Die Klägerin hätte daher Beweise für ihre Behauptung anbieten müssen und das Berufungsgericht wäre nur verpflichtet gewesen, diese Beweise aufzunehmen. Berücksichtigt das Berufungsgericht jedoch bei seiner Entscheidung die Ergebnisse von Erhebungen, die, wenn auch ohne Verpflichtung, aber unter Verletzung von Verfahrensvorschriften durchgeführt wurden, ist der darin gelegene Verfahrensmangel wesentlich. Da die Klägerin den Mangel in der Revision geltend machte, muß schließlich nicht geprüft werden, ob er nicht sogar die Nichtigkeit des Verfahrens bewirkte.

Wegen des aufgezeigten Verfahrensmangels war dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung aufzutragen, die es nach Behebung des Mangels zu treffen haben wird.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E18366

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00047.89.0620.000

Dokumentnummer

JJT_19890620_OGH0002_010OBS00047_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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