TE OGH 1989/11/8 14Os105/89

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Veröffentlicht am 08.11.1989
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 8.November 1989 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Lachner, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Toth als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Andrea Margaretha P*** und einen anderen wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Andrea Margaretha P*** und Detlef Heinz-Peter P*** gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Landesgericht Linz vom 18.April 1989, GZ 33 Vr 1795/88-59, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Den Nichtigkeitsbeschwerden wird Folge gegeben, der Wahrspruch der Geschwornen und das darauf beruhende angefochtene Urteil aufgehoben sowie die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Geschwornengericht beim Landesgericht Linz verwiesen.

Mit ihren Berufungen werden die Angeklagten auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem auf dem Wahrspruch der Geschwornen beruhenden angefochtenen Urteil wurden die am 11.Juli 1963 geborene Hausfrau Andrea Margaretha P*** und (ihr Ehemann) der am 26. Dezember 1964 geborene Detlef Heinz-Peter P*** des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB schuldig erkannt. Darnach haben sie in der Zeit zwischen September und 17.Oktober 1988 in Ried in der Riedmark ihren am 2.Feber 1988 geborenen Sohn Markus P*** dadurch vorsätzlich getötet, daß sie es unterließen, ihn ausreichend mit Nahrung zu versorgen.

Die Geschwornen hatten die (gesondert für jeden der beiden Angeklagten) anklagekonform gestellten Hauptfragen nach Mord jeweils im Stimmenverhältnis 7 : 1 bejaht. Die für den Fall der Verneinung der Hauptfragen jeweils gestellten Eventualfragen nach Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen (§ 92 Abs. 2 und Abs. 3 zweiter Strafsatz StGB) - die dahin lautete, ob die Angeklagten den ihrer Fürsorge und Obhut unterstehenden Sohn Markus durch unzureichende Ernährung gröblich vernachlässigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, dessen Gesundheit oder körperliche oder geistige Entwicklung beträchtlich geschädigt haben, wobei die Tat den Tod des Kindes zur Folge hatte - blieben demzufolge unbeantwortet.

Die beiden Angeklagten bekämpfen den Schuldspruch mit getrennt ausgeführten, jeweils auf die Gründe nach Z 2, 4, 6 und 8 des § 345 Abs. 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerden.

Rechtliche Beurteilung

Berechtigt sind die Beschwerden schon, soweit sie im Rahmen ihrer Argumente gegen die Fragestellung (Z 6) rügen, daß die Stellung eine auf das Verbrechen der Aussetzung nach § 82 Abs. 2 und Abs. 3 StGB gerichteten Eventualfrage unterblieben ist. Nach § 314 Abs. 1 StGB sind Schuldfragen (Eventualfrage) dahin, ob die einem Angeklagten laut Anklageschrift zur Last gelegte Straftat unter ein anderes, gegenüber dem angeklagten Delikt nicht strengeres Strafgesetz fällt, zu stellen, wenn in der Hauptverhandlung Tatsachen vorgebracht werden, die - falls sie als erwiesen angenommen werden - eine Tatbeurteilung nach dem milderen Strafgesetz zur Folge hätten. Zwar begründen bloß denkmögliche bzw nicht gewählte Verteidigungsvarianten keine Verpflichtung zur Stellung einer Eventualfrage (ÖJZ-LSK 1976/324) und kann von einem "Vorbringen" im Sinn des § 314 Abs. 1 StPO nur dann gesprochen werden, wenn im Beweisverfahren Umstände hervorgekommen sind, die die Annahme entsprechender Tatsachen als zutreffend in den näheren Bereich der Möglichkeit rücken lassen (ÖJZ-LSK 1978/138). Für die Unterstellung der Tat unter ein weniger strenges Gesetz maßgebende Tatsachen sind indes nicht nur dann "vorgebracht", wenn sie in der Hauptverhandlung geradezu (konkret) behauptet werden, sondern auch dann, wenn sie sich aus den darin vorgebrachten Beweismitteln mittelbar ergeben, also aus ihnen zu erschließen sind (EvBl 1980/222).

Im vorliegenden Fall haben die beiden Angeklagten, wie sich aus ihren in der Hauptverhandlung verlesenen (S 181, 182/II) Angaben vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (ON 6) und vor dem Untersuchungsrichter (ON 4 und 5) ergibt, zum Ausdruck gebracht, sich bewußt gewesen zu sein, daß ihr Kind Markus als Folge der Vernachlässigung ihrer Fürsorge- und Beistandsverpflichtung (also durch Unterlassung einer ausreichenden Versorgung des Kindes mit Nahrung) sterben könnte (S 17 f, 17 b f, 17 c, 21, 39, 43, 53/I). Diese Verantwortung hat die Angeklagte Andrea Margaretha P*** auch noch in der Hauptverhandlung aufrecht erhalten (S 19/II). Dieses aus der Verantwortung der beiden Angeklagten resultierende Tatsachenvorbringen weist auch in die Richtung, daß beide ihren Sohn Markus durch Nichtvornahme der erforderlichen Hilfeleistung letztlich mit Lebensgefährdungsvorsatz im Stich gelassen haben. Damit lagen gemäß § 314 Abs. 1 StPO die Voraussetzungen für die Stellung einer Eventualfrage nach dem Verbrechen der Aussetzung (§ 82 Abs. 2 und Abs. 3 StGB) vor. Die beiden im § 82 Abs. 1 und Abs. 2 StGB angeführten selbständigen Deliktsfälle setzen zunächst ein Handeln des Täters mit zumindest bedingtem, auf Herbeiführung einer konkreten Lebensgefährdung des Tatopfers gerichteten Vorsatz voraus (Burgstaller im WK Rz 2; Kienapfel BT I2 RN 33; Leukauf-Steininger Komm2 RN 8, 15 je zu § 82). Während aber der Tatbestand nach § 82 Abs. 1 StGB erfordert, daß der Täter das Opfer (mit Lebensgefährdungsvorsatz) in eine hilflose Lage bringt, setzt § 82 Abs. 2 StGB ua voraus, daß sich das Opfer im Tatzeitpunkt bereits in einer hilflosen Lage befindet, die vom Täter entweder überhaupt nicht oder zumindest ohne (Lebensgefährdungs-)Vorsatz herbeigeführt wurde (Burgstaller aaO Rz 23; Kienapfel aaO RN 19;

Leukauf-Steininger aaO RN 12). In einer hilflosen Lage befindet sich, wer außerstande ist, sich ohne fremde Hilfe gegen eine drohende Lebensgefahr zu schützen (Burgstaller aaO Rz 6; Kienapfel aaO RN 9; Leukauf-Steininger aaO RN 6). Die Hilflosigkeit eines achteinhalb Monate alten Kleinkindes ergibt sich schon aus dessen Alter; ist es doch um überleben zu können, zur Gänze auf die Hilfe anderer, im Regelfall seiner Eltern, denen insoweit eine Garantenstellung im Sinn des § 2 StGB zukommt, angewiesen. Während die Unterlassung der erforderlichen Hilfeleistung (durch ausreichende Versorgung eines Kleinkindes mit Nahrung) dem Begriff des Imstichlassens, wofür es keineswegs erforderlich ist, daß sich der Täte räumlich vom Opfer entfernt (vgl Burgstaller aaO Rz 8, 10, 24; Kienapfel aaO RN 18, 22; Leukauf-Steininger aaO RN 14), entspricht, erfordert der Deliktsfall nach § 82 Abs. 1 StGB ein in einem aktiven Tun gelegenes Verhalten "... in eine hilflose Lage bringt ...", weshalb der Tatbestand nach § 82 Abs. 1 StGB durch bloßes Unterlassen nicht verwirklicht werden kann (Kienapfel aaO RN 17; ähnlich Leukauf-Steininger aaO RN 5). Da sich die Deliktsfälle nach Abs. 1 und Abs. 2 des § 82 StGB gegenseitig ausschließen, kommt beim (bloß) untätig gebliebenen Garanten eine Tatbeurteilung nur nach Abs. 2 der genannten Gesetzesstelle in Betracht (Burgstaller aaO Rz 22 f; Kienapfel aaO RN 17, 19). Aus den dargelegten Gründen hätte daher den Geschwornen die Gelegenheit geboten werden müssen, auch über diese in der Verantwortung der beiden Angeklagten Deckung findende Tatversion - eines mit Lebensgefährdungsvorsatz erfolgten Imstichlassens des Kindes durch Nichtvornahme der erforderlichen Hilfeleistung - durch die Beantwortung entsprechender Eventualfragen abzusprechen. Der von beiden Beschwerdeführern insoweit zu Recht geltend gemachte Verfahrensmangel war geeignet, einen für sie nachteiligen Einfluß auf die Entscheidung zu üben; zumindest kann nicht gesagt werden, daß diese Formverletzung keinen solchen Einfluß zu entfalten vermochte (§ 345 Abs. 3 StPO), zumal den Geschwornen durch die neben den auf das Verbrechen des Mordes (begangen durch Unterlassung) lautenden Hauptfragen für den Fall deren Verneinung durch die außerdem gestellten Eventualfragen nach § 92 Abs. 2 und Abs. 3 StGB bloß die Möglichkeit eröffnet wurde, zwischen einer (bedingt) vorsätzlichen Tötung des Kindes und einer als Folge einer (vorsätzlichen) gröblichen Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht gegenüber diesem Kleinkind (bloß) fahrlässig bewirkten Tötung des Knaben zu entscheiden. Mangels einer entsprechenden Fragestellung war es den Geschwornen verwehrt, bei ihrer Entscheidung das gegenüber dem Delikt nach § 92 Abs. 2 und Abs. 3 zweiter Strafsatz StGB in seinem Unwert schwerer wiegende Verbrechen nach § 82 Abs. 2 und Abs. 3 StGB - welches auf ein Handeln des Täters mit auf Herbeiführung einer konkreten Lebensgefährdung gerichtetem Vorsatz abstellt; vgl auch die (unterschiedliche) Strafdrohung des Grunddeliktes nach § 82 Abs. 1 und Abs. 2 StGB mit jener des § 92 Abs. 1 und Abs. 2 StGB - in den Kreis ihrer Erwägungen miteinzubeziehen.

Auf Grund des dem Erstgericht sohin unterlaufenen Verfahrensmangels (Z 6) ist die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung unvermeidlich, weshalb - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - in Stattgebung beider Nichtigkeitsbeschwerden schon bei einer nichtöffentlichen Beratung wie im Spruch zu erkennen war (§§ 285 e, 344 StPO), ohne daß es einer Erörterung des übrigen Beschwerdevorbringens bedarf.

Anmerkung

E19167

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1989:0140OS00105.89.1108.000

Dokumentnummer

JJT_19891108_OGH0002_0140OS00105_8900000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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