TE OGH 1990/5/23 2Ob51/90

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Veröffentlicht am 23.05.1990
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Vogel, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei August N***, Pensionist, Adalbert Stifterstraße 35/15/6, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Johannes Neumayer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1) Günter Z***, Postzusteller, Hausfeldstraße 151/26/4, 1220 Wien, und 2) W*** S***-V***, Rahlgasse 3, 1060 Wien, beide vertreten durch Dr. Konrad Kuderna, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 76.178,- s.A. (Revisionsstreitwert S 38.528,14), infolge außerordentlicher Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 2. Februar 1990, GZ 13 R 267/89-24, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 11. Oktober 1989, GZ 38 Cg 715/88-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt wie folgt zu lauten hat:

Die Klagsforderung besteht mit S 38.089,- zu Recht und mit S 38.089,- nicht zu Recht.

Die eingewendete Gegenforderung der zweitbeklagten Partei besteht mit S 439,14 zu Recht und mit S 439,14 nicht zu Recht. Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 37.649,86 samt 4 % Zinsen ab 16. Dezember 1987 zuzüglich 4 % Zinseszinsen seit 23. März 1988 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Das Mehrbegehren der klagenden Partei auf Zahlung eines weiteren Betrages von S 38.528,14 samt 4 % Zinsen ab 16. Dezember 1987 zuzüglich 4 % Zinseszinsen seit 23. März 1988 wird abgewiesen. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei an Kosten des Verfahrens in erster Instanz den Betrag von S 2.525,50 (Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien an Kosten des Berufungsverfahrens den Betrag von S 2.000,-

(Barauslagen) und die mit S 6.122,08 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Barauslagen von S 2.500,- und Umsatzsteuer von S 603,68) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 4. November 1987 ereignete sich um 18 Uhr im 19. Wiener Gemeindebezirk im Bereich der Kreuzung Heiligenstädterstraße - Klabundgasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Halter und Lenker des PKW mit dem Kennzeichen W 23.861 und der Erstbeklagte als Fahrer eines Straßenbahnzuges der Linie D der Zweitbeklagten, bestehend aus dem Triebwagen Nr 4641 und dem Beiwagen Nr 1141, beteiligt waren. Der PKW des Klägers wurde beim Überqueren der Gleisanlage der Heiligenstädterstraße von dem stadteinwärts fahrenden Straßenbahnzug gerammt. Dabei entstand am PKW des Klägers ein Schaden von S 76.178,- und am Triebwagen des Straßenbahnzuges ein solcher von S 878,28. Personenschaden trat nicht ein.

Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 76.l78,- s.A. im wesentlichen mit der Begründung, daß den Erstbeklagten das Alleinverschulden treffe. Der Kläger habe vor dem Abbiegen in die Hauptfahrbahn der Heiligenstädterstraße verkehrsbedingt auf den Straßenbahngleisen anhalten müssen. Der Erstbeklagte sei mit dem Straßenbahnzug ohne jede Reaktion gegen den schon geraume Zeit stehenden PKW des Klägers gestoßen. Die Beklagten wendeten dem Grunde nach im wesentlichen ein, daß den Kläger das Alleinverschulden treffe, weil er den dem Straßenbahnzug zukommenden Vorrang verletzt habe und unmittelbar vor diesem auf die Gleise gefahren sei. Der Erstbeklagte habe darauf sofort durch akustische Warnsignale und Einleitung einer Notbremsung reagiert, die Kollision aber nicht mehr vermeiden können. Der Kläger sei nicht in einem Zug über die Gleise gefahren und habe sie über längere Zeit nicht freigegeben; die Fahrt des Klägers über die Gleise sei infolge eines Fahrfehlers - er habe zu wenig Gas gegeben - unterbrochen worden. Schließlich wendeten die Beklagten die Schadenersatzforderung der Zweitbeklagten aus diesem Verkehrsunfall von S 878,28 aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein.

Das Erstgericht entschied, daß die Klagsforderung zu Recht, die eingewendete Gegenforderung hingegen nicht zu Recht besteht. Es gab daher dem Klagebegehren statt.

Der gegen diese Entscheidung des Erstgerichtes gerichteten Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil keine Folge. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten. Sie bekämpfen sie aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß dem Kläger lediglich ein Betrag von S 37.649,86 sA zugesprochen, sein Mehrbegehren aber abgewiesen werde; hilfsweise stellen sie einen Aufhebungsantrag. Der Kläger, dem die Beantwortung der Revision freigestellt wurde, hat eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht, wie den folgenden Rechtsausführungen zu entnehmen ist, von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist (§ 502 Abs 1 ZPO).

Sie ist auch sachlich berechtigt.

Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO). Die Vorinstanzen gingen im wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Parallel zur Heiligenstädterstraße führt vor dem Karl-Marx-Hof in Richtung stadtauswärts eine Seitenfahrbahn, von der man in unregelmäßigen Abständen auf Übergängen, die die Gleise der Straßenbahnlinie D rechtwinkelig kreuzen, in die Heiligenstädterstraße aus- bzw. von dieser einfahren kann. Der Übergang gegenüber der Klabundgasse ist ca. 6 m breit. Stadteinwärts verläuft der Gleiskörper ab 100 m vor diesem Übergang gerade, davor befindet sich ein leichter, übersichtlicher Linksbogen von ca. 10 Grad.

Zur Unfallszeit herrschte künstliche Beleuchtung. Die Fahrbahn war trocken, die Schienen waren jedoch wegen Laubfalls schmierig. Die Straßenbahn fuhr normal beleuchtet; der Kläger fuhr mit seinem PKW mit Abblendlicht.

Der Kläger bog in der Nebenfahrbahn stadtauswärts fahrend querend auf den Übergang über den Gleiskörper der Straßenbahn gegenüber der Klabundgasse, um von dort nach links in die Heiligenstädterstraße stadteinwärts einzubiegen. Die Gleise wurden vom Kläger befahren, als sich die Straßenbahn noch nicht gut sichtbar hinter der 10-gradigen Biegung des Schienenstranges, also mindestens 100 m stadtauswärts vor der Unfallstelle, befand. Als der Kläger in den Gleisbereich einfuhr, hielt er nach einer Straßenbahn Ausschau, sah aber noch keine. Er hielt dann auf dem stadteinwärts führenden Gleis etwa mit der Mitte seines Kraftfahrzeuges an. Erst in dieser Position hatte er Sicht auf den Verkehr in der Heiligenstädterstraße, weil ihm vorher parkende Fahrzeuge die Sicht nahmen. Gerade zur Zeit seines Anhaltens hätte er in einem Zug ausfahren können, weil dies eine Lücke im Querverkehr erlaubte. Der 72-jährige Kläger war aber kein forscher Fahrer und hielt daher vorsichtsweise an. Er sah jenseits der Biegung leicht schräg das Straßenbahnlicht, wollte dann wieder losfahren, gab dabei aber zu wenig Gas und würgte den Motor ab. Er startete neuerlich, doch bestand nun wieder Querverkehr, weshalb er nicht losfahren konnte. Nachdem er einige Fahrzeuge hatte passieren lassen, hörte er das Klingeln und verspürte er schließlich den Anstoß. Der Erstbeklagte hatte zu lange darauf vertraut, der Kläger werde das Gleis räumen, und daher zu spät gebremst.

Die Straßenbahn hatte zuletzt 260 m vor der Unfallstelle gehalten. Danach wurde der Zug auf 35 km/h beschleunigt, dieses Tempo über 80 m gehalten und danach über 30 m auf 37 km/h erhöht. Dann erfolgte die Notbremsung, bei deren Einsatz die Geschwindigkeit noch auf 38 km/h stieg. Die Kontaktgeschwindigkeit betrug 17 km/h. Der PKW wurde durch den Zusammenstoß um 4,5 m verschoben. Unter den vorliegenden Voraussetzungen hätte der Betriebsbremsanhalteweg der Straßenbahn 80,1 m und die Betriebsanhaltezeit 14,2 sec. betragen, der komplette Notbremsanhalteweg 35,4 m. Der tatsächliche Notbremsweg bis zum Stillstand betrug 24 m.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß der Kläger nicht gegen § 28 Abs 2 StVO verstoßen habe, weil der Straßenbahnzug noch außerhalb des Betriebsbremsanhalteweges gewesen sei, als der Kläger auf die Gleise gefahren sei. Auch für Straßenbahnen gelte der Grundsatz des Fahrens auf Sicht. Der Kläger sei nicht verpflichtet gewesen, seine Anhalteposition auf den Schienen zur Freimachung der Gleise zu verlassen. Es treffe ihn kein Verschulden, sodaß ihm die Beklagten seinen gesamten Schaden zu ersetzen hätten. Das Berufungsgericht führte rechtlich im wesentlichen aus, da die Straßenbahn (bei einem Betriebsbremsanhalteweg von 80 m) noch zumindest 100 m entfernt gewesen sei, als der Kläger mit seinem PKW auf die Gleise gefahren sei, liege weder eine Vorrangverletzung noch ein Verstoß gegen § 28 Abs 2 StVO vor. Bei dieser Entfernung sei die Straßenbahn weder entgegen § 19 Abs 7 StVO zu einem unvermittelten Bremsen veranlaßt worden noch sei sie bereits als herannahend im Sinne des § 28 Abs 2 StVO zu beurteilen. Der Kläger habe daher über die Gleise fahren und auf diesen wegen des Querverkehrs in der Heiligenstädterstraße auch anhalten dürfen. Ein forsches Einfahren in diese ohne ausreichende Beachtung des Querverkehrs sei im Hinblick auf die Sichtbehinderung durch parkende Fahrzeuge vom Kläger nicht zu verlangen gewesen; er sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Gleise im Retourgang zu verlassen, was ihn zu einem gefährlichen Fahrmanöver gezwungen hätte.

Das wesentliche Verschulden treffe daher den Erstbeklagten, der weitaus verspätet gebremst habe.

Daß der Kläger eine Lücke im Querverkehr auf der Heiligenstädterstraße nicht zum Einbiegen ausnützen habe können, weil ihm der Motor abgestorben sei, stelle wohl einen Fahrfehler dar, der aber gegenüber der wesentlich verspäteten Reaktion des Erstbeklagten nicht ins Gewicht falle.

Mit Recht wenden sich die Beklagten in ihrer Rechtsrüge gegen diese rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes. Der mit seinem PKW die Straßenbahngleise kreuzende Kläger war gemäß § 19 Abs 1 StVO gegenüber dem Straßenbahnzug benachrangt. Er durfte daher den Straßenbahnzug nicht in der im § 19 Abs 7 StVO beschriebenen Weise behindern. Gewiß entspricht es ständiger Rechtsprechung, daß die Anwendung der Vorrangbestimmungen die Wahrnehmbarkeit des bevorrangten Fahrzeuges bei pflichtgemäßem Verhalten des Benachrangten voraussetzt (ZVR 1979/164 uva). Nach den Feststellungen der Vorinstanzen war der Straßenbahnzug für den Kläger aber - wenn auch nicht gut - sichtbar, als dieser auf die Gleise fuhr. Daß der benachrangte Kläger den Straßenbahnzug tatsächlich nicht sah, geht ausschließlich zu seinen Lasten. Unter diesen Umständen kommt es aber nicht so sehr darauf an, ob der Kläger mit seinem PKW die Gleise innerhalb des Bremsweges der Straßenbahn überquerte, sondern darauf, ob er dies nach der für ihn gegebenen und überblickbaren Verkehrssituation tun konnte, ohne das herankommende Schienenfahrzeug in der im § 19 Abs 7 StVO beschriebenen Weise in seiner Weiterfahrt zu behindern, was zweifellos dann zutraf, wenn er es zum Abbremsen bis zum Stillstand nötigte. Dies hätte vorausgesetzt, daß sich der Kläger die Gewißheit verschafft hätte, daß er mit seinem PKW ohne Behinderung der Straßenbahn den Gleisbereich wieder verlassen konnte. Unterließ er dies oder übersetzte er die Gleise vor einer herankommenden Straßenbahn, ohne sich infolge der örtlichen Verhältnisse diese Gewißheit verschaffen zu können, handelte er verkehrswidrig (ZVR 1980/140 mwN; ZVR 1981/182 ua).

Gerade letzteres war aber hier der Fall, weil der Kläger nach den Feststellungen der Vorinstanzen erst aus seiner Anhalteposition auf den Gleisen Sicht auf den Querverkehr in der Heiligenstädterstraße erlangte.

Der Kläger hat unter diesen Umständen zunächst seine Wartepflicht im Sinne des § 19 Abs 7 StVO eindeutig verletzt. Dazu kommt aber noch, daß er durch unsachgemäße Bedienung seines Fahrzeuges den Motor abwürgte und aus diesem Grund nicht in die Heiligenstädterstraße einbiegen konnte, als ihm dies infolge einer Lücke im Querverkehr rechtzeitig vor der herankommenden Straßenbahn möglich gewesen wäre. Zieht man in Betracht, daß an jeden Kraftfahrer bezüglich der erforderlichen Fahrkenntnisse der Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB anzulegen ist (ZVR 1987/74; ZVR 1988/66 uva), so ist auch dieser Fahrfehler dem Kläger als Verschulden anzulasten.

Unter diesen Umständen kommt aber dem dargestellten schuldhaften Fehlverhalten des Klägers auch gegenüber der wesentlich verspäteten Bremsung des Straßenbahnzuges durch den Erstbeklagten solches Gewicht zu, daß im Sinne der Revisionsausführungen der Beklagten eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1 durchaus den Umständen des Falles angemessen erscheint.

Es war daher in Stattgebung der außerordentlichen Revision der Beklagten wie im Spruch zu entscheiden.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf § 43 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens auf den §§ 43 Abs 1, 50 ZPO und die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens auf den §§ 41, 50 ZPO.

Anmerkung

E21129

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1990:0020OB00051.9.0523.000

Dokumentnummer

JJT_19900523_OGH0002_0020OB00051_9000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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