TE OGH 1992/1/14 10ObS369/91

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Veröffentlicht am 14.01.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Reinhard Drössler (Arbeitgeber) und Walter Bacher (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A***** W*****, Kellnerin, ***** vertreten durch Dr.Gerhard Delpin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter (Landesstelle Graz), Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Entziehung der Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11.Juli 1991, GZ 7 Rs 64/91-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 23. Jänner 1991, GZ 21 Cgs 27/90-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 19.4.1954 geborene Klägerin begann im Juli 1969 eine Lehre als Kellnerin; zufolge einer Übersiedlung im November 1971 beendete sie diese Lehre jedoch nicht. Sie war von 1972 bis 4.5.1987 als Kellnerin und Serviererin tätig. Am 18.1.1987 erlitt die Klägerin bei einem Verkehrsunfall eine Kniegelenksverletzung links und einen Bruch des zweiten Lendenwirbelkörpers. Mit Bescheid vom 31.5.1988 wurde der Klägerin wegen der Folgen dieses Unfalls von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter für die Zeit vom 1.1.1988 bis 30.9.1988 eine befristete Invaliditätspension gewährt. Mit Bescheid vom 10.10.1988 wurde diese bisher befristet gewährte Pension ab 1.10.1988 unbefristet weiter gewährt. Gegenüber dem Zeitpunkt der Gewährung hat sich der Zustand der Klägerin nunmehr insoweit gebessert, als seit 1.1.1990 die Beugebehinderung des Kniegelenkes ausgeglichen ist, die Muskulatur hat sich gekräftigt, die Gangleistung und Belastungsfähigkeit hat sich gebessert. Der Knorpelschaden ist ausgeglichen, eine Gewöhnung und Anpassung ist eingetreten. Die Klägerin ist nunmehr in der Lage alle leichten und mittelschweren Arbeiten im Sitzen uneingeschränkt zu verrichten. Arbeiten im Gehen und Stehen, Bück- und Hebearbeiten sind insgesamt um ein Drittel eines Arbeitstages zu verkürzen. Die Arbeiten können nur zu ebener Erde geleistet werden. Die Pausen sind annähernd gleichmäßig über den Tag zu verteilen. Forciertem Arbeitstempo und Akkordarbeiten ist die Klägerin ganztägig gewachsen. Sie ist verweisbar und kann auch völlig neue Kenntnisse erwerben.

Mit Bescheid vom 23.11.1989 sprach die beklagte Partei die Entziehung der der Klägerin gewährten Invaliditätspension mit Ablauf des Monats Dezember 1989 aus.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Invaliditätspension über den 31.12.1989 hinaus gerichtete Begehren der Klägerin ab. Es sei nicht erforderlich, zu klären, ob die Klägerin die Tätigkeit einer Kellnerin als angelernten Beruf ausgeübt habe. Wohl könne sie nicht mehr als Kellnerin oder Serviererin tätig sein, doch könne sie auf die Tätigkeit einer Küchenkassierin verwiesen werden, die dem Kellnerberuf zuzuordnen sei; in Österreich stünden deutlich mehr als 100 Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen zur Verfügung. Käme aber der Klägerin Berufsschutz nicht zu, so könne sie auf die Tätigkeiten einer Kontrollarbeiterin in Textilbetrieben oder in der Elektronikindustrie sowie einer Telefonistin verwiesen werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es sei nicht entscheidend, ob in Österreich mehr als 100 Dauerarbeitsplätze für Küchenkassierinnen bestünden, weil bei der Prüfung der Frage, ob ein Arbeitsmarkt für die Verweisungstätigkeit bestehe, auch Saisonstellen zu berücksichtigen seien. Es sei jedoch gesichert, daß an Dauer- und Saisonstellen insgesamt deutlich mehr als 100 Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen existieren.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Bei der Beurteilung der Verweisbarkeit haben Tätigkeiten außer Betracht zu bleiben, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr oder fast nicht mehr vorkommen. Steht am Arbeitsmarkt keine nennenswerte Zahl von Arbeitsplätzen in den Berufen zur Verfügung, die der Versicherte ausgehend von seinem Leistungskalkül noch ausüben kann, so kann er audf diese Tätigkeiten nicht verwiesen werden. In dem der Entscheidung SSV 2/128 zugrunde liegenden Fall war die Feststellung getroffen worden, daß im Bundesgebiet eine 100 übersteigende, aber 200 nicht erreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung stünde. Die Zulässigkeit der Verweisung auf diese Tätigkeit wurde mit der Begründung bejaht, daß eine deutlich über 100 liegende Zahl von Arbeitsplätzen für die Verweisung ausreiche. Wohl betraf diese Entscheidung auch den Beruf der Küchenkassierin, doch kann hieraus für den vorliegenden Fall nichts abgeleitet werden. Solange eine Tatsache nicht auf Grund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen offenkundig ist (hier die Zahl der Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen), muß sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und neuerlich festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung von Beweisen zum Tragen kommen können (SSV 5/38 - in Druck). Der Entscheidung SSV 2/46 lag zugrunde, daß neben 90 bis 100 Arbeitsplätzen in einem Verweisungsberuf noch eine geringere Zahl von Arbeitsplätzen in einem anderen Verweisungsberuf zur Verfügung stand. Auch hier wurde die Verweisbarkeit bejaht. Liegt die Zahl der Arbeitsplätze in den Verweisungsberufen jedoch unter diesen Werten und erreicht nicht etwa 100 Arbeitsstellen in Österreich, dann kann im allgemeinen nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes ausgegangen werden. Die Verweisung auf solche Berufe ist nicht zulässig.

Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht festgestellt, daß in Österreich deutlich mehr als 100 Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen bestehen, wobei dabei sowohl Saison- wie auch Dauerarbeitsstellen berücksichtigt wurden. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Erheblichkeit der von der Berufung aufgeworfenen Frage verneint, wieviel Stellen davon als Dauerarbeitsplätze zur Verfügung stehen und ist bei seiner rechtlichen Beurteilung von der vom Erstgericht festgestellten Gesamtzahl der Arbeitsplätze ausgegangen. Die Begründung, daß auch eine Verweisung auf Saisonarbeitsplätze zulässig sei, ist verfehlt. Der von der Judikatur entwickelte Grundsatz, daß eine Verweisung auf eine Tätigkeit nur zulässig sei, wenn in einem Beruf eine Mindestanzahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht, ist von dem Gedanken getragen, daß nur in diesen Fällen für den Versicherten die objektive Möglichkeit besteht, tatsächlich einen Arbeitsplatz zu erhalten und durch das daraus erzielte Einkommen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Je nach Lage eines Ortes stehen im Fremdenverkehr die Sommer- oder Wintersaison oder beide Saisonen zur Verfügung. Mit den Saisonkräften werden jeweils befristete Dienstverhältnisse abgeschlossen und zwischen den Saisonen liegen regelmäßig längere, zumeist mehrmonatige Zeiten der Nichtbeschäftigung, in denen der Betroffene kein Einkommen aus seiner Tätigkeit erzielen kann. Ein Saisonarbeitsplatz gewährleistet daher kein regelmäßiges, den Lebensunterhalt durchgehend sicherndes Einkommen. Darüber hinaus erfordert die Beschäftigung in Saisonbetrieben, insbesondere dann, wenn in einem Ort nur eine Saison als Hauptsaison zur Verfügung steht, für die Dauer der Beschäftigungszeit und damit während eines Jahres wiederholt einen Wechsel des Aufenthaltsortes, eine Belastung, die gerade Personen mit angegriffenem Gesundheitszustand nicht zugemutet werden kann. Bloße Saisonarbeitsstellen sind daher als Verweisungsberufe im Rahmen der Prüfung eines Pensionsanspruches wegen geminderter Arbeitsfähigkeit jedenfalls dann außer Betracht zu lassen, wenn der Versicherte bisher nicht laufend als Saisonarbeitskraft tätig war.

Ausgehend hievon ist es aber erforderlich, festzustellen, wieviele Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen als Dauerarbeitsplätze zur Verfügung stehen. Sollte nicht erwiesen werden, daß die Zahl dieser Arbeitsplätze zumindest 100 erreicht, so könnte die Klägerin auf diese Tätigkeit nicht verwiesen werden. In diesem Fall wäre es erforderlich, die bisher noch nicht geprüfte Frage zu klären, ob die Klägerin im Sinne ihrer Behauptung tatsächlich bisher als angelernte Kellnerin tätig war und damit Berufsschutz genießt. Andernfalls könnte sie auf die anderen von den Vorinstanzen festgestellten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Tätigkeiten verwiesen werden. In diesem Punkt erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E28439

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00369.91.0114.000

Dokumentnummer

JJT_19920114_OGH0002_010OBS00369_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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