TE Vwgh Erkenntnis 2006/3/2 2003/20/0342

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2006
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde der T (auch N oder J) in L, geboren 1986, vertreten durch Mag. Thomas Deuschl, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Huemerstraße 1/Kaplanhofstraße 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. Mai 2003, Zl. 235.096/0- XI/34/03, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine damals 16-jährige vietnamesische Staatsangehörige, reiste ihren Angaben zufolge am 23. September 2002 nach Österreich ein und stellte noch am selben Tag einen Asylantrag. Diesen begründete die Beschwerdeführerin bei der Befragung durch das Bundesasylamt am 28. Oktober 2002 im Wesentlichen mit der sehr großen Armut ihrer Familie, die wegen des Alters und der Krankheit des Vaters von den geringen Einkünften aus dem "Straßenverkauf" der Mutter, die einen Obststand betreibe, lebe. Für den Fall der Rückkehr befürchte die Beschwerdeführerin, ihrer Mutter wieder "beim Obst(ver)kauf" helfen zu müssen, und es könne sein, dass sie aus finanziellen Gründen nicht mehr in die Schule gehen dürfe und keine Ausbildung bekomme.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 28. Jänner 2003 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Vietnam fest. Das Bundesasylamt legte seiner Entscheidung das Vorbringen der Beschwerdeführerin zugrunde, verneinte aber aus rechtlichen Gründen die Asylrelevanz der geltend gemachten Fluchtgründe. Mit den von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführten wirtschaftlichen Gründen habe sie keine Verfolgungshandlungen aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen behauptet und sie rechtfertigten weder die Anerkennung der Beschwerdeführerin als Flüchtling noch die Gewährung von Abschiebungsschutz.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wurde kritisiert, die Erstbehörde habe sich bei der Prüfung einer möglichen Verfolgungsgefahr auf die Beurteilung beschränkt, ob es für die Beschwerdeführerin bereits vor der Ausreise aus Vietnam "eine Gefährdungslage" gegeben habe. Mit ihrer Asylantragstellung in Österreich, die als Weigerung zur Rückkehr nach Vietnam zu werten sei, habe die Beschwerdeführerin gegen Artikel 89 des vietnamesischen Strafgesetzbuches verstoßen und das Delikt der "Republikflucht" begangen, das unter anderem mit Umerziehung ("reeducation") für die Dauer von bis zu einem Jahr und mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bedroht sei. Bei einer Rückkehr drohe der Beschwerdeführerin somit eine Bestrafung, der jede Verhältnismäßigkeit fehle. Dabei handle es sich um eine "politische Strafverfolgung" durch das "totalitäre Regime kommunistischer Prägung" in Vietnam, weil die Strafdrohung der Abwehr und Ahndung des auf abweichender politischer Überzeugung beruhenden Wunsches auf ein Leben in einem anderen Land diene. Sie stelle daher eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Nach einem Gutachten von amnesty international vom 4. Juni 1998 sei es möglich, dass Vietnamesen, die lange in Europa gelebt hätten, im Anschluss an die mehrtägige Verbringung in ein Erstaufnahmelager dauerhaft interniert bzw. in Haft genommen werden. Das Bundesasylamt habe es entgegen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht unterlassen, sich mit den der Beschwerdeführerin wegen Verstoßes gegen die genannte Strafbestimmung drohenden Sanktionen auseinander zu setzen.

Der unabhängige Bundesasylsenat (die belangte Behörde) wies die Berufung nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid vom 9. Mai 2003 ab. Dabei ging die belangte Behörde in Bezug auf den in der Berufung geltend gemachten "Nachfluchtgrund" vom Vorbringen der Beschwerdeführerin aus, sie habe Vietnam über den Flughafen Hanoi (Richtung Moskau) unter Verwendung ihres Reisepasses "ganz offiziell und problemlos" verlassen. Auch in der Berufung behaupte die Beschwerdeführerin nicht, Vietnam "auf illegalem Weg" verlassen zu haben. Aus "Punkt 4." des Berichtes (des deutschen Auswärtigen Amtes) über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation in Vietnam (Stand: Mai 2001) betreffend "Rückkehrfragen" gehe hervor, dass nach dem "neuen Gesetz (Artikel 274 Strafgesetzbuch)" lediglich die ungenehmigte Ausreise aus Vietnam und der unerlaubte Verbleib im Ausland unter Strafe stehe. Dieser "Strafrechtsparagraph" werde jedoch von den vietnamesischen Behörden bei der Rückkehr illegal nach Deutschland Ausgereister nicht mehr angewendet. Dem deutschen Auswärtigen Amt und UNHCR seien keinerlei Strafverfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern wegen ungenehmigter Ausreise bekannt. Auch im Zusammenhang mit den aus Hongkong zurückgekehrten "Boat People" und anderen Flüchtlingen aus Indonesien, Malaysia, den Philippinen, Singapur, Thailand und Japan seien keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer wegen illegaler Ausreise strafrechtlich belangt worden wären. Vielmehr wären praktische Probleme bei der Wiedereingliederung durch die vietnamesischen Behörden und UNHCR "unterstützt" worden. Umso mehr - so folgerte die belangte Behörde - müsse eine sichere Rückkehr für die Beschwerdeführerin "gelten", weil sie das Land auf legalem Weg verlassen habe. Es existierten in diesem Zusammenhang keine Berichte und damit keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte, welche die Prognose zuließen, dass Staatsangehörige von Vietnam, die ihr Land legal verlassen hätten, im Falle ihrer Rückkehr nach Vietnam "mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung - etwa eine Verhaftung - von einen Asylgrund erreichender Intensität" zu erleiden hätten; dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin nach ihren Angaben nie politisch tätig und kein Mitglied einer politischen Partei gewesen sei und auch niemals Probleme mit den Behörden gehabt habe. Die belangte Behörde gelangte daher sowohl in Bezug auf § 7 AsylG als auch hinsichtlich des nach § 8 AsylG vorgenommenen Zulässigkeitsausspruches (mit dessen Wiederholung) zu einer Berufungsabweisung.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Auf Grund von älteren Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Asylgesetzen wurde der Rechtssatz entwickelt, den an eine "Übertretung pass- und fremdenpolizeilicher oder sonstiger den Aufenthalt im Ausland regelnder Vorschriften" anknüpfenden Sanktionen fehle der Zusammenhang mit einem Konventionsgrund (vgl. die Nachweise bei Steiner, Österreichisches Asylrecht (1990) 32, und die daran anschließende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, z. B. die zu Vietnam ergangenen Erkenntnisse vom 27. Jänner 1994, Zl. 93/01/1191, und vom 18. Dezember 1996, Zl. 95/20/0353, sowie vom 26. Juni 1996, Zl. 96/20/0326). In dem auch einen Asylwerber aus Vietnam betreffenden Erkenntnis vom 21. März 2002, Zlen. 99/20/0520, 0521, wurde (mit Bezugnahme auf zum Irak ergangene Rechtsprechung und auf die Auffassung von Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 (Nachdruck 1998) 53) mittlerweile aber zum Asylgesetz 1997 klargestellt, dass diese - insbesondere in Bezug auf Sanktionen wegen "Republikflucht" (vor allem in Vietnam) auch bei etwaigen Einweisungen in "Umerziehungslager" u.dgl. - einen Zusammenhang mit Konventionsgründen verneinende Vorjudikatur in dieser Hinsicht nicht ohne Differenzierungen aufrecht zu erhalten ist. Vielmehr hänge es von den Einzelheiten des jeweils zu beurteilenden Bedrohungsbildes ab, ob derartige Sanktionen asylrelevant sein können (vgl. die den Irak unter dem Regime des Saddam Hussein betreffenden hg. Erkenntnisse vom 21. November 2002, Zl. 99/20/0160, und Zl. 99/20/0175, sowie vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, Punkt 4. der Entscheidungsgründe, jeweils mit weiteren Nachweisen). In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Erkenntnissen zum Ausdruck gebracht, dass in der Unverhältnismäßigkeit der für die unerlaubte Ausreise (in Verbindung mit dem anschließenden Auslandsaufenthalt und wegen Asylantragstellung) damals angeordneten Strafdrohung ein Anhaltspunkt dafür zu sehen sei, dass den von der Strafdrohung Betroffenen unter den früheren politischen Verhältnissen im Irak eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wurde (vgl. das Erkenntnis vom 22. Mai 2003, Zl. 2000/20/0420, mit dem Hinweis auf das weitere Rechtsprechungsnachweise enthaltende Erkenntnis vom selben Tag, Zl. 2001/20/0268).

Mit der Frage, ob sich diese Überlegungen auch auf Art. 274 des vietnamesischen Strafgesetzbuches übertragen lassen, hat sich die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nicht befasst. Demnach hat sie auch nicht festgestellt, welche Sanktionen für die Begehung des Deliktes der "Republikflucht" nach der genannten Strafbestimmung vorgesehen sind. In einer - im Bescheid (Seite 5 unten) wörtlich wiedergegebenen - Passage im Verhandlungsprotokoll hat sie aber ausdrücklich eingeräumt, es sei richtig, dass "die Strafe, die auf Republikflucht steht, unverhältnismäßig hoch ist." Eine die politischen Verhältnisse in Vietnam einbeziehende Auseinandersetzung mit der (in der Berufung angesprochenen) Zielsetzung dieser Strafbestimmung und mit den bei einer Übertretung in der Praxis grundsätzlich zu erwartenden Folgen ist dem Bescheid nicht zu entnehmen. Auf dieser Basis lässt sich für den vorliegenden Fall somit jedenfalls nicht sagen, die der Beschwerdeführerin nach ihrem Vorbringen angeblich drohende Strafverfolgung habe keine Asylrelevanz.

Vor diesem Hintergrund kommt es daher entscheidungswesentlich darauf an, ob die Einschätzung der belangten Behörde, die Beschwerdeführerin habe bei einer Rückkehr nach Vietnam nicht mit einer Bestrafung nach der genannten Bestimmung zu rechnen, tragfähig begründet wurde. Dazu führt die Beschwerde im Wesentlichen ins Treffen, die belangte Behörde habe nur auf die legale Ausreise der Beschwerdeführerin abgestellt, jedoch den Umstand der Asylantragstellung und der "langen Abwesenheit", wodurch der genannte Straftatbestand erfüllt worden sei, zu Unrecht nicht einbezogen. Dieser Einwand ist im Ergebnis berechtigt:

Die belangte Behörde hat sich bei ihrer Einschätzung über die Rückkehrgefährdung auf den Abschnitt IV. des Berichtes des deutschen Auswärtigen Amtes vom 9. Juli 2001 bezogen. Im Punkt 2. über die "Behandlung der Rückkehrer" erfolgt zunächst ein Hinweis auf das im September 1995 in Kraft getretene "Deutsch-Vietnamesische Rückübernahmeabkommen", in dem Vietnam seine völkerrechtliche Verpflichtung zur Rückübernahme aller seiner Staatsangehörigen, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, anerkannt habe. Den anschließenden, im angefochtenen Bescheid übernommenen Ausführungen zur Nichtanwendung des Art. 274 des vietnamesischen Strafgesetzbuches "bei der Rückkehr illegal nach Deutschland Ausgereister" folgt der Hinweis, dazu habe sich Vietnam auch vertraglich verpflichtet. Im Briefwechsel zu dem erwähnten Rückübernahmeabkommen habe Vietnam ausdrücklich zugesichert, auf eine Strafverfolgung von Rückkehrern wegen ihrer unerlaubten Ausreise und ihres unerlaubten Aufenthaltes in Deutschland zu verzichten. Erst unmittelbar anschließend folgt in diesem Berichtsteil dann die Feststellung, dem Auswärtigen Amt und UNHCR seien keinerlei Strafverfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern wegen unerlaubter Ausreise bekannt.

Der von der belangten Behörde verwertete Bericht bezieht sich somit erkennbar nur auf die Behandlung vietnamesischer Rückkehrer aus Deutschland vor dem Hintergrund des genannten Abkommens (in diesem Sinn auch die in der Berufungsverhandlung erörterte Anfragebeantwortung für das Verwaltungsgericht Stuttgart vom 2. Juni 2001 und die mit den Verwaltungsakten vorgelegte Anfragebeantwortung für dasselbe Gericht vom 19. Juli 2001, jeweils Punkt 6.). Daraus kann daher nicht ohne Weiteres auf die Rückkehrsituation von vietnamesischen Staatsangehörigen geschlossen werden, die nach (erfolgloser) Asylantragstellung und einem mehrjährigen Aufenthalt außerhalb Vietnams dorthin aus Österreich abgeschoben werden, zumal in Punkt IV. 5. des genannten Berichtes den (im angefochtenen Bescheid auch übernommenen) Ausführungen über die Rückkehr von Vietnamesen aus asiatischen Ländern auch ausdrücklich vorangestellt wurde, über die "Abschiebepraxis" anderer westlicher Staaten lägen keine Informationen vor.

Darüber hinaus greift es nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes zu kurz, schon wegen des legalen Verlassens des Heimatlandes ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin keine Verfolgung nach der genannten Strafbestimmung zu befürchten habe. Nach dem Inhalt dieses Straftatbestandes - wie er im angefochtenen Bescheid und in den genannten Berichten beschrieben wird - fällt darunter nämlich auch der "unerlaubte Verbleib im Ausland". Die belangte Behörde hätte daher auch prüfen müssen, ob die von der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang geltend gemachten Umstände - die Asylantragstellung, mit der sie ihre mangelnde Rückkehrabsicht zum Ausdruck gebracht habe, und der lange Verbleib außerhalb Vietnams in einem westeuropäischen Land - den genannten Straftatbestand erfüllen und ob die Beschwerdeführerin trotz legaler Ausreise deshalb mit einer - im oben erwähnten, Asylrelevanz begründenden Sinn - unverhältnismäßigen Bestrafung zu rechnen hätte.

Der angefochtene Bescheid war somit im Hinblick auf die aufgezeigten Begründungsmängel wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung.

Wien, am 2. März 2006

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2003200342.X00

Im RIS seit

04.04.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten