TE Vwgh Erkenntnis 2006/5/9 2003/01/0171

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Veröffentlicht am 09.05.2006
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §6 Z3;
AsylG 1997 §8;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Pelant, Dr. Kleiser und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Matt, über die Beschwerde des Bundesministers für Inneres gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Februar 2003, Zl. 233.923/0-V/14/02, betreffend Zurückweisung der Berufung in einer Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: J O in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, seinen Angaben zufolge ein am 15. Juni 1986 geborener Staatsangehöriger von Sierra Leone, stellte am 30. September 2002 einen Asylantrag. Er wurde vom Bundesasylamt am 8. Oktober 2002 niederschriftlich einvernommen. In dieser Niederschrift findet sich die Feststellung "der AW (damit gemeint: Asylwerber) ist offensichtlich älter, als er behauptet. Sein Auftreten und sein Aussehen - Bartstoppeln, Kotletten, Handflächen - sind anders, als dies für einen 16 jährigen Afrikaner zu erwarten sind". Die Frage, woher er wisse, dass er am 15. Juni 1986 geboren sei, beantwortete der Mitbeteiligte dahingehend, seine Mutter habe ihm das vor langer Zeit erzählt, Dokumente (über den Zeitpunkt seiner Geburt) habe er jedoch keine.

Mit Bescheid vom 2. Dezember 2002 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Mitbeteiligten gemäß § 6 Z 3 AsylG als offensichtlich unbegründet ab (Spruchpunkt I) und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Sierra Leone zulässig sei (Spruchpunkt II.).

In der Begründung stellte das Bundesasylamt fest, der Mitbeteiligte sei auf Grund seines Auftretens und äußeren Erscheinungsbildes wesentlich älter als 18 Jahre. Seine über Vorhalt gegebene Antwort betreffend sein Geburtsdatum sei als Schutzbehauptung zu werten und könne "der Einschätzung des Einvernehmenden in keinster Weise entgegenstehen". Die Angaben des Mitbeteiligten über sein behauptetes Alter würden offensichtlich nicht den Tatsachen entsprechen. Da er älter sei als er behaupte, also das 18. Lebensjahr mit absoluter Sicherheit überschritten habe, sei er als volljährig zu betrachten.

Der erstinstanzliche Bescheid wurde am 6. Dezember 2002 dem Mitbeteiligten persönlich zugestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte am 17. Dezember 2002 Berufung. Er brachte darin (auch) vor, die Behörde hätte sich bei der Feststellung, er sei älter als 18 Jahre, eines Gutachters bedienen müssen. Sie verfüge nämlich mit Sicherheit nicht über die nötigen medizinischen bzw. biologischen Kenntnisse, um diese Feststellung zu treffen; offensichtlich werde dies bei der mangelnden Begründung seiner Volljährigkeit.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde die Berufung des Mitbeteiligten ohne weiteres Verfahren (ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung) gemäß § 63 Abs. 5 AVG als unzulässig zurückgewiesen.

Zur Begründung führte die belangte Behörde - zusammengefasst -

aus, es sei im Kulturkreis des Mitbeteiligten nicht ungewöhnlich, dass ihm das Geburtsdatum (nur) von seinen Eltern mitgeteilt werde; die Ausstellung einer Geburtsurkunde sei unüblich. Der Feststellung des Bundesasylamtes, der Mitbeteiligte sei offensichtlich älter als er behaupte, könne die belangte Behörde "nicht beipflichten". Auf Grund der glaubwürdigen Angaben, er sei am 15. Juni 1986 geboren, sei vielmehr davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte minderjährig sei. Im gesamten Verfahren habe sich dafür, dass er bereits volljährig sei, kein Anhaltspunkt ergeben. Dem im Akt befindlichen Foto sei nicht eindeutig zu entnehmen, dass der Mitbeteiligte offensichtlich älter sei als er behaupte. Der erstinstanzliche Bescheid sei dem Mitbeteiligten (persönlich) zugestellt worden; dieser "rechtswidrige Vorgang" sei am Rückschein beurkundet. Anhaltspunkte dafür, dass der erstinstanzliche Bescheid (auch) an den gesetzlichen Vertreter zugestellt worden sei, seien dem Verwaltungsakt nicht zu entnehmen. Die Zustellung an den minderjährigen Mitbeteiligten stelle einen Zustellmangel dar, der erstinstanzliche Bescheid sei daher nicht rechtswirksam erlassen worden. Die allein vom minderjährigen Mitbeteiligten unterfertige, gegen einen nicht wirksam erlassenen Bescheid erhobene Berufung sei im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG unzulässig und daher zurückzuweisen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Amtsbeschwerde des Bundesministers für Inneres, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Amtsbeschwerde bringt vor, die belangte Behörde hätte im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung durchführen müssen; in deren Rahmen hätte sie die Glaubwürdigkeit bzw. das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Minderjährigkeit des Mitbeteiligten feststellen müssen. Das Alter einer Person könne nicht ausschließlich nach der Aktenlage beurteilt werden. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde, die sich entscheidend auf ein Passfoto stütze, sei nicht haltbar.

Damit zeigt der Beschwerdeführer eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

Die belangte Behörde hielt den beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesasylamtes zum Alter des Beschwerdeführers (wenn auch ohne Angabe jener Quellen, aus denen sie ihre Erfahrungstatsachen ableitet) zunächst entgegen, dass es im Kulturkreis des Beschwerdeführers nicht unüblich sei, das Geburtsdatum nur aufgrund von Erzählungen der Eltern zu wissen, und über keine Geburtsurkunde zu verfügen. Auch sei dem im Akt befindlichen Foto des Beschwerdeführers nicht eindeutig zu entnehmen, dass er "offensichtlich älter" sei, als er angegeben habe. Damit zeigte die belangte Behörde Umstände auf, die auf eine Unschlüssigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung hindeuteten und eine vertiefte Prüfung der Alterseinschätzung indiziert hätten.

Die belangte Behörde ging aber noch weiter und traf - ohne Verfahrensergänzung - die Feststellung, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen Minderjährigen handle. Zu diesem Schluss gelangte sie, weil die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburtsdatum - so die Begründung des angefochtenen Bescheides - "glaubwürdig" gewesen seien und sich im gesamten Verfahren auch kein Anhaltspunkt für die Volljährigkeit des Beschwerdeführers ergeben habe. Diese positive Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers begründete die belangte Behörde allerdings nicht und es lässt sich auch nicht erkennen, dass sie in ihre Erwägungen die Zweifel an der Ehrlichkeit des Beschwerdeführers einbezogen hat, die vom Bundesasylamt in der erstinstanzlichen Entscheidung "bei einer Gesamtbetrachtung der Angaben" des Beschwerdeführers (etwa auch zur behaupteten Herkunft aus Sierra Leone) angemeldet worden sind. Im Übrigen berücksichtigte die belangte Behörde nicht, dass sich das Bundesasylamt bei seiner Alterseinschätzung nicht auf das im Akt erliegende Foto bezog, sondern einen unmittelbaren Eindruck verwertete, den sein Sachbearbeiter anlässlich der Einvernahme des Beschwerdeführers am 8. Oktober 2002 gewonnen hatte und den ein Lichtbild vom Beschwerdeführer nicht in gleicher Weise vermitteln kann. Ob dieser von einem Organwalter des Bundesasylamtes festgehaltene persönliche Eindruck ausreichte, eine zuverlässige Alterseinschätzung vorzunehmen, ist hier nicht zu beurteilen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 22. November 2005, Zl. 2005/01/0415). Die Umwürdigung der Beweisergebnisse (im Sinne einer von der belangten Behörde getroffenen Feststellung, der Beschwerdeführer sei minderjährig) durfte jedenfalls nicht ohne Auseinandersetzung mit den obgenannten Aspekten des Falles erfolgen und hätte eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens erforderlich gemacht.

Nach dem Vorgesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 9. Mai 2006

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Rechtsmittelverfahren Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2003010171.X00

Im RIS seit

14.07.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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