TE Vfgh Erkenntnis 2002/6/19 B1404/01

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Veröffentlicht am 19.06.2002
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs3 litd
RAO §9

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch bloße Verlesung einer Zeugenaussage in der mündlichen Verhandlung eines Disziplinarverfahrens über einen Rechtsanwalt; keine Möglichkeit des Beschwerdeführers zur Befragung jener Zeugin

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2.143,68 bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Wien. Mit Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien (in der Folge: Disziplinarrat) wurde er schuldig erkannt, dadurch die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen zu haben, daß er

"1. Rechtsanwalt Dr. W H in Schriftsätzen zu 16 E2960/98w des Bezirksgerichtes Favoriten, dort eingelangt am 29.5.1998, und zu 21 C60/98b des Bezirksgerichtes Donaustadt, dort eingelangt am 22.7.1998 ohne zuvor geeignete Schritte zur Aufklärung des Sachverhaltes unternommen zu haben, zu Unrecht Kollusion mit dem Prozeßgegner Ku. H zum Nachteil seiner Mandantin Ka. H, rechtlich unvertretbares und mit dem Interesse des Prozeßgegners abgestimmtes Handeln in der Absicht der Schädigung der rechtlichen Interessen seiner Mandantin und deren durch gerichtlichen Vergleich vom 21.3.1997 tatsächlich verwirklichter Schädigung vorgeworfen und ihn unnötig in Streit gezogen [habe]

und

2. mit Schriftsatz zu 21 C60/98b an das Bezirksgericht Donaustadt, dort eingelangt am 22.7.1998, Rechtsanwalt Dr. W H als seinerzeitigem Vertreter der Ka. H und Rechtsanwalt Mag. Dr. T H als Vertreter des Ku. H zu Unrecht über übliches kollegiales Vorgehen hinaus bestehendes Einvernehmen vorgeworfen und die beiden unnötig in Streit gezogen [habe]".

Über den Beschwerdeführer wurde deswegen eine Geldbuße in Höhe von S 20.000,- verhängt und die Verpflichtung zum Ersatz der Verfahrenskosten ausgesprochen.

Begründend führte der Disziplinarrat dazu nach Wiedergabe des Ablaufs des erstinstanzlichen Verwaltungsverfahrens folgendes aus:

"4. Aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens hat der Disziplinarrat folgenden Sachverhalt festgestellt und als erwiesen angenommen:

Dr. W H, Rechtsanwalt in Wien, vertrat Ka. H außergerichtlich und gerichtlich in ihrer Scheidungssache gegen Ku. H, in der Zeit vom Herbst 1996 bis Mai/Juni 1997. Ku. H wurde ursprünglich von Rechtsanwalt Dr. L sodann von Dr. E M L-B, Rechtsanwältin in Wien und dann von Mag. Dr. T H, der vor seiner Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bei Dr. E M L-B als Konzipient beschäftigt war, vertreten.

Die vermögensrechtlichen Ansprüche wurden vorwiegend von den Eheleuten H selbst verhandelt. Am 21.3.1997 wurde zu 8 C262/97 i des Bezirksgerichtes Favoriten die Ehe geschieden und ein vermögensrechtlicher Vergleich geschlossen. Ka. H hatte ihrem Rechtsvertreter, Dr. W H, einen Vereinbarungsentwurf übergeben, den sie als 'mein Vorschlag vom 20.1.1997' bezeichnete.

Der vor dem Bezirksgericht Favoriten geschlossene Vergleich unterscheidet sich in einigen Punkten von dem Vereinbarungsentwurf der Ka. H. Der gravierendste Unterschied besteht darin, daß sich Ka. H im gerichtlichen Vergleich verpflichtete, für einen bestimmten Zeitraum monatliche Zahlungen an ihren Ehemann zu leisten. Dabei handelt es sich um den Unterhaltsbetrag, den Ku. H an seinen minderjährigen Sohn zu leisten hatte und um eine Kreditrate, die er auf seine geschiedene Frau überwälzen wollte.

Ka. H, die diesen Vergleich im wesentlichen mit ihrem nunmehr geschiedenen Ehemann ausgehandelt hatte, war zwar der Auffassung, daß sie von Dr. W H nicht gut vertreten wurde - hatte jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, daß er mit der Gegenseite gemeinsame Sache zugunsten ihres Ehemannes gemacht hätte.

Im Mai 1998 beantragte Mag. Dr. T H als Vertreter des Ku. H aufgrund des Scheidungsvergleichs die Fahrnis- und Gehaltsexekution zur Hereinbringung eines Betrages von S 13.560,--. Die Exekution wurde mit Beschluß des Bezirksgerichtes Favoriten zu 16 E2960/98 w am 18.5.1998 bewilligt. Dagegen erhob die nunmehr durch den DB vertretene Ka. H Einwendungen, die sie mit dem Rekurs gegen die Exekutionsbewilligung verband.

In diesem Schriftsatz brachte der [Beschwerdeführer] vor, die im Verfahren vor dem Bezirksgericht Favoriten zu 8 C262/97 am 21.3.1997 zwischen den Verfahrensbeteiligten geschlossene Vereinbarung (Scheidungsvergleich), wonach die Verpflichtete dem Betreibenden den Betrag von S 4.520,-- in der Zeit vom 1.6.1997 bis zum 1.11.2005 jeweils zum Monatsersten zu bezahlen hätte, sei unwirksam, sittenwidrig und 'wegen Kollusion des damaligen Vertreters der Verpflichteten (Dr. W H) mit dem Betreibenden (wegen) Willensmangels der Verpflichteten und (wegen) Verstoßes gegen zwingendes Recht' nichtig.

Des weiteren brachte der [Beschwerdeführer] in diesem Schriftsatz vor, seine Mandantin sei durch 'rechtlich unvertretbares und mit dem Interesse des Betreibenden abgestimmtes Handeln des damaligen Rechtsvertreters der Verpflichteten, Dr. W H, bestimmt worden, den Scheidungsvergleich zu schließen. Diese Vorwürfe werden im Zuge der weiteren Ausführungen des Schriftsatzes wiederholt. In einem weiteren am 22.7.1998 beim Bezirksgericht Donaustadt eingebrachten Schriftsatz wiederholte der DB den Vorwurf der Schädigung seiner Mandantin durch das bewußte Zusammenwirken des Ku. H mit Dr. W H und warf zudem Mag. Dr. T H ein 'über übliches kollegiales Vorgehen hinaus bestehendes Einvernehmen mit Dr. H vor.

Es konnte nicht festgestellt werden, daß der [Beschwerdeführer] bevor er diese Vorwürfe erhob, mit Dr. W H oder mit Mag. Dr. T H zur allfälligen Klärung des Sachverhalts Kontakt aufgenommen hätte.

In seiner verantwortlichen Äußerung versuchte der [Beschwerdeführer] die von ihm erhobenen Vorwürfe gegen Dr. W H und Mag. Dr. T H zu rechtfertigen und führte aus, daß er die Schriftsätze zur Wahrung der rechtlichen Interessen seiner Mandantin und über deren ausdrücklichen Auftrag verfaßt habe. Es sei ihm daher geboten und gestattet gewesen, den Tatbestand der Kollusion aufzuzeigen. Der Inhalt des Scheidungsvergleichs hätte die von ihm auftragsgemäß vertretene Auffassung nahegelegt, daß absichtlich schädigendes mit der Gegenpartei zusammenwirkendes Verhalten von Rechtsanwalt Dr. H zum Nachteil seiner Mandantin gesetzt worden sei. Hinsichtlich der Vorwürfe gegen Rechtsanwalt Mag. Dr. T H führte er aus, daß er nicht ihn, sondern den von ihm vertretenen Mandanten, nämlich den geschiedenen Ehemann seiner Klientin gemeint habe. Bei seiner Vernehmung in der Disziplinarverhandlung vom 1.10.1999 führte er aus, daß seine Mandantin offenkundig so schlecht vertreten worden sei, daß er das nicht mehr mit einer Nachlässigkeit interpretieren konnte, er aber keine konkrete Indikation dafür hatte, daß Dr. H ausgerechnet den Gegner unterstützen wollte.

Die Einwendungen bzw. der Rekurs gegen die Exekutionsbewilligung des BG Favoriten vom 18.5.1998, 16 E2960/98 w, wurde abgewiesen. Das Verfahren vor dem Bezirksgericht Donaustadt zu 21 C60/98 b, in dem Ka. H eine Schmerzengeldforderung gegen Ku. H in der Höhe von S 30.000,-- geltend machte, wurde mit Vergleich beendet, in dem sich der Beklagte verpflichtete, den halben Klagsbetrag an die Klägerin zu bezahlen.

5. Die Beweiswürdigung gründet sich auf die glaubwürdigen Aussagen der im Akt D 183/98 vernommenen Zeugen Ku. und Ka. H, die Angaben des [Beschwerdeführers] und die vorgelegten unbedenklichen Urkunden.

6. Der Disziplinarrat beurteilt den festgestellten Sachverhalt rechtlich wie folgt:

Um die Nichtigkeit eines gerichtlichen Scheidungsvergleiches darzustellen, brachte der [Beschwerdeführer] in den Gerichtsverfahren vor, daß Dr. W H, Mag. Dr. T H und Ku. H im bewußten Zusammenwirken zum Nachteil der von Dr. H vertretenen Ka. H gehandelt hätten.

Der Vorwurf der Kollusion ist einer der schwersten Vorwürfe gegen einen Rechtsanwalt. Er beinhaltet den Vorwurf der Untreue gegenüber dem eigenen Klienten - Kliententreue ist aber eine der wesentlichsten Grundsätze der anwaltlichen Tätigkeit.

Der Disziplinarrat ist daher der Auffassung, daß bevor ein derartiger Vorwurf erhoben wird, eine genaue Überprüfung des Sachverhalts erforderlich ist. Allein aus der Qualität der juristischen Leistung eines Rechtsanwaltes abzuleiten, daß er mit dem Gegner zum Nachteil der eigenen Klientin zusammengearbeitet habe, ist unzulässig. Im vorliegenden Fall kann nicht einmal davon ausgegangen werden, daß der [Beschwerdeführer] über ausdrücklichen Auftrag seiner Mandantin gehandelt hat, da diese in ihrer Vernehmung angab, keinen Anhaltspunkt für ein Zusammenwirken zu ihrem Nachteil zwischen ihrem seinerzeitigen Vertreter Dr. H und dem Vertreter ihres geschiedenen Ehemannes gefunden zu haben. Der Umstand, daß sie sich nicht gut vertreten fühlte, kann allerdings nicht Anlaß für eine leichtfertige derart schwerwiegende Anschuldigung durch den [Beschwerdeführer] sein.

Bei der Strafbemessung war die doppelte Qualifikation, die Schwere des Vorwurfs, aber auch der Umstand als erschwerend zu werten, daß der [Beschwerdeführer] noch in der Disziplinarverhandlung versuchte, sein Verhalten zu rechtfertigen und letztendlich keine Schuldeinsicht zeigte.

Als mildernd konnte der Disziplinarrat außer der Unbescholtenheit des [Beschwerdeführers] keine Umstände feststellen."

2. Der Beschwerdeführer erhob gegen dieses Erkenntnis des Disziplinarrates Berufung an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (in der Folge: OBDK). Mit Erkenntnis der OBDK vom 2. Juli 2001, Z3 Bkd 1/01, wurde der Berufung keine Folge gegeben.

Die Begründung dieses Erkenntnisses lautet auszugsweise:

"Zunächst ist festzuhalten, dass weder in 2 Ob 598/94 noch in SZ 58/123 und SZ 69/149 der Begriff der Kollusion definiert ('begreift') wird; vielmehr wird in diesen Entscheidungen das Rechtsverhältnis zwischen einem Dritten und einem seine Vertretungsmacht Missbrauchenden erörtert: Ein solcherart abgeschlossenes Rechtsgeschäft ist wirksam, es sei denn, der Dritte habe mit dem Treubrecher bewusst zusammengearbeitet, es habe sich ihm der Missbrauch geradezu aufdrängen müssen, er habe vom Missbrauch Kenntnis gehabt oder ein solcher sei erkennbar, gewesen.

Davon kann aber - nach den für eine Nichtigkeitsberufung maßgebenden erstinstanzlichen Feststellungen - keine Rede sein. Danach hat der DB die inkriminierten Äußerungen nicht über ausdrücklichen Auftrag seiner Mandantin verfasst, vielmehr hatte diese ausdrücklich angegeben, keinen Anhaltspunkt für ein Zusammenwirken zu ihrem Nachteil zwischen ihrem seinerzeitigen Vertreter Dr. H und dem Vertreter ihres geschiedenen Ehemannes gefunden zu haben. Dass sich Ka. H durch Dr. H schlecht vertreten fühlte, berechtigte den [Beschwerdeführer] nicht, Dr. H der Kollusion (colludere = zusammenspielen) zu bezichtigen. Auch wenn der DB der Ansicht war, der am 21. März 1997 geschlossene Vergleich wäre - nach den ihm von seiner Mandantin geschilderten Umständen - haarsträubend, war er - unter Einhaltung anwaltlicher Standesregeln - ohne hiefür weitere und gewichtige Indizien zu haben, zu den verfahrensgegenständlichen Behauptungen nicht berechtigt. Standen ihm solche Indizien aber nicht zur Verfügung, dann durfte er ohne weitere objektiv überprüfbare Verdachtsmomente einen so schwerwiegenden Vorwurf gegen einen Kollegen nicht erheben.

Insoweit gehen auch die Einwände mit Bezugnahme auf Äußerungsfreiheit gemäß §9 RAO, Vermutung der Rechtmäßigkeit und Dienlichkeit für den Rechtsstandpunkt des Mandanten ins Leere. Ein derart gravierender Vorwurf gegenüber einem Standeskollegen darf nur nach ausreichender und erfolgreicher Recherchierung, nicht aber bloß auf Grund von Informationen durch den Mandanten und - möglicherweise einseitiger - Beurteilung eines Vergleichsinhaltes erhoben werden.

Zur Schuldberufung:

Die Einvernahme der Zeugin Ka. H im Berufungsverfahren konnte ohne Beeinträchtigung von Verteidigungsrechten unterbleiben. Sie wurde zum Beweise dafür angeboten, dass die Zeugin gegenüber dem Berufungswerber klar zum Ausdruck brachte, dass ihr vormaliger Rechtsanwalt gegen ihre Interessen gearbeitet und für sie der Anschein bestanden hatte, dass dieser mit dem Gegenvertreter gemeinsame Sache zugunsten ihren Ehemannes gemacht hätte.

Im Hinblick darauf, dass Ka. H im Vorverfahren als Zeugin ausgesagt hatte: 'Die Frage, ob ich Indizien dafür nennen kann, dass Dr. H mit dem Gegenvertreter gemeinsame Sache zugunsten meines Mannes gemacht hätte, beantworte ich mit nein, allerdings hatte ich den Eindruck, dass Dr. H gegen mich arbeitete', hätte es schon im Beweisantrag näherer Ausführungen dazu bedurft, aus welchem Grund trotz der erwähnten, dem Beweisthema entgegenstehenden Aussage von der nunmehrigen Zeugenvernehmung das begehrte Ergebnis zu erwarten gewesen wäre. So gesehen läuft der Beweisantrag aber bloß auf einen unzulässigen Erkundungsbeweis hinaus.

Das weitere Vorbringen in der Schuldberufung behauptet vielerlei Umstände, durch die sich Ka. H von RA Dr. H mangelhaft vertreten erachtete. Wie aber bereits zur Nichtigkeitsberufung dargetan, berechtigte die Information eines RA durch seine Mandantschaft diesen nicht, in Schriftsätzen derart gravierende Anschuldigungen gegen einen Kollegen zu erheben. Auch der Inhalt des Aktes 11/0397/5210 der Rechtsanwaltskammer Wien bietet keinen Anhaltspunkt für die Annahme von Kollusion.

Falls der Beschuldigte aber vermeint, andere Mittel als die Information der Ka. H und der Gerichtsakt seien zur Aufklärung nicht vorhanden gewesen, ist ihm zu entgegnen, dass er das Mandat der Ka. H ca 1 Jahr vor Abgabe der inkriminierten Äußerungen übernommen hat. Demnach stand er aber keineswegs unter Zeitdruck und war sehr wohl in der Lage, von RA Dr. H eine Aufklärung über die Umstände des Vergleichsabschlusses zu verlangen. Diese Unterlassung beinhaltet den ihm gemachten disziplinären Vorwurf."

3. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art6 Abs2 und Abs3 litc und d EMRK, Art4 des 7. ZPEMRK, gemäß Art7 B-VG, sowie Art10 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

4. Die OBDK als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und keine Gegenschrift erstattet.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

Der Beschwerdeführer geht zurecht davon aus, daß das Disziplinarverfahren der Rechtsanwälte aufgrund der Schwere der im DSt 1990 angedrohten Strafen in den Anwendungsbereich des Art6 EMRK unter dem Aspekt der strafrechtlichen Anklage fällt (VfSlg. 11506/1987, 11512/1987, 11776/1988).

Art 6 Abs1 und Abs3 litd EMRK lauten:

"Artikel 6 - Recht auf ein faires Verfahren

(1) Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, [...]

...

(3) Jeder Angeklagte hat mindestens [...] die folgenden Rechte:

d) Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken;

..."

1.1. In seinem Erkenntnis VfSlg. 15495/1999 (= EuGRZ 2000,

69) hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, daß im Disziplinarverfahren der Rechtsanwälte die gemäß Art6 Abs3 litd EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Verfahrensgarantie verletzt wird, wenn

"... der Disziplinarrat die im Zivilverfahren gemachte Aussage [einer Zeugin] in der mündlichen Verhandlung verliest und dem Beschwerdeführer trotz dessen Antragstellung die Möglichkeit nimmt, die Aussage der [Zeugin] wirksam in Frage zu stellen".

Unter Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR (vgl. EGMR 20.9.1993, Saidi gegen Frankreich, ÖJZ 1994, 322 ff; EGMR 26.4.1991, Asch gegen Österreich, ÖJZ 1991, 517 ff; sowie EGMR 28.8.1992, Artner gegen Österreich, ÖJZ 1992, 846 ff) führte der Verfassungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis aus, daß es zwar grundsätzlich nicht in jedem Fall mit Art6 Abs1 oder Abs3 litd EMRK unvereinbar sei, wenn in einer mündlichen Verhandlung aus einem anderen Verfahren gewonnene Aussagen verlesen werden, auf die die Entscheidung in der Folge Bezug nimmt. In der Verwertung dieser Aussagen müssen jedoch die Verteidigungsrechte beachtet werden. In der Regel verlangen diese Rechte, daß der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit erhält, die Glaubwürdigkeit eines gegen ihn aussagenden Zeugen grundsätzlich in Frage zu stellen; sei es in dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge die Aussage ablegt, sei es zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens.

Weiters führte der Verfassungsgerichtshof darin aus:

"Nach der Rechtsprechung des EGMR ist ein Eingriff in dieses Fragerecht infolge einer bloßen Verlesung der Zeugenaussage nur dann als im Einklang mit Art6 EMRK stehend zu betrachten, wenn es dafür einen besonderen Grund gibt, der die persönliche Einvernahme der Zeugin als nicht gerechtfertigt erscheinen läßt. Dieser Grund kann etwa darin liegen, daß es rechtlich oder faktisch unmöglich ist, die Zeugin in der Verhandlung zu befragen. Im Fall Asch gegen Österreich lag dieser Grund im geltend gemachten Entschlagungsrecht der Zeugin. Der EGMR argumentierte, das (gesetzlich eingeräumte) Recht, sich der Aussage zu entschlagen, dürfe nicht dazu führen, die Verfolgung zu verhindern [...]. Im Fall Artner gegen Österreich konnte die Behörde den Aufenthaltsort der Zeugin für die Ladung zur Einvernahme in der Hauptverhandlung nicht ausfindig machen. Laut dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt wies das das Verfahren führende Gericht die Polizei zweimal an, die Zeugin auszuforschen. In der Folge vertagte das Gericht daher die Hauptverhandlung, um den Ermittlungen der Polizei hinreichend Zeit zu geben. Da der Behörde in ihrem Bemühen kein Vorwurf gemacht werden konnte, daß die betroffene Person nicht ausgeforscht werden konnte, kam der EGMR (vorläufig) zum Ergebnis, "das nationale Gericht durfte ... die ... Aussagen heranziehen" [...].

Doch selbst dann, wenn ein derartiger Grund das persönliche Erscheinen unmöglich macht, erachtete der EGMR das Vorliegen weiterer Umstände als erforderlich, um je nach Lage des Falles eine Verletzung der Verteidigungsrechte im Einzelfall auszuschließen bzw. das Verfahren insgesamt als fair zu beurteilen (Schaden, Das Fragerecht des Angeklagten, in FS Rill (1995) 213 ff. (227, 234); vgl. dazu auch EGMR 24.11.1986, Unterpertinger gegen Österreich, ÖJZ 1988, 22 - hier nahm der EGMR eine Verletzung des Art6 EMRK an). So befand der EGMR Art6 EMRK im Fall Asch (zusätzlich) deshalb nicht verletzt, weil die Verurteilung nicht ausschließlich auf die frühere Aussage der Zeugin gestützt wurde. Im Fall Artner beanstandete der EGMR die Verwertung der verlesenen Aussage durch das nationale Gericht (zusätzlich) deshalb nicht, weil zudem die frühere Aussage der Zeugin durch weitere Beweise, wie von ihr vorgelegte Beweisurkunden, aber auch durch das Vorstrafenregister des Beschwerdeführers und die vom Beschwerdeführer nicht mit Berufung angefochtene Verurteilung in einem gleichartigen Fall, bestätigt wurde."

Im vorliegenden Fall haben die Disziplinarbehörden den festgestellten - der Verurteilung zugrundegelegten - Sachverhalt auf die schriftlich festgehaltenen Aussagen der Zeugin Ka. H (sowie des Zeugen Ku. H) gestützt. Die genannten Zeugenaussagen sind bei einer nichtöffentlichen Vernehmung vor dem Untersuchungskommissär abgegeben worden, bei der der Beschwerdeführer nicht anwesend war. Wie außerdem aus der am Vernehmungsprotokoll vermerkten Geschäftszahl hervorgeht, erfolgte diese Vernehmung nicht in dem den Beschwerdeführer betreffenden Disziplinarverfahren (Zahl D 172/98), sondern offenkundig im Rahmen einer gegen einen anderen Rechtsanwalt gerichteten Voruntersuchung (es scheint dort die Geschäftszahl "D 183/98, Dr. W H" auf).

Der Disziplinarrat hat die Niederschrift über die Zeugenaussage - deren Inhalt er in seinen Feststellungen mehrmals verwertete - bloß verlesen. Die OBDK übernahm die Feststellungen des Disziplinarrats und führte ebenfalls keine unmittelbare Einvernahme dieser Zeugin durch, obwohl der Beschwerdeführer die mündliche Einvernahme der Zeugin Ka. H im Berufungsverfahren beantragt hatte.

Dem Beschwerdeführer war auf diese Weise jegliche Möglichkeit genommen, jene Zeugin in einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung zu befragen, auf deren Aussagen sich der Disziplinarrat - und diesem folgend die OBDK - bei der Feststellung des von ihnen als entscheidungserheblich erachteten Sachverhalts ausdrücklich gestützt haben.

Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner in VfSlg. 15495/1999 ausführlich dargelegten Auffassung, wonach in der beschriebenen Vorgangsweise eine Verletzung des durch Art6 Abs3 litd EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren liegt (vgl. zur Verletzung des Art6 Abs3 litd durch Ablehnung der beantragten Einvernahme eines Tatzeugen im Berufungsverfahren: OGH 27.1.1981, 10 Os 118/80 = JBl 1981, 445).

Der Bescheid war daher aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 327,-

enthalten.

Schlagworte

Rechtsanwälte, Disziplinarrecht, fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B1404.2001

Dokumentnummer

JFT_09979381_01B01404_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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