TE Vwgh Erkenntnis 2007/1/31 2006/08/0348

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.01.2007
beobachten
merken

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verfassungsgerichtshof;
32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag;

Norm

B-VG Art140 Abs7;
B-VG Art140;
EStG 1988 §26 Z4;
VerfGG 1953 §62 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard sowie Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Köller, Dr. Moritz und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des Dr. P, Rechtsanwalt in L, als Masseverwalter im Konkurs der R GmbH in P, vertreten durch Dr. Horst Koch, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Schillerstraße 1, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 28. Jänner 2003, Zl. SV(SanR)-410925/7-2003- Bb/May, betreffend Beitragsnachverrechnung (mitbeteiligte Partei:

Oberösterreichische Gebietskrankenkasse in 4021 Linz, Gruberstraße 77), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die beschwerdeführende Partei hat dem Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) Aufwendungen in der Höhe von EUR 381,90 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Mit Bescheid vom 2. Oktober 2001 schrieb die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse der im Spruch genannten Gesellschaft, über deren Vermögen während des Einspruchsverfahrens mit Beschluss des Landesgerichtes Linz vom 12. August 2002 das Konkursverfahren eröffnet worden war, die Entrichtung allgemeiner Beiträge in der Höhe von S 7,295.854,92 und Verzugszinsen in der Höhe von

S 604.000,-- "als Mindestbeitragszuschlag" binnen 15 Tagen nach Zustellung dieses Bescheides vor. Im Zuge der vom 13. April 2001 bis 19. Juli 2001 vorgenommenen Beitragsprüfung habe die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse festgestellt, dass das Unternehmen in zwei getrennte Betriebssparten aufgeteilt sei, und zwar in die Bereiche Schlosserei und Arbeitskräfteüberlassung (Leasing). Bei Abrechnung der Tages- und Nächtigungsgelder habe der Dienstgeber für 90 % der ausschließlich im Leasingbereich eingesetzten Dienstnehmer Entfernungszulagen, Nächtigungsgelder und Tagesgelder nach den Bestimmungen des Abschnittes VIII des Kollektivvertrages für das eisen- und metallverarbeitende Gewerbe bezahlt und zur Gänze und ohne zeitliche Begrenzung beitragsfrei belassen. Bei den restlichen 10 % dieser Leasingarbeiter seien Reisekosten auf Grund von Sondervereinbarungen in unterschiedlicher Höhe gezahlt und ebenfalls zur Gänze und zeitlich unbeschränkt beitragsfrei gelassen worden. Nach Hinweis auf die Bestimmungen der §§ 44 Abs. 1 und 49 ASVG sowie § 26 Z. 4 EStG 1988 verwies die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse darauf, dass das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz keinen eigenständigen Dienstreisebegriff enthalte und es für überlassene Arbeiter keinen Kollektivvertrag gebe. Die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung des Unternehmens liege in der Arbeitskräfteüberlassung. Die schriftlichen Verträge würden mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmen. Es seien daher Tages- und Nächtigungsgelder und Fahrtgelder (vermindert um die Kosten des öffentlichen Verkehrsmittels), die über die "Legaldefinition" des § 26 EStG 1988 hinaus gewährt worden seien, als beitragspflichtig zu werten.

Die Gesellschaft erhob gegen diesen Bescheid Einspruch, worin sie im Wesentlichen geltend machte, dass bei ihr von einem so genannten "ungegliederten Mischbetrieb" auszugehen sei. Das bloße Vorliegen verschiedener Gewerbeberechtigungen, mögen diese tatsächlich ausgeübt werden oder nicht, reiche für sich allein noch nicht für die Annahme abgegrenzter Betriebsabteilungen im Sinne des § 9 Abs. 2 ArbVG aus. Die beiden Sparten Schlosserei und Arbeitskräfteüberlassung würden "ohne (rechtlich relevante) Abgrenzung gemeinsam betrieben". In einem solchen ungegliederten Mischbetrieb sei "nach herrschender Lehre" dann, wenn im Bereich mit der überwiegenden wirtschaftlichen Bedeutung kein Kollektivvertrag, im übrigen Bereich jedoch ein Kollektivvertrag anzuwenden ist, der Geltungsbereich des Kollektivvertrages auf den gesamten Betrieb erstreckt. Diese Auffassung sei in einer gegenüber der Gesellschaft ergangenen Entscheidung des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 29. März 2001 bestätigt worden.

Gemäß § 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG, der im Zusammenhang mit der Feststellung der Sozialversicherungspflicht für die Taggelder auf § 26 Z. 4 in Verbindung mit § 68 Abs. 5 Z. 1 bis 6 EStG 1988 verweise, sei die Anwendbarkeit eines Kollektivvertrages ausschlaggebend. Die einkommensteuerrechtliche Behandlung der Taggelder sei daher "Vorfrage für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung".

Mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde der Einspruch als unbegründet abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde des Masseverwalters der erwähnten Gesellschaft, in der - u.a. gestützt auf ein Rechtsgutachten - die Auffassung vertreten wird, dass der Kollektivvertrag für das eisen- und metallverarbeitende Gewerbe auf sämtliche Arbeitnehmer der Gemeinschuldnerin anzuwenden und demzufolge auch der Dienstreisebegriff dieses Kollektivvertrages (beitragsrechtlich) maßgebend sei.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse - eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

2. Mit Beschluss vom 21. Dezember 2005 stellte der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf einen vom Verfassungsgerichtshof von Amts wegen gefassten Prüfungsbeschluss an den Verfassungsgerichtshof den - vom Verfassungsgerichtshof zu

G 4/06 protokollierten - Antrag, gemäß Art. 140 B-VG den vierten Satz des § 26 Z. 4 EStG 1988, BGBl. 400, als verfassungswidrig aufzuheben.

Mit Erkenntnis vom 22. Juni 2006, G 147/05, V 111/05, G 12/06, V 7/06, hat der Verfassungsgerichtshof "in § 26 Z. 4 EStG 1988, BGBl. Nr. 400 idF BGBl. Nr. 818/1993" die auch vom Verwaltungsgerichtshof angefochtene Gesetzesstelle als verfassungswidrig aufgehoben, in der Begründung jedoch zum Antrag des Verwaltungsgerichtshofes Folgendes ausgeführt:

"Ein weiterer Antrag des Verwaltungsgerichtshofes (protokolliert zu G 4/06) auf Aufhebung des vierten Satzes der Z 4 des § 26 EStG 1988 in der Stammfassung, BGBl. 400, erging aus Anlass eines Beschwerdeverfahrens betreffend die Sozialversicherungspflicht von Tagesgeldern im Sinne des § 49 Abs. 3 Z 1 ASVG (welcher auf § 26 Z 4 EStG 1988 verweist). Dieser -

in der Frage des Sitzes der behaupteten Verfassungswidrigkeit und im Hinblick auf die anzuwendende Fassung des EStG 1988 anders gelagerte - Antrag bleibt einer gesonderten Entscheidung vorbehalten."

Daraufhin hat der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 20. September 2006 an den Verfassungsgerichtshof den weiteren (von diesem zu G 183/06 protokollierten) Antrag gestellt,

" in § 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG in der Fassung des Abschnittes VIII, Artikel I, Z. 1 des Abgabenänderungsgesetzes 1989, BGBl. Nr. 660/1989, die Wortfolge

", soweit sie nach § 26 des Einkommensteuergesetzes 1988, BGBl. Nr. 400, nicht der Einkommensteuer(Lohnsteuer)pflicht unterliegen",

in eventu

§ 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG in der genannten Fassung zur Gänze als

verfassungswidrig aufzuheben".

Die Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes gingen unter Aufrechterhaltung der im Beschluss vom 21. Dezember 2005, G 4/06, vorgetragenen Bedenken dahin, dass die angefochtene Norm, die auf eine aus den vom Verfassungsgerichtshof angeführten - vom Verwaltungsgerichtshof geteilten - Gründen zum Teil als verfassungswidrig erkannte Norm verweist, dadurch selbst verfassungswidrig ist (Hinweis auf  VfSlg. 16904/2003).

Mit Beschluss und Erkenntnis vom 12. Dezember 2006, G 4/06, G 183/06, hat der Verfassungsgerichtshof den zu G 4/06 gestellten Antrag des Verwaltungsgerichtshofes zurückgewiesen und den zu G 183/06 gestellten Antrag des Verwaltungsgerichtshofes abgewiesen.

Den zurückweisenden Beschluss begründete der Verfassungsgerichtshof wörtlich wie folgt:

" Der Verfassungsgerichtshof hat ... mit dem Erkenntnis vom

22. Juni 2006, G 147/05, den vierten Satz der Z 4 des § 26 EStG 1988 nicht in der Stammfassung (BGBl. 400/1988), sondern in der Fassung BGBl. 818/1993 aufgehoben, und zwar ungeachtet dessen, dass dieser Satz selbst durch die ge-nannte Novelle keine Veränderung erfahren hat. Dem liegt die der Judikatur des Gerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 16.590/2002, bei Punkt II.3.) entsprechende Auffassung zugrunde, dass durch eine Novellierung von Teilen der Z 4 diese Vorschrift wegen des inneren Zusammenhanges insgesamt als neu erlassen anzusehen ist. Davon hat der Verfassungsgerichtshof auch bei Beurteilung der Zulässigkeit des Primärantrags des Verwaltungsgerichtshofes (G 4/06) auszugehen.

Dem Antrag des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein Verfahren zugrunde, bei dem es um die Beitragspflicht in den Jahren 1999 und 2000 geht. In diesen Jahren galt nach der dem Erkenntnis vom 22. Juni 2006, G 147/05, zugrunde liegenden Auffassung des Verfassungsgerichtshofes § 26 Z 4 EStG 1988 in der durch die Novelle BGBl. 818/1993 geschaffenen Fassung. Im Hinblick auf § 544 ASVG (demzufolge Verweise in diesem Bundesgesetz auf die Bestimmungen anderer Bundesgesetze im Zweifel als dynamische Verweisungen zu betrachten sind) ist überdies davon auszugehen, dass auch § 49 Abs. 3 Z 1 ASVG auf § 26 Z 4 EStG 1988 in der jeweils geltenden Fassung verweist, so dass sich der Verweis in den hier maßgeblichen Zeiträumen (1999 und 2000) ebenfalls auf die Fassung BGBl. 818/1993 bezieht.

Auf dem Boden dieser Rechtsauffassung hätte der Verwaltungsgerichtshof, da das bei ihm anhängige Verfahren die Jahre 1999 und 2000 betrifft, den vierten Satz des § 26 Z 4 EStG 1988 in der Fassung BGBl. 818/1993 anfechten müssen."

Das hinsichtlich des Gesetzesprüfungsantrages zu § 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG abweisende Erkenntnis begründete der Verfassungsgerichtshof im Übrigen damit, dass die Aufhebung der verweisenden Norm einen zu weiten Eingriff in das Rechtsgefüge mit sich bringen würde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Im Beschwerdefall besteht zwischen der Gebietskrankenkasse und der beschwerdeführenden Partei Streit über die Frage, ob ein Kollektivvertrag, von dem die beschwerdeführende Partei unter Vorlage eines Rechtsgutachtens behauptet, er sei auf die fraglichen Dienstverhältnisse anzuwenden, einen Begriff der Dienstreise enthält, welcher zur Beitragsfreiheit von Entgeltbestandteilen führt. Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse hat hinsichtlich der strittigen Entgelte eine Beitragsnachverrechnung vorgenommen und die Beitragsfreiheit mit der Begründung verneint, dass dieser Kollektivvertrag auf die betreffenden Dienstverhältnisse nicht anzuwenden sei. Diese Rechtsauffassung hat die mit Einspruch angerufene belangte Behörde geteilt.

2. Gemäß § 49 Abs. 1 ASVG sind unter Entgelt die Geld- und Sachbezüge zu verstehen, auf die der pflichtversicherte Dienstnehmer (Lehrling, Auftragnehmer) aus dem Dienst(Lehr)verhältnis (Auftragsverhältnis) Anspruch hat oder die er darüber hinaus auf Grund des Dienst(Lehr)verhältnisses (Auftragsverhältnisses) vom Dienstgeber (Auftraggeber) oder von einem Dritten erhält.

Gemäß § 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG gelten als Entgelt unter anderem nicht Beträge, die den Dienstnehmern (Lehrlingen) als Fahrtkostenvergütungen einschließlich der Vergütungen für Wochenend(Familien)heimfahrten, Tages- und Nächtigungsgelder gezahlt werden, soweit sie nach § 26 EStG 1988 nicht der Einkommensteuer(Lohnsteuer)pflicht unterliegen. Unter Tages- und Nächtigungsgelder fallen auch Vergütungen für den bei Arbeiten außerhalb des Betriebes oder mangels zumutbarer täglicher Rückkehrmöglichkeit an den ständigen Wohnort (Familienwohnsitz) verbundenen Mehraufwand (wie Bauzulagen, Trennungsgelder, Übernachtungsgelder, Zehrgelder, Entfernungszulagen, Aufwandsentschädigungen, Stör- und Außerhauszulagen u.ä.).

§ 26 Z. 4 EStG 1988 hatte bis zur Aufhebung des letzten Satzes durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 22. Juni 2006, G 147/05, auszugsweise folgenden Wortlaut (der vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Satz ist hervorgehoben):

"Eine Dienstreise liegt vor, wenn ein Arbeitnehmer über Auftrag des Arbeitgebers

-

seinen Dienstort (Büro, Betriebsstätte, Werksgelände, Lager usw.) zur Durchführung von Dienstverrichtungen verlässt oder

-

so weit weg von seinem ständigen Wohnort (Familienwohnsitz) arbeitet, dass ihm eine tägliche Rückkehr an seinen ständigen Wohnort (Familienwohnsitz) nicht zugemutet werden kann.

Bei Arbeitnehmern, die ihre Dienstreise vom Wohnort aus antreten, tritt an die Stelle des Dienstortes der Wohnort (Wohnung, gewöhnlicher Aufenthalt, Familienwohnsitz). Enthält eine lohngestaltende Vorschrift im Sinne des § 68 Abs. 5 Z. 1 bis 6 eine besondere Regelung des Begriffes Dienstreise, ist diese Regelung anzuwenden."

Lohngestaltende Vorschriften nach § 68 Abs. 5 Z. 1 bis 6 EStG 1988 sind u.a. (Z. 5) Kollektivverträge oder Betriebsvereinbarungen, die auf Grund besonderer kollektivvertraglicher Ermächtigungen abgeschlossen worden sind.

              3.              Der Verwaltungsgerichtshof hat zunächst zu klären, ob er § 26 Z. 4 letzter Satz EStG ungeachtet der Aufhebung dieser Norm durch den Verfassungsgerichtshof weiterhin anzuwenden oder ob er im Hinblick auf seine Anfechtung dieser Norm von der bereits bereinigten Rechtslage auszugehen hat.

3.1. Art. 140 Abs 7 B-VG lautet:

"Ist ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden oder hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Abs. 4 ausgesprochen, dass ein Gesetz verfassungswidrig war, so sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist jedoch das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Abs. 5 gesetzt, so ist das Gesetz auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles anzuwenden."

Der vom Verfassungsgesetzgeber mit der B-VG-Novelle 1975 aus der früheren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes übernommene Begriff des Anlassfalles ist zunächst (VfSlg. 8234/1978) auf jene Fälle beschränkt verstanden worden, die tatsächlich zur Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens geführt haben. Zwecks Loslösung von "Zufälligkeiten des Geschäftsganges und insbesondere von der Menge und Art der anfallenden Rechtssachen, also ausschließlich von Umständen im Schoße des Gerichtshofes selbst," hat ihn der Verfassungsgerichtshof jedoch später dahin ausgelegt, dass er alle im Zeitpunkt der Ausschreibung der Verhandlung anhängig gewordenen Fälle erfasst (VfSlg. 10.067/1984); nach Eröffnung der Möglichkeit (durch die Änderung des Verfassungsgerichtshofgesetzes im Gefolge der B-VG-Novelle 1984), auch im Normenprüfungsverfahren von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, hat er schließlich der Ausschreibung der Verhandlung den Beginn der nichtöffentlichen Beratung gleichgesetzt (VfSlg. 10.616/1985). In seinem Erkenntnis vom 15. Oktober 2005, B 844/05, hat der Verfassungsgerichtshof - in teilweiser Abkehr von seiner Vorjudikatur - entschieden, diese Gleichstellung in jenen Fällen nicht (mehr) vorzunehmen, in denen der ein Verwaltungsverfahren einleitende Antrag erst nach Bekanntmachung des Prüfungsbeschlusses gestellt wurde (mag auch die Beschwerde gegen den letztinstanzlichen Bescheid dann noch vor dem Beginn der Beratung beim Verfassungsgerichtshof eingelangt sein).

Der vorliegende Beschwerdefall ist - aus welchen Gründen immer - nicht Anlassfall des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 22. Juni 2006, G 147/05, V 111/05, G 12/06, V 7/06, mit dem "in § 26 Z 4 EStG 1988, BGBl. Nr. 400 idF BGBl. Nr. 818/1993" der letzte Satz, d.i. die auch vom Verwaltungsgerichtshof angefochtene Gesetzesstelle, als verfassungswidrig aufgehoben wurde.

3.2. Der Verwaltungsgerichtshof hatte sich bisher noch nicht mit der - allein von ihm selbst zu beantwortenden - Frage zu beschäftigen, ob eine Gesetzesaufhebung des Verfassungsgerichtshofes in den beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdefällen, in welchen der Verwaltungsgerichtshof rechtzeitig vor Beginn der Beratungen im Gesetzesprüfungsverfahren einen Gesetzesprüfungsantrag beim Verfassungsgerichtshof gestellt hat, dieser jedoch den Antrag aus welchen Gründen immer nicht in das Gesetzesprüfungsverfahren einbezogen hat oder ihn nicht einbeziehen konnte, eine der Anlassfallwirkung gleichzuhaltende Wirkung ("Quasianlassfallwirkung") entfaltet.

Dies ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes aus eben denselben Gründen zu bejahen, aus denen der Verfassungsgerichtshof diese Wirkung in den bei ihm anhängigen Beschwerdefällen, hinsichtlich derer ein Prüfungsbeschluss nicht gefasst wurde oder nicht rechtzeitig gefasst werden konnte, bejaht hat (vgl. VfSlg. 10.067/1984 und 10.616/1985).

3.3. Zu der sich daraus ergebenden Frage, ob das im Gesetzesprüfungsverfahren ergangene, § 26 Z. 4 letzter Satz EStG 1988 aufhebende Erkenntnis im vorliegenden Beschwerdeverfahren eine solche Wirkung entfaltet und daher die bereinigte Rechtslage anzuwenden ist, hat der Verwaltungsgerichtshof Folgendes erwogen:

3.3.1. Die Beantwortung dieser Frage hängt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes zunächst davon ab, ob der Verwaltungsgerichtshof dieselbe Norm angefochten hat, die der Verfassungsgerichtshof aufgehoben hat. Dies ist aus folgenden Gründen zu bejahen:

a) Der vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene letzte Satz des § 26 Z. 4 EStG 1988 wurde ein einziges Mal vom Gesetzgeber erlassen, und zwar mit der Stammfassung des derzeit geltenden Einkommensteuergesetzes BGBl. Nr. 400/1988. Die EStG-Novelle BGBl. Nr. 818/1993 hat andere Teile der Z. 4 des § 26 EStG 1988 neu gefasst, den letzten Satz jedoch weder neu erlassen noch geändert. Auch durch keine andere Novelle zum EStG wurde der letzte Satz des § 26 Z. 4 EStG neu erlassen oder verändert.

b) Nun hat zwar der Verfassungsgerichtshof den Spruch seines im Gesetzesprüfungsverfahren ergangenen aufhebenden Erkenntnisses in der Weise formuliert, dass der genannte Satz "in § 26 Z. 4 EStG 1988, idF BGBl. Nr. 818/1993" aufgehoben wurde. Soweit er sich dabei wörtlich auf die gesamte Z. 4 bezogen hat, "in der" etwas aufgehoben wurde, hat er zu Recht diese Norm in der Fassung dieser Novelle genannt; die Fassung des "in der Z. 4" aufgehobenen Satzes wird weder in der Begründung noch im Spruch des Erkenntnisses bezeichnet. Es besteht daher zwischen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes und dem Spruch des aufhebenden Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes kein Widerspruch.

3.3.2. Daran vermögen auch die oben wiedergegebenen Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in seiner Entscheidung vom 12. Dezember 2006, G 4/06, G 183/06, nichts zu ändern:

Der Verfassungsgerichtshof räumt in der Begründung selbst ein, dass der aufgehobene Satz mit dem Stammgesetz des EStG erlassen und seither nicht geändert wurde. Die vom Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang vertretene Auffassung, der Verwaltungsgerichtshof hätte dessen ungeachtet die Norm in der Fassung der mehrfach genannten Novelle anfechten müssen, wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt, und zwar aus mehreren Gründen:

a) Der Verfassungsgerichtshof übersieht zum Einen, dass es in erster Linie um die Frage geht, ob der Verwaltungsgerichtshof die von ihm angefochtene Norm richtig bezeichnet hat. Eine Norm, die nur einmal erlassen wurde und unter genauer Bezeichnung jenes Bundesgesetzes, in dem diese Norm dieses eine Mal kundgemacht wurde, angefochten wird, kann nicht unrichtig bezeichnet sein. Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung im Erfordernis des § 62 Abs. 1 erster Satz VfGG, dass der (Individual-)Antrag nach Art. 140 B-VG die Aufhebung "bestimmte(r) Stellen" des Gesetzes als verfassungswidrig begehren muss, ein strenges Formerfordernis erblickt. Dieses ist nur dann (aber jedenfalls dann) erfüllt, wenn die bekämpften Stellen des Gesetzes genau und eindeutig bezeichnet sind (so etwa VfSlg. 11888/1988 mit zahlreichen Judikaturhinweisen).

b) Für die Frage, ob eine Norm zum Zwecke der Bestimmung des Prozessgegenstandes in ihrer Fassung korrekt und eindeutig bezeichnet wurde, muss es gleichgültig sein, ob man rechtstheoretisch der Meinung ist, dass mit der Novelle auch nur eines Satzes (oder auch Wortes oder Satzzeichens?) in einem Gesetz die betreffende ganze Ziffer oder der ganze betreffende Absatz, der von der Änderung betroffene Paragraph oder gar das ganze Gesetz als neu erlassen anzusehen sind.

Die Frage des Umfanges der mit einer Änderung anzunehmenden Neuerlassung der von dieser Änderung nicht ausdrücklich umfassten Teile eines Gesetzes (also von deren normativer Wirkung) kann nämlich nicht von den Zufälligkeiten ihrer sprachlichen Gliederung (nach Paragraphen, Absätzen, Ziffern oder Buchstaben, Spiegelstrichen udgl.; man denke nur an umfangreiche "Sammelgesetze" uä.) abhängen.

Auch gibt es weder eine verfassungsrechtliche noch eine andere normative Grundlage für die Annahme, dass zB die Ziffer in einem Absatz (wie umfangreich sie immer sein mag) bei einer Gesetzesanfechtung die kleinste zu betrachtende Einheit eines Gesetzes zu sein hat. Rechtstheoretische Auffassungen über die gänzliche Neuerlassung eines Gesetzes mit jeder seiner Novellen, wie gering sie immer sein mögen, mögen von wissenschaftlichem Wert sein und mit durchaus beachtlichen Gründen vertreten werden. Als Prozessvoraussetzungen in einem Gesetzesprüfungsverfahren im Zusammenhang mit der Anforderung der genauen Bezeichnung der angefochtenen Norm können nur solche Anforderungen gelten, die von einer Partei unter Voraussetzung durchschnittlichen juristischen Wissens mit realistischer Aussicht auf Erfolg auch erfüllt werden können. Von der Beantwortung von Wertungsfragen der genannten Art, über die erst vom angerufenen Verfassungsgerichtshof im Nachhinein befunden wird, kann daher mangels hinreichender Vorhersehbarkeit einer solchen Wertung in einem größeren Kollegium von Richtern von vornherein nicht die Zulässigkeit eines Antrages abhängig sein.

3.3.3. Der Verfassungsgerichtshof hat auch in seiner bisherigen Rechtsprechung noch nie vergleichbar entschieden.

a) Das von ihm zitierte Beispiel des Erkenntnisses VfSlg.16590/2002 geht fehl: Darin wurde im Zusammenhang mit der Frage, ob die in Prüfung gezogene Norm aufzuheben oder bloß festzustellen ist, dass sie verfassungswidrig war, die Auffassung vertreten, dass letzteres der Fall sei, weil die Norm durch das Euro-Steuerumstellungsgesetz, BGBl. Nr. 59/2001, das erst nach der Fassung des Prüfungsbeschlusses in Kraft getreten war, geändert worden sei. In diesem Fall wurde auch tatsächlich die als verfassungswidrig erkannte Bestimmung des § 121 Abs. 5 Z. 2 EStG 1988 durch Änderung des Geldbetrages in Euro und damit auch die ebenfalls als verfassungswidrig erkannte Z. 3, die auf die Beträge der Z. 2 ausdrücklich Bezug nimmt, inhaltlich geändert. Dieses Beispiel vermag daher die Vorgangsweise des Verfassungsgerichtshofes im vorliegenden Fall nicht zu stützen.

b) Der Verfassungsgerichtshof hat betreffend die ausreichend präzise Bezeichnung der Norm bisher vielmehr stets eine andere Auffassung vertreten: Danach genügt es für die Bezeichnung der angefochtenen Norm, wenn sie in der (in jenem Fall: in Niederösterreich angesichts der Gesetzessammlung in Loseblattform) "gebräuchlichen Weise" bezeichnet wird (vgl. VfSlg. 17000/2003). Im Falle eines Antrages eines UVS hat es der Verfassungsgerichtshof genügen lassen, wenn eine zwar mit einer unrichtigen Fassung bezeichnete Norm im Antrag wörtlich wiedergegeben ist (ganz wie dies auch der Verwaltungsgerichtshof in diesem Fall in seinem Antrag vorsichtsweise getan hat), sodass die angefochtene Fassung klar erkennbar ist (vgl. VfSlg. 16993/2003 und 16707/2002, ähnlich VfSlg. 15302/1998).

c) Aus Anlass der Zurückweisung eines Antrages des Obersten Gerichtshofes hat der Verfassungsgerichtshof explizit die Auffassung vertreten, dass die angefochtene Fassung mit der "Fundstelle" der Rechtsvorschrift zu bezeichnen sei; danach wird ein

"Antrag, der sich damit begnügt, die angefochtene Norm bloß mit den Worten 'in der geltenden Fassung' zu nennen, statt sie konkret - etwa durch genaue Angabe der Fundstelle der Rechtsvorschrift in der zur Aufhebung begehrten Fassung oder zumindest durch deren wörtliche Wiedergabe - zu bezeichnen, ... dem strengen Formerfordernis des ersten Satzes des § 62 Abs. 1 VfGG jedenfalls dann nicht gerecht, wenn sich aus dem Blickwinkel der zu entscheidenden Rechtssache die 'geltende Fassung' der zur Aufhebung begehrten Rechtsvorschrift nicht mit hinreichender Deutlichkeit ersehen läßt." (VfSlg. 14040/1995; Hervorhebung nicht im Original)

3.3.4. Soweit der Verfassungsgerichtshof nebenher mit einem "inneren Zusammenhang" argumentiert, wird von ihm nicht dargelegt, welche Umstände diesen angeblichen Zusammenhang konstituieren. Es ist vor allem nicht erkennbar. welcher "innere Zusammenhang" zwischen einer normativen Regelung des Begriffs der Dienstreise und einer anderen Norm, die einen abweichenden Dienstreisebegriff in Normen der kollektiven Rechtsgestaltung für vorrangig anwendbar erklärt, besteht, insbesondere ist nicht nachvollziehbar, dass die letztgenannte Norm einen anderen Inhalt erhält, wenn der gesetzliche Dienstreisebegriff geändert wird. Zudem behauptet der Verfassungsgerichtshof nicht, dass die Novelle 1993 den gesetzlichen Dienstreisebegriff für den vom Verwaltungsgerichtshof zu entscheidenden Fall in irgend einer Weise geändert hätte.

Der Verfassungsgerichtshof übergeht aber auch den Umstand, dass er selbst nur den letzten Satz des § 26 Z. 4 EStG 1988 in Prüfung gezogen hat. Wäre es richtig, dass ein "innerer Zusammenhang" mit den übrigen Teilen der Z. 4 in der eben geschilderten Weise bestünde, hätte er selbst die ganze Z. 4 des § 26 EStG 1988 zumindest in Prüfung zu ziehen gehabt und nicht bloß den letzten Satz.

3.4. Der Verwaltungsgerichtshof bleibt daher bei seiner Auffassung, dass § 26 Z. 4 letzter Satz EStG 1988 seit dem Inkrafttreten der Stammfassung dieses Gesetzes nur in dieser Fassung rechtlich existent gewesen ist, dass der Verwaltungsgerichtshof diese Fassung der Norm beim Verfassungsgerichtshof angefochten hat und dass die vom Verfassungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 22. Juni 2006, G 147/05 u.a., aufgehobene Norm mit der vom Verwaltungsgerichtshof angefochtenen ident ist.

4. Daraus folgt, dass zum Zeitpunkt des Beginns der Beratungen des Verfassungsgerichtshofes im Gesetzesprüfungsverfahren G 147/05 beim Verfassungsgerichtshof ein ebendiese Norm anfechtender Gesetzesprüfungsantrag des Verwaltungsgerichtshofes vorlag, der im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren gefasst wurde.

Daher ist der vorliegende Beschwerdefall als "Quasianlassfall" dieses Gesetzesprüfungsverfahrens anzusehen und die aufgehobene Norm sohin auch vom Verwaltungsgerichtshof in jenem Verfahren, in dem er die Anfechtung vorgenommen hat, nicht mehr anzuwenden.

5. Ob und aus welchen Gründen der Verfassungsgerichtshof den Gesetzesprüfungsantrag des Verwaltungsgerichtshofes nicht in sein Gesetzesprüfungsverfahren einbeziehen wollte oder konnte, ist ebenso unerheblich wie die spätere Zurückweisung des Antrages des Verwaltungsgerichtshofes, die ja nach der Aufhebung der angefochtenen Norm in einem anderen Verfahren (wenn auch somit aus anderen als den vom Verfassungsgerichtshof angegebenen Gründen), unausweichlich geworden ist.

Die Zurückweisung des Gesetzesprüfungsantrages durch den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 12. Dezember 2006 bindet den Verwaltungsgerichtshof insoweit nicht, da sich die normative (und nur insoweit bindende) Wirkung dieses Beschlusses darin erschöpft, den Antrag des Verwaltungsgerichtshofes als unzulässig zurückzuweisen. Die in der Begründung im Zusammenhang mit der richtigen Bezeichnung der Fassung nur implizit behandelte Frage, ob der Verwaltungsgerichtshof dieselbe Norm angefochten hat, die der Verfassungsgerichtshof zuvor aufgehoben hat, war insoweit lediglich Tatbestandsmoment. Einer anderslautenden Beantwortung dieser Frage durch den Verwaltungsgerichtshof steht daher der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes nicht entgegen.

Unter Zugrundelegung der somit hier anzuwendenden, um den letzten Satz bereinigten Fassung des § 26 Z. 4 EStG 1988 ergibt sich aber, dass ein vom gesetzlichen allenfalls abweichender kollektivvertraglicher Dienstreisebegriff für die Beitragsbemessung im Sinne der Bestimmungen des § 49 Abs. 1 und 3 Z. 1 ASVG unerheblich ist. Der belangten Behörde kann somit schon deshalb nicht mit Erfolg widersprochen werden, wenn sie auf den von der beschwerdeführenden Partei ins Treffen geführten Kollektivvertrag nicht Bedacht genommen hat.

Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 31. Jänner 2007

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006080348.X00

Im RIS seit

07.03.2007

Zuletzt aktualisiert am

31.03.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten