TE Vfgh Erkenntnis 2003/6/10 B7/03

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Veröffentlicht am 10.06.2003
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art83 Abs2
ASVG §347 Abs6
ASVG §344, §345
AVG §63 Abs5
AVG §71 Abs4

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung der funktionell unzuständigen Behörde - hier: der Landesberufungskommission - über ein Wiedereinsetzungsbegehren in erster und letzter Instanz

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für Gesundheit und Frauen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 1962,-- bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Arzt für Allgemeinmedizin in Oberösterreich.

2. Mit Schriftsatz vom 2. November 2001 stellte er bei der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich den Antrag auf Feststellung, daß Pkt. G.2.b. der Honorarordnung, wonach die Vertragsärzte der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse bei der OÖ Landesbank AG ein Pflichtkonto zu unterhalten haben, auf das die Gebietskrankenkasse das Vertragsarzthonorar zu überweisen hat, dem Beschwerdeführer gegenüber unwirksam ist.

Die paritätische Schiedskommission für Oberösterreich wies diesen Antrag mit Bescheid vom 29. April 2002 ab.

Der Beschwerdeführer erhob dagegen - mit Schriftsatz vom 15. Juli 2002 - Berufung an die Landesberufungskommission für Oberösterreich, die dieses Rechtsmittel mit Bescheid vom 24. September 2002 wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig zurückwies.

(Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde gemäß Art144 B-VG hat der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 25. Feber 2003, B1638/02, als unbegründet abgewiesen.)

3. Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2002 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der zweiwöchigen Frist zur Erhebung einer Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2002 wies die Landesberufungskommission für Oberösterreich diesen Antrag als unbegründet ab.

4. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, worin die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, aber keine Gegenschrift erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. §344 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955 idgF, lautet - auszugsweise - wie folgt:

"Paritätische Schiedskommission

§344. (1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Antragsberechtigt im Verfahren vor dieser Behörde sind die Parteien des Einzelvertrages.

(2)-(3) ...

(4) Gegen einen Bescheid der paritätischen Schiedskommission kann Berufung an die Landesberufungskommission erhoben werden."

§345 Abs2 ASVG lautet auszugsweise wie folgt:

"(2) Die Landesberufungskommission ist zuständig:

1. zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide der paritätischen Schiedskommission ...

2. ..."

Nach §347 Abs4 erster Satz ASVG haben (ua.) die paritätische Schiedskommission sowie die Landesberufungskommission das AVG anzuwenden, sofern das ASVG nicht anderes anordnet.

Nach §63 Abs5 AVG (idF des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 471/1995) ist die Berufung binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat.

        §71 AVG lautet auszugsweise wie folgt:

               "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

        §71. (1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer

mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:

1. die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, oder

2. die Partei die Rechtsmittelfrist versäumt hat, weil der Bescheid keine Rechtsmittelbelehrung, keine Rechtsmittelfrist oder fälschlich die Angabe enthält, daß kein Rechtsmittel zulässig sei.

(2) Der Antrag auf Wiedereinsetzung muß binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.

(3) Im Fall der Versäumung einer Frist hat die Partei die versäumte Handlung gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen.

(4) Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde berufen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war oder die die versäumte Verhandlung angeordnet oder die unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.

(5)-(7) ..."

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verletzt der Bescheid einer Verwaltungsbehörde das durch Art83 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

Ein solcher Fehler ist der belangten Behörde in der Tat anzulasten:

Der Beschwerdeführer hatte ausdrücklich die Wiedereinsetzung in die - versäumte - zweiwöchige Berufungsfrist des §63 Abs5 AVG (§347 Abs6 ASVG) beantragt. Aus §71 Abs4 AVG (§347 Abs6 ASVG) ergibt sich, daß über den Wiedereinsetzungsantrag jene Behörde zu befinden hat, "bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war". Als "versäumte Handlung" iS dieser Bestimmung ist im vorliegenden Fall die Erhebung der Berufung gegen den Bescheid der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich vom 29. April 2002 anzusehen. Nach §63 Abs5 AVG (§347 Abs6 ASVG) ist die Berufung bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Da die Berufung demnach bei der paritätischen Schiedskommission für Oberösterreich einzubringen war, hätte auch diese Behörde über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist entscheiden müssen (vgl. zB VwGH 27. September 1994, 93/17/0104; 11. November 1998, 98/01/0454; 27. November 2001, 2001/11/0304; 16. Oktober 2002, 2001/03/0212).

Da statt dessen in erster (und letzter) Instanz die belangte Behörde (als funktionell unzuständige Behörde) über das Wiedereinsetzungsbegehren entschieden hat, verletzt der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Der Kostenspruch stützt sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.

4. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Schlagworte

Behördenzuständigkeit, Sozialversicherung, Ärzte, Berufungsfrist, Fristen, Verwaltungsverfahren, Wiedereinsetzung, Berufung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:B7.2003

Dokumentnummer

JFT_09969390_03B00007_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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