RS Vfgh 1988/12/12 G108/88, G109/88, G133/88, G134/88

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Veröffentlicht am 12.12.1988
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Index

95 Technik
95/06 Ziviltechniker

Norm

B-VG Art87 Abs1
B-VG Art133 Z4
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art140 Abs5
B-VG Art88
MRK Art5 Abs1 lita
MRK Art6 Abs1
IngenieurkammerG §40 Abs5
IngenieurkammerG §51, §51 Abs2

Leitsatz

IngenieurkammerG; ausreichende Konkretisierung und sachgerechte Umschreibung der Voraussetzungen der Abberufbarkeit der Mitglieder der Berufungskommission in Disziplinarsachen; Überprüfbarkeit ihrer Enthebung durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts - §40 Abs5 genügt den Anforderungen des Art6 MRK an die Unabhängigkeit eines Tribunals Aufhebung der Wortfolge "- oder Ruhe" in §51 Abs2 wegen Widerspruchs zu Art133 Z4 B-VG (Art20 Abs2 B-VG) iVm. Art6 Abs1 MRK - im Bestellungszeitpunkt Zugehörigkeit des Richters zum Aktivstand erforderlich

Rechtssatz

Bei Überprüfung der Bescheide in den Anlaßbeschwerdeverfahren hinsichtlich einer Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter hat der Verfassungsgerichtshof sowohl die die Einrichtung, Zusammensetzung und Funktionsdauer der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten betreffende Bestimmung des §51 des IngenieurkammerG als auch die Vorschrift des §40 Abs5 des IngenieurkammerG über die Amtsenthebung aller nach diesem Gesetz bestellten "Funktionäre" und sohin auch der Mitglieder der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten anzuwenden.

Alle diese, die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten als belangte Behörde der Anlaßfälle konstituierenden Organisationsnormen sind sohin präjudiziell iSd Art140 Abs1 B-VG (vgl. VfGH 11.10.88, G238/87, II.A., - Wirtschaftstreuhänder-Disziplinarordnung -).

Da Art6 Abs1 iVm Art5 Abs1 lita MRK verlangt, daß über die Stichhältigkeit strafrechtlicher Anklagen ein Tribunal selbst entscheidet (und die nachprüfende Kontrolle von Disziplinarentscheidungen durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts diesen Anforderungen nicht genügt), muß die Disziplinarbehörde, welche die Disziplinarstrafe letztlich verhängt, das ist hier die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten, als Tribunal iSd Art6 Abs1 MRK eingerichtet sein.

Ein Gesetz, das ausreichend konkretisiert und sachgerecht die Voraussetzungen, unter denen ein Mitglied eines Tribunals von der Verwaltungsbehörde abberufen werden darf, umschreibt und damit gleichzeitig die Abberufung verbietet, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, genügt den Anforderungen an die Unabhängigkeit des Tribunals nach Art6 Abs1 MRK, zumal die durch Bescheid vorzunehmende Enthebung von Mitgliedern der Berufungskommission gemäß §40 Abs5 IngenieurkammerG von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts überprüft werden kann (mit Hinweis auf die Vorjudikatur).

§40 Abs5 IngenieurkammerG ist sohin unter dem Blickwinkel der im vorliegenden Verfahren zu prüfenden verfassungsrechtlichen Bedenken nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

Offenkundig war es die Absicht des Verfassungsgesetzgebers, durch die Errichtung von sogenannten "Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag" nach Art133 Z4 B-VG Kollegialorgane zu schaffen, die eine gerichtsähnliche Stellung besitzen und diese auch dadurch zu gewährleisten, daß ein bereits mit den richterlichen Garantien der Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit gemäß Art87 und 88 B-VG ausgestatteter Organwalter zum Mitglied der Kollegialbehörde ernannt wird.

Wenn von Verfassungs wegen zum Zeitpunkt der Ernennung zum Mitglied der Berufungskommission die Qualifikation als Richter des Aktivstandes (im Hinblick auf die nur diesem verbürgten richterlichen Garantien der Unabhängigkeit) gegeben und gesetzlich vorgesehen sein muß, damit diese Kommission die Erfordernisse einer Kollegialbehörde, nach Art133 Z4 B-VG erfüllt, ist die Regelung des §51 Abs2 IngenieurkammerG verfassungswidrig, weil und insofern sie zuläßt, daß zum Vorsitzenden der Berufungskommission und zu dessen Stellertreter nicht nur ein Richter des Aktivstandes, sondern auch ein Richter des Ruhestandes bestellt werden kann (im Gegensatz zu VfSlg. 10343/1985).

Die Wortfolge "- oder Ruhe" in §51 Abs2 IngenieurkammerG ist sohin wegen ihres Widerspruchs zu Art133 Z4 B-VG iVm Art6 Abs1 MRK, demzufolge die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten von Verfassungs wegen ein unabhängiges Tribunal sein muß, aufzuheben.

Ein "Richter im Ruhestand" ist kein Richter.

Der einfache Gesetzgeber hat es nicht in der Hand, die verfassungsrechtliche Qualifikation als "Richter" iSd Art87 und 88 B-VG zu verändern, insbesondere auch zeitlich zu verlängern; es ist gerade auch im Hinblick auf den Zweck, den der Verfassungsgesetzgeber mit der Berufung eines "Richters" in eine Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG verfolgt hat, nicht berechtigt, Personen diesem Verfassungsbegriff zu subsumieren, die sich zum Zeitpunkt der Ernennung als Mitglied der gerichtsähnlichen Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG nicht (mehr) "in Ausübung ihres richterlichen Amtes" gemäß Art87 Abs1 B-VG befinden.

Durch Art133 Z4 B-VG (iVm Art20 Abs2 B-VG) ist der einfache Gesetzgeber, wenn er die "Einrichtung" einer kollegialen Verwaltungsbehörde mit richterlichem Einschlag regelt, zwar gehalten, wenigstens ein Mitglied der Behörde bestellen zu lassen, das im Zeitpunkt der Bestellung aktiver Richter ist. Der Gesetzgeber ist jedoch durch keine Verfassungsvorschrift verpflichtet, festzulegen, daß dieses Mitglied, wenn es als Richter in den Ruhestand versetzt wird, auch sein Amt in der Behörde nach Art133 Z4 B-VG verliert oder davon zu entheben ist.

Der Verfassungsgerichtshof schließt mithin - anders als dies noch im Erkenntnis VfSlg. 5684/1968 angeklungen sein mag -, nicht aus, daß ein als aktiver Richter ernanntes Mitglied einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG die Qualifikation des "Richters" im Sinne dieser Verfassungsbestimmung - und damit seine Mitgliedschaft in der Kollegialbehörde bis zum Ablauf seiner gesetzlichen Bestellungsdauer - beibehält, wenn er nach seiner Ernennung als Mitglied der Kollegialbehörde gemäß Art88 B-VG als Richter in den Ruhestand versetzt wird.

Weil zwar die aktive "Ausübung (seines) richterlichen Amtes" (Art87 Abs1 B-VG) notwendig ist, um die von Art133 Z4 B-VG geforderte Bestellung eines mit den entsprechenden Garantien ausgestatteten Richters zum Mitglied einer Kollegialbehörde sicherzustellen, gleichwohl aber das Ende seines richterlichen Amtes der Unabhängigkeit des Richters als bereits bestelltes Mitglied der Kollegialbehörde nicht zu schaden vermag, genügt dem Art133 Z4 B-VG eine gesetzliche Bestimmung, die eine derartige Kollegialbehörde einrichtet, wenn das Gesetz vorsieht, daß mindestens ein Mitglied zum Zeitpunkt seiner Ernennung aktiver Richter ist.

Da nach der Aufhebung der Worte "- oder Ruhe" in §51 Abs2 IngenieurkammerG gegen den Rest des §51 IngenieurkammerG die ursprünglich geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr bestehen, sind diesbezüglich die Gesetzesprüfungsverfahren einzustellen.

Der Verfassungsgerichtshof konnte davon absehen, für das Inkrafttreten der Aufhebung gemäß Art140 Abs5 B-VG eine Frist zu setzen, weil nicht nur die Bundesregierung eine derartige Fristsetzung bezüglich der aufgehobenen Wortfolge nicht beantragt hat, sondern das Gesetz nach Aufhebung auch ohne Ersatzregelung im Einklang mit Art6 Abs1 MRK vollziehbar bleibt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Ziviltechniker, Disziplinarrecht Ziviltechniker

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:G108.1988

Dokumentnummer

JFR_10118788_88G00108_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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