RS Vfgh 1989/3/16 G218/88

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Veröffentlicht am 16.03.1989
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Index

10 Verfassungsrecht
10/04 Wahlen

Norm

B-VG Art26 Abs1
B-VG Art26 Abs2
B-VG Art26 Abs5
B-VG Art60 Abs1
WählerevidenzG 1973 §2
StV Wien 1955 Art8 Abs1
ÜG 1920 §14 Abs2
NRWO 1971 §26
NRWO 1971 §27

Leitsatz

Beschränkung des Wahlrechtes zum Nationalrat und zu den Bundespräsidentenwahlen auf Staatsbürger mit ordentlichem Wohnsitz im Inland durch den einfachen Gesetzgeber in Widerspruch zu Art26 Abs1 erster Satz B-VG und Art60 Abs1 B-VG; Aufhebung des §2 WählerevidenzG 1973

Rechtssatz

Der Sinn der Regelung der §§26, 27 NRWO bzw. des §2 WählerevidenzG liegt darin, bei der Führung der Wählerevidenz im Prinzip alle Wahlberechtigten (für künftige Nationalrats- und Bundespräsidentenwahlen) zu erfassen und dabei allenfalls auftretende Zweifelsfragen der Wahlberechtigung ohne den Zeitdruck einer bevorstehenden Wahl rechtlich einwandfrei lösen zu können. Daher ist bei der Anlegung des jeweiligen Wählerverzeichnisses gemäß §26 Abs3 NRWO auf diese möglichst umfassende Wählerevidenz zurückzugreifen; im übrigen soll der Kreis der Wahlberechtigten nur mehr aktualisiert werden.

Es widerspräche dieser Systematik, anzunehmen, daß die Frage der Einbeziehung von Staatsbürgern ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland in den Kreis der Wahlberechtigten erst bei der Anlegung des Wählerverzeichnisses, also aus Anlaß einer konkreten Wahl, geprüft werden soll. Vielmehr läuft die Regelung des §2 WählerevidenzG darauf hinaus, daß Staatsbürger ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland in die laufend geführte Wählerevidenz nicht einzutragen sind, sodaß ein nach §4 WählerevidenzG gestellter Antrag solcher Personen auf Aufnahme in die Wählerevidenz abzuweisen ist, was letztlich den Ausschluß dieser Personen vom Wahlrecht zur Nationalrats- und zur Bundespräsidentenwahl bewirkt. Die angenommene Verfassungswidrigkeit ist daher die Folge des Zusammenwirkens der in Prüfung gezogenen Bestimmung des §2 WählerevidenzG mit den genannten Bestimmungen der Wahlgesetze. Sie hat daher ihren Sitz (auch) in der in Prüfung gezogenen Rechtsvorschrift.

Der in Art26 Abs1 B-VG verwendete Begriff des Bundesvolks knüpft an die österreichische Staatsbürgerschaft an.

Auch eine Bedachtnahme auf Art8 Abs1 des StV Wien 1955, BGBl. 152/1955, macht deutlich, daß der Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft das maßgebliche Kriterium für die Zugehörigkeit zum Bundesvolk darstellt.

Die Nichtaufnahme des Erfordernisses des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet als Wahlrechtsvoraussetzung im B-VG vom 01.10.1920 sagt nichts darüber aus, ob der Gesetzgeber die vorgefundene Situation als selbstverständlich vorausgesetzt hat oder ob sie eine Öffnung des Wahlrechts für Staatsbürger auch ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland bewirken sollte.

Es läßt sich jedoch aus dem Umstand der nachfolgenden einfachgesetzlichen Rechtsentwicklung (di. daß alle Wahlordnungen, die auf dem Boden des Art26 Abs1 B-VG seit 1923 ergangen sind, das Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland als Voraussetzung für das aktive Wahlrecht zum Nationalrat vorgesehen haben) nicht ableiten, daß dem Art26 Abs1 B-VG ein entsprechender Regelungsgehalt zukomme, daß also in dieser Bestimmung die ungeschriebene Einschränkung des Wahlrechts auf Staatsbürger mit inländischem Wohnsitz enthalten sei.

Es ist daher festzuhalten, daß die historische Entwicklung des einfachgesetzlichen Wahlrechts nichts Entscheidendes dazu beizutragen vermag, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob im ersten Satz des Art26 Abs1 B-VG das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland als Wahlrechtsvoraussetzung stillschweigend mitgedacht und anerkannt wurde.

Historisch-systematische Interpretation des Art26 Abs1 B-VG.

Mit Erlassung des B-VG konnten sämtliche Staatsbürger, auch solche ohne Wohnsitz im Inland, einer bestimmten Gemeinde und damit auch einem bestimmten Wahlkreis zugeordnet werden.

§14 Abs2 ÜG 1920 bestimmte ausdrücklich, daß Personen, die österreichische Staatsbürger sind, ohne in einer Gemeinde der Republik heimatberechtigt zu sein, Bundesbürger werden. Die Frage der Zuordnung zu einer bestimmten Gemeinde (und damit einem bestimmten Land, der Sache nach aber auch einem bestimmten Wahlkreis) wurde einem eigenen Bundesgesetz vorbehalten (das in Form der Heimatrechtsnovelle 1925, BGBl. 286/1925, ergangen ist, nach der alle Bundesbürger in vollziehbarer Weise sachgerecht einer Gemeinde zugeordnet wurden).

Der Ausschluß der Auslandsösterreicher vom aktiven Wahlrecht kann durch das Argument, er sei für die Erfassung und Zuordnung der Wahlberechtigten notwendig, nicht gerechtfertigt werden.

Bei Ermittlung der Bürgerzahl iS des Art26 Abs2 B-VG ist auf den ordentlichen Wohnsitz im Wahlkreis (und nicht, wie es der Gerichtshof im Einleitungsbeschluß als eine Möglichkeit erwogen hat, bei Auslandsösterreichern auf einen fiktiven Wohnsitz im Wahlkreis) abzustellen.

Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß Art26 Abs2 B-VG gerade nicht die Ausübung des Wahlrechts zum Gegenstand hat, sondern die Verteilung der Mandate auf die einzelnen Wahlkreise. Daß der Verfassungsgesetzgeber dafür auf die Bürger mit ordentlichem Wohnsitz in den einzelnen Wahlkreisen abstellt, hat mit dem Kreis der gemäß Art26 Abs1 B-VG Wahlberechtigten an sich nichts zu tun.

Eine Identität zwischen der Bürgerzahl und der Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis besteht jedenfalls nicht. Aus Art26 Abs2 B-VG kann somit nicht abgeleitet werden, daß die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet eine in Art26 Abs1 erster Satz B-VG mitgedachte Wahlrechtsvoraussetzung darstellt.

Die Grundsätze des gleichen Wahlrechts und des Verhältniswahlrechts erfordern zwar eine Ausgestaltung des Wahlrechts, die ein sachlich nicht gerechtfertigtes allzu großes Auseinanderklaffen zwischen der Zahl der Wahlberechtigten und der Zahl der Bundesbürger mit ordentl Wohnsitz in einzelnen Wahlkreisen im Vergleich zu anderen vermeidet. Daß das aktive Wahlrecht von Staatsbürgern ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland zu einer Verletzung dieser grundsätzlichen Symmetrie führt, kann jedoch durch eine - insofern verfassungsrechtlich gebotene - sachgerechte Zuordnung von Auslandsösterreichern zu den einzelnen Wahlkreisen vermieden werden. Daß es verschiedene derartige Möglichkeiten gibt (wie etwa die Zuordnung nach dem letzten ordentlichen Wohnsitz, dem Ort der Geburt, dem Wohnsitz des Ehegatten oder bestimmter Verwandter, dem Sitz des Dienstgebers), zeigt etwa die Zuordnung zu Heimatgemeinden nach der Heimatrechtsnovelle 1925, BGBl. 286/1925, aber auch der internationale Vergleich (vgl. die im Einleitungsbeschluß zitierte Untersuchung des Europarates).

Dieses Ergebnis wird auch durch eine Bedachtnahme auf Art26 Abs5 B-VG gestützt, demzufolge die Ausschließung vom Wahlrecht nur die Folge einer gerichtlichen Verurteilung oder Verfügung sein darf.

Der Hinweis auf das sogenannte "Homogenitätsprinzip" des Art95 Abs2 B-VG, wonach die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts für Landtagswahlen nicht enger gezogen werden dürfen als für Nationalratswahlen, übersieht, daß aus dieser Regel schon deshalb nichts zur Beantwortung der hier relevanten Frage des Erfordernisses des Wohnsitzes für die Wahlberechtigten gewonnen werden kann, weil die Einschränkung der für den Landtag Wahlberechtigten auf solche Bundesbürger, die im Land ihren ordentlichen Wohnsitz haben, eine (in Art95 Abs1 B-VG ausdrücklich vorgesehene) besondere Voraussetzung für das Wahlrecht bei den Ländern darstellt.

Art26 Abs1 letzter Satz ermöglicht es auch, für den Fall der Wahlpflicht etwa das Nichtvorliegen eines Aufenthalts im Inland als entsprechenden Entschuldigungsgrund vorzusehen.

Weder eine auf die Entwicklung des Wahlrechts abstellende Interpretation noch eine den Zusammenhang mit dem Staatsbürgerschaftsrecht bedenkende historisch-systematische Interpretation noch eine systematische Interpretation, die den Zusammenhang des Art26 Abs1 B-VG mit dem Abs2 dieses Artikels und mit anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen beachtet, ist geeignet, die Notwendigkeit des Vorliegens eines Wohnsitzes im Inland als verfassungsrechtliche Voraussetzung für das Wahlrecht darzutun und als eine ungeschriebene, aber implizit angeordnete Wahlrechtsvoraussetzung zu erweisen.

Es trifft somit das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes zu, daß der einfache Gesetzgeber das Wahlrecht zum Nationalrat auf Staatsbürger mit ordentlichem Wohnsitz im Inland beschränkt hat, ohne daß eine solche Beschränkung aus Art26 Abs1 erster Satz B-VG abgeleitet werden könnte. Gleiches gilt im Hinblick auf Art60 Abs1 B-VG für den Ausschluß der genannten Personengruppe vom Wahlrecht zu den Bundespräsidentenwahlen.

§2 des WählerevidenzG 1973, BGBl. 601/1973, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle, die sich auch auf jene Bestimmungen auswirkt (vgl. zB VfGH 29.11.1988, B81/88), die mit der aufgehobenen Vorschrift in einem die Verfassungswidrigkeit insgesamt konstituierenden Zusammenhang stehen, gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

(Anlaßfall E v 14.06.1989, B1449/87)

Entscheidungstexte

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Wahlrecht gleiches, Verhältniswahlrecht, Wohnsitz, Staatsbürgerschaft, Wählerevidenz, Auslegung Verfassungs-, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Präjudizialität, Auslandsösterreicher, Bundesvolk

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1989:G218.1988

Dokumentnummer

JFR_10109684_88G00218_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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