RS Vfgh 2003/3/13 G368/02 ua, V81/02 ua - G218/02 ua

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Veröffentlicht am 13.03.2003
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Index

18 Kundmachungswesen
18/01 Kundmachungswesen

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art24
B-VG Art49
B-VG Art49a
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs3
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
ASVG §135a
BGBlG 1996 §2a Abs2 idF BudgetbegleitG 2002
Kundmachung des Bundeskanzlers betreffend die Berichtigung von Druckfehlern im Bundesgesetzblatt, BGBl I 114/2002

Leitsatz

Keine verfassungsgesetzliche Grundlage der bloß einfachgesetzlichen Ermächtigung zur Berichtigung auch materieller Fehler bei der Kundmachung eines Gesetzes im Rahmen einer Druckfehlerberichtigung durch den Bundeskanzler; Verstoß gegen das Gebot der vollständigen Publikation eines Gesetzesbeschlusses im Bundesgesetzblatt; keine verfassungskonforme Auslegung im Wege der Versteinerung des Druckfehlerbegriffs oder einer systematischen Interpretation möglich; Widerspruch auch zum Rechtsstaatsprinzip; Gesetzwidrigkeit der Druckfehlerberichtigung hinsichtlich der Ambulanzgebühr im Hinblick auf die bereinigte Rechtslage nach Aufhebung der gesetzlichen Ermächtigung und Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Teils der gesetzlichen Regelung der Ambulanzgebühr wegen nicht ordnungsgemäßer Kundmachung

Rechtssatz

Verordnungscharakter einer Druckfehlerberichtigung im Gesetzblatt.

Aufhebung des §2a Abs2 BGBlG 1996 idF Art1 Z4 BudgetbegleitG 2002, BGBl I 47/2001, betreffend die Ermächtigung zur Berichtigung auch materieller Fehler bei der Kundmachung eines Gesetzes im Rahmen einer Druckfehlerberichtigung mangels verfassungsgesetzlicher Grundlage.

Bis zum Inkrafttreten des §2a BGBlG 1996 idF des BudgetbegleitG 2002 gab es keine gesetzliche Definition des Begriffs "Druckfehler"; dessen Inhalt wurde vielmehr stets vorausgesetzt.

Als Druckfehler iS der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg 3719/1960, 15579/1999, 16152/2001) ist - abgesehen von Schreibfehlern und anderen offenkundigen Unrichtigkeiten - jede Abweichung des (für die Rechtsverbindlichkeit allein maßgebenden) kundgemachten Textes vom beschlossenen Text anzusehen, soweit hiedurch der materielle Gesetzesinhalt, wie er offenkundig gemeint ist, nicht verändert worden ist. Berichtigungen bereits (fehlerhaft) kundgemachter Gesetzestexte, die über dieses Begriffsverständnis hinausgehend auch den Inhalt der Norm verändern, verstoßen im Sinne dieser Rechtsprechung gegen das in Art49 Abs1 B-VG verankerte Gebot der vollständigen Publikation des Gesetzesbeschlusses im Gesetzblatt.

Es bleibt dem Gesetzgeber prinzipiell unbenommen, den zulässigen Umfang von Druckfehlerberichtigungen im einzelnen zu bestimmen.

Ein gleichsam "versteinerndes" Verständnis des - zudem nicht dem formellen Verfassungsrecht angehörenden - Druckfehlerbegriffs berücksichtigt systematische Gesichtspunkte, wie sie sich zT erst aus der neueren Rechtsentwicklung ergeben haben, nicht ausreichend (rechtliche Deckung der Staatspraxis von 1849-1920 nicht erwiesen).

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, der Bundesverfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 habe bei Schaffung des Art49 Abs2 B-VG 1920 (heute: Art49 Abs3 B-VG) die Staatspraxis unter der monarchischen Verfassung stillschweigend sanktionieren wollen.

Auch verfassungssystematische Gesichtspunkte vermögen die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes nicht zu zerstreuen:

Die Kundmachung der Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates ist ebenso wie die Vornahme allfälliger Berichtigungen als Mitwirkung eines Vollziehungsorgans - des Bundeskanzlers - an der Gesetzgebung des Bundes anzusehen. Es ist dem Gesetzgeber verwehrt, (auch) diese Formen der Mitwirkung ohne verfassungsgesetzliche Ermächtigung beliebig auszugestalten oder zu erweitern.

Für Druckfehlerberichtigungen bestehen keine ausdrücklichen verfassungsgesetzlichen Vorgaben.

Aus Art49a Abs2 B-VG betreffend Anpassungen bei der Wiederverlautbarung ist zu schließen, daß dem (einfachen) Bundesgesetzgeber nach Art49 Abs3 B-VG nicht auch die Ermächtigung zukommen kann, Druckfehlerberichtigungen in einem über Art49a Abs2 B-VG hinausgehenden Umfang zuzulassen, insbesondere nicht in einem Fall, in dem der kundgemachte Text einen gegenüber dem zugrunde liegenden Beschluß des Nationalrates veränderten Inhalt hat und eine Berichtigung somit einer inhaltlichen Änderung des Gesetzes gleichkäme.

Widerspruch auch zum Rechtsstaatsprinzip.

Die Regelung des §2a Abs2 BGBlG bewirkt, daß der Bürger nicht mehr darauf vertrauen kann, daß sein Verhalten an jenen Rechtsvorschriften gemessen wird, die im Bundesgesetzblatt kundgemacht sind. Die Weite der durch §2a Abs2 BGBlG geschaffenen Ermächtigung stellt die bundesverfassungsgesetzlich an die Kundmachung (Art49 Abs1 B-VG) geknüpfte Verbindlichkeit des verlautbarten Gesetzestextes in einer Weise in Frage, die mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar ist. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner Auffassung, daß dem einzelnen nicht zugemutet werden soll, sich durch Studium der parlamentarischen Materialien Kenntnis vom genauen Wortlaut eines vom Nationalrat gefaßten Gesetzesbeschlusses zu verschaffen, um (durch Vergleich mit dem kundgemachten Text) abschätzen zu können, ob - im Fall einer Divergenz - eine Berichtigung des kundgemachten Gesetzes zu gewärtigen ist.

Rückwirkung einer Druckfehlerberichtigung auf den Tag der Kundmachung des berichtigten Gesetzes.

Die Rückwirkung eines Gesetzes (oder aber auch sein Inkrafttreten in Teilen zu verschiedenen Zeitpunkten) anzuordnen (soweit dem nicht sonstige Verfassungsvorschriften entgegenstehen), ist nach Art49 Abs1 B-VG eine Prärogative des Gesetzgebers, und zwar auch dann, wenn sich die Notwendigkeit, über die allfällige Rückwirkung eines Gesetzes zu entscheiden, gerade daraus ergibt, daß bei Publikation des Gesetzesbeschlusses ein den Inhalt der beschlossenen Norm verändernder Publikationsmangel unterlaufen ist. Nach der geltenden Verfassungslage ist es auch in einer solchen Situation Sache des Gesetzgebers, eine "Reparatur" des Gesetzes auf die ihm angemessen erscheinende Weise vorzunehmen und dies bloß mit Wirkung ex nunc oder - sofern nicht zB grundrechtliche Schranken dem entgegenstehen - mit Wirkung ex tunc zu tun. Es ist dem einfachen Gesetzgeber aber verwehrt, diese Befugnis ohne ausdrückliche verfassungsgesetzliche Grundlage einem Vollziehungsorgan zu übertragen. Es wäre insbesondere völlig ausgeschlossen, mit der Bundesregierung anzunehmen, dem Bundeskanzler sei ein Ermessen eingeräumt, ob und allenfalls mit welcher zeitlichen Wirkung er eine Druckfehlerberichtigung vornehmen soll.

Keine Fristsetzung.

Der Geltungsgrund des geänderten Gesetzestextes selbst ist ab dem Zeitpunkt der erfolgten Kundmachung der Druckfehlerberichtigung der betreffende Gesetzesbeschluß des Nationalrates und nicht etwa §2a Abs2 BGBlG. Es genügt daher, wenn sich die Druckfehlerberichtigung im Zeitpunkt ihrer Kundmachung auf eine ausreichende gesetzliche Grundlage stützen konnte; deren nachträglicher Wegfall mit Wirkung ex nunc vermag bereits früher vorgenommenen, auf §2a Abs2 des BGBlG gestützten Druckfehlerberichtigungen - mit Ausnahme jener, deren Prüfung Anlaß dieses Gesetzesprüfungsverfahrens war - nicht die gesetzliche Grundlage zu entziehen. Es besteht daher insoweit kein "Sanierungsbedarf". Die Bestimmung einer Frist würde aber dem Bundeskanzler bis zu ihrem Ablauf weiterhin die Möglichkeit zu jedweden - in der Folge verfassungsrechtlich unangreifbaren - Druckfehlerberichtigungen im Verständnis des hiemit als verfassungswidrig erkannten §2a Abs2 BGBlG eröffnen.

Aufhebung der Z9 der Kundmachung des Bundeskanzlers betreffend die Berichtigung von Druckfehlern im Bundesgesetzblatt, BGBl I 114/2002.

Nach Aufhebung des §2a Abs2 BGBlG ist diese Kundmachung an §2a Abs1 BGBlG zu messen.

Der zunächst kundgemachte Wortlaut des zweiten Satzes des §135a Abs3 ASVG idF des Bundesgesetzes BGBl I 35/2001 ließ noch annehmen, daß der zuständige Krankenversicherungsträger - zumindest soweit eine Regelung durch Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger noch nicht vorlag - eine Nachsicht vom Behandlungsbeitrag-Ambulanz auf Grund eigener Beurteilung der "sozialen Schutzbedürftigkeit" des Versicherten zu gewähren hatte. Erst die berichtigte Fassung des §135a Abs3 ASVG hat eine Bindung der Krankenversicherungsträger an die vom Hauptverband gemäß §31 Abs5 Z16b ASVG (idF des Bundesgesetzes BGBl I 35/2001) erlassenen Richtlinien (s dazu die "Richtlinien für die Nachsicht vom Behandlungsbeitrag-Ambulanz", Soziale Sicherheit 2001, 392, Amtliche Verlautbarung Nr 69/2001, die rückwirkend mit 19.04.01 in Kraft getreten sind) in der Weise bewirkt, daß eine solche Nachsicht vor Inkrafttreten dieser Richtlinien (oder nach deren Aufhebung) als gesetzlich ausgeschlossen anzusehen ist und daß es auf das Vorliegen einer "besonderen" sozialen Schutzbedürftigkeit im Sinne dieser Richtlinien ankommt; §135a Abs3 ASVG schließt es nunmehr auch aus, bei Beurteilung dieser besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit, allenfalls ergänzend zu diesen Richtlinien des Hauptverbandes, Regelungen in Satzungen bzw. Krankenordnungen von Krankenversicherungsträgern heranzuziehen.

Die Z9 der Kundmachung BGBl I 114/2002 hat somit den materiellen Inhalt des zweiten Satzes des §135a Abs3 ASVG verändert und steht damit in Widerspruch zu §2a Abs1 Z1 BGBlG.

Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §135a ASVG idF BGBl I 35/2001 in den Anlaßverfahren G218/02 ua, G364/02 ua, mit E v 13.03.03 wegen nicht ordnungsgemäßer Kundmachung:

Der unter BGBl I 35/2001 kundgemachte Wortlaut des §135a ASVG stimmt mit dem - vom Bundespräsidenten beurkundeten - Original des Gesetzesbeschlusses des Nationalrates vom 02.04.01 nicht überein. Es liegt somit ein Verstoß gegen das - sich aus Art49 Abs1 B-VG ergebende - Gebot der vollständigen Publikation der Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates im Bundesgesetzblatt vor.

Untrennbarer Zusammenhang zwischen Regel des §135a Abs1 und Ausnahmen des Abs2 und Abs3 ASVG. Der nicht kundgemachte Satzteil des §135a Abs3 zweiter Satz ASVG wird von all diesen - den Anwendungsbereich des Behandlungsbeitrags-Ambulanz regelnden - Bestimmungen gleichsam negativ umfaßt.

Kein Anwendungsfall des die Aufhebung des ganzen Gesetzes vorsehenden Art140 Abs3 B-VG; Publikationsmangel nur hinsichtlich einer Teilbestimmung.

Keine Ausdehnung der Anlaßfallwirkung; anhängige Verfahren von Neufassung des §603 Abs2 ASVG erfasst.

(Anlaßfälle zu G 218/02 ua: B 9/02 ua, B 224/02 ua, beide E v 13.03.03, Aufhebung der angefochtenen Bescheide; Quasi-Anlaßfälle: B 781/02, B 959/02, ua, alle E v 13.03.03).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Auslegung historische, Auslegung systematische, Wiederverlautbarung, Versteinerungstheorie, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, Gesetz Erlassung, Kundmachung, Berichtigung, Rechtsstaatsprinzip, Rückwirkung, Sozialversicherung, Krankenversicherung, Ambulanzgebühr, Verordnungsbegriff, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Verwerfungsumfang, Rückwirkung, Verhältnis Ausnahmeregelung - Regel, Gewaltentrennung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:G368.2002

Dokumentnummer

JFR_09969687_02G00368_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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