RS Vfgh 2003/6/28 G208/02

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Veröffentlicht am 28.06.2003
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Index

L9 Sozial- und Gesundheitsrecht
L9200 Altenheime, Pflegeheime, Sozialhilfe

Norm

B-VG Art10 Abs1 Z12
B-VG Art15 Abs1
B-VG Art138 Abs2
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand Umfang
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art129, Art129a
UnterbringungsG §33
VfGG §56 Abs4
Vlbg PflegeheimG §1, §12, §13, §17, §18

Leitsatz

Verstoß der Bestimmungen über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der damit in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen über den Schutz der persönlichen Freiheit sowie über die Aufsicht über die Träger von Pflegeheimen und einer Strafbestimmung im Vorarlberger Pflegeheimgesetz gegen die bundesverfassungsgesetzliche Kompetenzverteilung; Zugehörigkeit einer solchen allgemeinen im Interesse des Schutzes des Lebens und der Gesundheit stehenden Regelung zum Kompetenztatbestand Gesundheitswesen

Rechtssatz

Zulässigkeit auch der Eventualbegehren im Antrag der Bundesregierung auf Aufhebung von Bestimmungen im Vlbg PflegeheimG betreffend Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und den Schutz der persönlichen Freiheit.

Eventualbegehren, deren Stellung bloß vom Ergebnis der Erledigung des Hauptbegehrens abhängig gemacht ist, sind ganz allgemein zulässig.

Keine Zulässigkeit des Antrags auf Aufhebung einer Wortfolge in der Grundsatzbestimmung des §1 Vlbg PflegeheimG betreffend den Schutz der persönlichen Freiheit als einer der Grundsätze des Gesetzes.

§1 Vlbg PflegeheimG bringt allgemein zum Ausdruck, welche Ziele der Vorarlberger Landesgesetzgeber mit diesem Gesetz zu verwirklichen sucht. Demnach geht es dem Landesgesetzgeber ua. darum, die persönliche Freiheit der Heimbewohner zu schützen. Die in Prüfung stehende Wortfolge in §1 Vlbg PflegeheimG hängt zwar mit den in §12 leg cit normierten Zwangsmaßnahmen thematisch zusammen. Es ist indes weder erkennbar, daß §1 insoweit mit §12 in einem untrennbaren Zusammenhang stünde, noch werden gegen die in Rede stehende Wortfolge gesonderte Bedenken vorgetragen.

Bindung des Verfassungsgerichtshofes in einem auf Antrag der Bundesregierung eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren an die aufgeworfenen Bedenken (hier: ausschließlich Gesichtspunkte der Kompetenzverteilung, nicht zulässiger Inhalt eine Pflegevertrages); ebenfalls Bindung an die in VfSlg 13237/1997 getroffene Feststellung hinsichtlich der Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Regelung von Pflegeheimen.

Einem Rechtssatz iS des §56 Abs4 VfGG kommt die Wirkung einer authentischen Interpretation der Kompetenzregelungen der Bundesverfassung im Rang eines Bundesverfassungsgesetzes zu (VfSlg 3055/1956, 4446/1963, 6685/1972, 7780/1976); er ist auch für den Verfassungsgerichtshof bindend (zB VfSlg 4027/1961, 7168/1973 uva).

Aufhebung des §12 und §13 Vlbg PflegeheimG, LGBl 16/2002, und von Wortfolgen in §17 Abs1 litb und §18 Abs2 litb leg.cit.

Der Begriff "Gesundheitswesen" iSd Art10 Abs1 Z12 B-VG deckt sich mit "Angelegenheiten der Volksgesundheit" iSd Rechtsprechung des VfGH; es handelt sich dabei um Maßnahmen der Obsorge für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung.

Eine unmittelbar durch das Gesetz eingeräumte Befugnis von Privaten zur Vornahme freiheitsbeschränkender und -entziehender Maßnahmen ohne oder gegen den Willen des von der Maßnahme Betroffenen, sohin eine gesetzliche Ermächtigung zur Setzung von Zwangsakten gegenüber Personen, ist der Sache nach verfassungsrechtlich als Beleihung (dazu vgl zB VfSlg 14473/1996) zu beurteilen, wie im übrigen auch die in §13 Vlbg PflegeheimG vorgesehene Zuständigkeit des (bundesverfassungsgesetzlich - Art129 iVm Art129a B-VG - ausschließlich zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung berufenen) unabhängigen Verwaltungssenates unterstreicht.

Soweit §12 Vlbg PflegeheimG darauf abzielt, Beschränkungen der persönlichen Freiheit psychisch kranker Heimbewohner zu erlauben, handelt es sich um eine von Gesichtspunkten des Heimbetriebs vollkommen losgelöste, dem UnterbringungsG, BGBl 155/1990 idgF, insbesondere dessen §33, offenkundig nachgebildete Regelung freiheitsbeschränkender und -entziehender Maßnahmen gegenüber psychisch erkrankten Personen, zumal auch das UnterbringungsG nicht bloß freiheitsentziehende Maßnahmen im engeren Sinne regelt.

Die im UnterbringungsG abschließend getroffenen Regelungen werden der Sache nach hinsichtlich ihres zulässigen Anwendungsbereiches in mehrfacher Hinsicht ausgedehnt.

Die in Prüfung stehende Regelung des §12 Vlbg PflegeheimG betrifft also nicht etwa nur die Abwehr von Gefahren, die sich aus dem Betrieb eines Pflegeheimes ergeben (s dazu schon VfSlg 13237/1992, S 453), sondern läßt eine "zwangsbewehrte Abwehr spezifisch krankheitsbedingter Gefahren" zu. Regelungen zur Abwehr solcher Gefahren, die nicht nur in Heimen, sondern ganz allgemein auftreten können, unter Einschluß der Zulässigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen, sind aber - soweit sie wie vorliegend zur Setzung von Zwangsakten ermächtigen - kompetenzrechtlich dem "Gesundheitswesen" iS des Art10 Abs1 Z12 B-VG zuzuordnen und daher in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache.

Überschreitung der Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Normierung von Beschränkungen für Heimbewohner im Dienste der spezifischen Erfordernisse eines geordneten Heimbetriebes.

An dieser kompetenzrechtlichen Beurteilung kann auch der Umstand nichts ändern, daß die Befugnis, Zwangsmaßnahmen iS des §12 Vlbg PflegeheimG zu verfügen, dem Rechtsträger des Heims (wenn auch in Gestalt der von ihm zwingend vorzusehenden Pflegeleitung) eingeräumt wird, also jemandem, der mit dem betroffenen Bewohner durch den Abschluß eines Heimvertrages privatrechtlich verbunden ist.

§13 Vlbg PflegeheimG beruft den unabhängigen Verwaltungssenat nur zur Kontrolle von Maßnahmen iSd aufgehobenen §12, zu deren Setzung landesgesetzlich keine Befugnis begründet werden darf. §13 ist daher schon aus eben diesen Gründen als im untrennbaren Zusammenhang mit

§12 stehend als verfassungswidrig aufzuheben.

Auf Grund des Sachzusammenhanges mit §12 und §13 war überdies - antragsgemäß - die Wendung "und im §12" in §17 Abs1 litb PflegeheimG aufzuheben.

Mit der Aufhebung bloß der Wortfolgen "den §" und "bis 12" in §18 Abs2 litb PflegeheimG - an Stelle des bei Stattgebung des Hauptantrages der Bundesregierung eintretenden gänzlichen Wegfalls der Strafbewehrtheit des §6 bis §12 - kann zumindest jene hinsichtlich des - nicht angefochtenen - §6 Vlbg PflegeheimG aufrechterhalten werden und ist somit ein geringerer Eingriff als der von der Bundesregierung primär beantragte möglich, aber auch ausreichend. Es war daher lediglich dem auf den geringeren Eingriff gerichteten Eventualbegehren Folge zu geben.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Auslegung authentische, Auslegung Verfassungs-, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Beleihung, Kompetenz Bund - Länder Gesundheitswesen, Kompetenz Bund - Länder Pflegeheime, Pflegeheime, Unabhängiger Verwaltungssenat, Unterbringung, Eventualantrag, Bindung (des VfGH an Rechtssatz gem Art138 Abs2 B-VG), VfGH / Kompetenzfeststellung, VfGH / Prüfungsmaßstab, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:G208.2002

Dokumentnummer

JFR_09969372_02G00208_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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