RS Vfgh 2003/10/10 A36/00

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Veröffentlicht am 10.10.2003
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Index

10 Verfassungsrecht
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 (B-VG)

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art137 / ord Rechtsweg
B-VG Art137 / sonstige zulässige Klagen
B-VG Art137 / sonstige Klagen
B-VG Art138 Abs1
AHG §2 Abs3
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Beschluß des Assoziationsrates Nr 1/80 Art6, Art7
BundesministerienG 1986 §5
VfGG §41
VfGHGO §13
VwGG §48

Leitsatz

Zulässigkeit einer Klage auf Geltendmachung eines Staatshaftungsanspruches gegen den Bund auf Ersatz der Kosten für ein vom Verwaltungsgerichtshof eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren; Annahme einer subsidiären Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes aufgrund des Gemeinschaftsrechts geboten; keine materielle Berechtigung der Klage mangels Vorliegen eines gemeinschaftsrechtswidrigen Verhaltens des Verwaltungsgerichtshofes

Rechtssatz

Die Mitgliedstaaten sind zum Ersatz jener Schäden verpflichtet, die den Einzelnen durch qualifizierte Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die den Staaten zuzurechnen sind, gleichgültig von welchen Organen des Staates das behauptete Fehlverhalten gesetzt wurde. Nach herrschender und zutreffender Ansicht begründen auch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, die einem Höchstgericht eines Mitgliedstaates zuzurechnen sind, derartige Staatshaftungsansprüche.

Gewährung, Umfang und Durchsetzung der Staatshaftungsansprüche gemäß innerstaatlichem Recht; keine ausdrückliche Regelung des österreichischen Gesetzgebers, daher Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Zuständigkeitsverteilung.

Soweit der geltend gemachte Staatshaftungsanspruch im Gemeinschaftsrecht wurzelt, kann er nicht als privatrechtlicher Anspruch angesehen werden. Er entspringt nämlich einer Norm des primären Gemeinschaftsrechts und dessen Weiterentwicklung durch den Europäischen Gerichtshof.

Zwar wäre es denkbar anzunehmen, dass die Bestimmung des §2 Abs3 AHG, soweit sie gemeinschaftsrechtlich begründete Haftungsansprüche ausschließt, nicht anzuwenden ist, da ihr insoweit unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht entgegensteht.

Dort aber, wo sich der Staatshaftungsanspruch aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt und das Gemeinschaftsrecht eine entsprechende Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Organs zur Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen erfordert, steht die subsidiäre Zuständigkeit nach Art137 B-VG zur Verfügung. Dies gilt für die Haftung, die aus dem Titel legislativen Unrechts geltend gemacht wird (vgl VfSlg 16107/2001), genauso wie für die Haftung aus gemeinschaftsrechtswidrigen höchstgerichtlichen Entscheidungen.

Verfassungsgerichtshof nicht "Richter in eigener Sache"; Zuständigkeitskonflikte jetzt auch durch VfGH entschieden gem Art138 Abs1 B-VG; außerdem EuGH-Entscheidung vorgelagert.

Da der Verwaltungsgerichtshof unter dem hier maßgeblichen Blickwinkel dem Bundeskanzler zuzuordnen ist (vgl Abschnitt A Z3 des Teiles 2 der Anlage zu §2 BundesministerienG 1986), wurde die Klage gemäß §13 der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes dem Bundeskanzler zu Recht zugestellt. Dies hätte den Bund nicht daran gehindert, (allenfalls unter Bedachtnahme auf §5 BundesministerienG 1986) die Gegenschrift durch ein anderes oberstes Verwaltungsorgan zu erstatten, was er aber im vorliegenden Fall nicht getan hat.

Keine materielle Berechtigung der Klage (Vorabentscheidungsverfahren betreffend Art6 und Art7 Assoziierungsabkommen EWG-Türkei, Beschluß des Assoziationsrates Nr 1/80).

Angesichts der Entscheidung des EuGH vom 06.12.01 in der Rs C-472/99, Clean Car, ist es ausgeschlossen anzunehmen, die Klägerin könne den begehrten Ersatz für die ihr im Vorabentscheidungsverfahren entstandenen Kosten aus einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift direkt ableiten. Vielmehr erweist die zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, dass der Verwaltungsgerichtshof seine Kostenentscheidung grundsätzlich zu Recht auf §48 Abs1 VwGG als jener "innerstaatlichen Rechtsvorschrift" gegründet hat, "die auf den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit anwendbar" ist.

Nach der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes wäre es gemeinschaftsrechtlich unzulässig, einen Beschwerdeführer beim Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich des Ersatzes der ihm in einem verfassungsgerichtlichen Zwischenverfahren entstandenen Kosten günstiger zu stellen als hinsichtlich der Kosten eines Vorabentscheidungsverfahrens.

Die Bestimmungen des RechtsanwaltstarifG sind auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren ebenso wenig anzuwenden wie auf ein vom Verwaltungsgerichtshof entriertes Zwischenverfahren.

Zusammenfassend zeigt sich also, dass - entgegen der Annahme der Klägerin - aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht weder eine Regelungslücke vorliegt, die durch Analogie zu schließen wäre, noch ergibt sich aus einem von ihr angenommenen gemeinschaftsrechtlichen Äquivalenzprinzip eine Grundlage für den von ihr behaupteten Kostenersatzanspruch. Angesichts dessen ist dem Verwaltungsgerichtshof ein gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten nicht vorzuwerfen; geschweige denn hat der Verwaltungsgerichtshof einen hinreichenden qualifizierten Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht begangen, der voraussetzen würde, dass die Entscheidung des inländischen Höchstgerichts das Gemeinschaftsrecht offenkundig verkannt hat (EuGH 30.09.03, C-224/01, Köbler, Rz 56 und 120).

Der Verfassungsgerichtshof hat auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken ob der unterschiedlichen Behandlung der Ersetzbarkeit von Kosten, die im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens entstanden sind, bei der Regelung verschiedener Verfahrenssysteme. Denn der Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, verschiedene Rechtsinstitute oder Regelungsmaterien gleich zu behandeln, und erlaubt es ihm grundsätzlich, in verschiedenen Verfahrenssystemen unterschiedliche Regelungen vorzusehen (vgl insb VfSlg 9875/1983, 10367/1985).

Kein Kostenzuspruch an den obsiegenden Bund mangels Antragstellung.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Amtshaftung, Auslegung, Analogie, EU-Recht Vorabentscheidung, Verwaltungsgerichtshof Kosten, VfGH / Gegenschrift, VfGH / Klagen, VfGH / Kosten, VfGH / Vorverfahren, VfGH / Zuständigkeit, Staatshaftung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:A36.2000

Dokumentnummer

JFR_09968990_00A00036_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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