TE Vfgh Erkenntnis 1982/6/21 B51/80

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Veröffentlicht am 21.06.1982
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art83 Abs2
ASVG §362
ASVG §362 Abs1
ASVG §384 Abs1
ASVG §385 Abs1

Leitsatz

ASVG; Zurücknahme der Klage nach §385 Abs1 - kein Wiederaufleben des durch die Klagseinbringung außer Kraft getretenen Bescheides; Entzug des gesetzlichen Richters durch Zurückweisung eines neuerlich eingebrachten Antrages

Spruch

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Mit Bescheid vom 8. August 1978 wurde von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten ein Antrag des Beschwerdeführers vom 26. Mai 1978 auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses gemäß §105a ASVG wegen Nichtvorliegens der Anspruchsvoraussetzungen abgewiesen. Dieser Bescheid trat infolge rechtzeitiger Einbringung einer Klage beim Schiedsgericht der Sozialversicherung außer Kraft. Im schiedsgerichtlichen Verfahren nahm der Beschwerdeführer in der Verhandlung vom 5. Dezember 1978, nach Einholung von Sachverständigengutachten, aber vor Entscheidung durch das Gericht die Klage zurück.

b) Mit einem am 3. Juli 1979 bei der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten eingelangten Schriftsatz stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen "Antrag auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses, beginnend 3 Monate vor Antragstellung". Dieser Antrag wurde von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten mit Bescheid vom 27. Dezember 1979 zurückgewiesen. In der Begründung wird ausgeführt, daß der Antrag vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Entscheidung über einen früheren Antrag auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses neuerlich eingebracht worden sei, ohne daß eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes des Antragstellers glaubhaft bescheinigt worden war. Der Antrag sei deshalb gemäß §362 Abs2 ASVG zurückzuweisen gewesen.

2. a) Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt wird. Da der Bescheid vom 8. August 1978 durch die Einbringung der Klage beim Schiedsgericht der Sozialversicherung außer Kraft getreten und durch die Zurückziehung der Klage nicht wieder in Kraft getreten sei, hätte die belangte Behörde den bei ihr am 3. Juli 1979 eingelangten Antrag nicht zurückweisen dürfen, sondern eine Sachentscheidung treffen müssen.

b) Die belangte Behörde hat in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

3. Auf Grund eines - nach Einbringung dieser Verfassungsgerichtshofbeschwerde beim Versicherungsträger eingelangten - neuerlichen Antrags wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 21. Jänner 1981 der Hilflosenzuschuß mit Wirkung ab 23. Jänner 1980 gewährt.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. a) §362 ASVG lautet:

(1) Ist die Zuerkennung des Anspruches auf eine Versehrtenrente oder der Antrag auf eine Erhöhung der Versehrtenrente mangels einer entsprechenden Einbuße an Erwerbsfähigkeit abgewiesen oder eine solche Rente aus dem gleichen Grunde entzogen worden und wird vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Entscheidung der Antrag auf Zuerkennung (Erhöhung) der Versehrtenrente neuerlich eingebracht, ohne daß eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Unfallsfolgen glaubhaft bescheinigt ist oder innerhalb einer vom Versicherungsträger gesetzten angemessenen Frist bescheinigt wird, so ist der Antrag zurückzuweisen. Gegen die Zurückweisung ist ein Rechtsmittel nicht zulässig.

(2) Abs1 ist entsprechend anzuwenden, wenn mangels entsprechender Minderung der Arbeitsfähigkeit ein Antrag auf Zuerkennung einer Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits-, Knappschafts- oder Knappschaftsvollpension abgelehnt oder eine solche Pension entzogen worden ist. Das gleiche gilt, wenn ein Antrag auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses abgelehnt oder ein solcher Zuschuß entzogen worden ist.

Gegen die Zurückweisung eines Antrages auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses durch den Sozialversicherungsträger ist - wie sich aus den wiedergegebenen Bestimmungen ergibt - ein Rechtsmittel nicht zulässig; der administrative Instanzenzug ist erschöpft.

b) Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerdeerhebung auch legitimiert. Denn es besteht im Fall einer Zurückweisung eines Antrags gemäß §362 ASVG eine Möglichkeit, durch Einbringung einer Klage beim Schiedsgericht der Sozialversicherung den Bescheid außer Kraft zu setzen, nicht (vgl. etwa OLG Wien vom 15. 4. 1976, 17 R 37/76, SV-Slg. 23.637), die, falls sie bestünde, dem Beschwerdeführer die Legitimation zur Erhebung einer Verfassungsgerichtshofbeschwerde nehmen würde (vgl. VfSlg. 3424 und 3425/1958).

c) Dem Beschwerdeführer ist seine Beschwerdemöglichkeit auch nicht durch den unter Pkt. I.3. genannten Bescheid vom 21. Jänner 1981 genommen, da dieser Bescheid ihm den Hilflosenzuschuß nur für die Zeit ab 23. Jänner 1980 gewährt, während sich der angefochtene Bescheid auf einen Antrag bezieht, mit dem die Gewährung eines Hilflosenzuschusses ab 3. April 1979 beantragt wurde.

d) Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2. a) Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH wird das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde unter anderem dann verletzt, wenn die Behörde in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt und damit eine Sachentscheidung verweigert (vgl. zB VfSlg. 7457/1974).

b) Nach §384 Abs1 ASVG tritt ein Bescheid eines Sozialversicherungsträgers in Leistungssachen durch die rechtzeitige Einbringung der Klage beim Schiedsgericht der Sozialversicherung im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft; insoweit werden frühere Bescheide, die durch den außer Kraft getretenen Bescheid abgeändert worden sind, nicht wieder wirksam. Der Versicherungsträger hat dem Kläger die Leistung, die Gegenstand der Klage ist, bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig insoweit zu gewähren, als dies dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.

Im vorliegenden Fall ist somit der Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 8. August 1978 durch Klagseinbringung außer Kraft getreten, und zwar so, daß der Bescheid ein für allemal aus dem Rechtsbestand ausgeschieden ist. Insbesondere wird auch durch eine Beendigung des schiedsgerichtlichen Verfahrens durch Zurückziehung der Bescheid nicht wieder wirksam:

c) Gemäß §385 Abs1 ASVG kann die beim Schiedsgericht eingebrachte Klage im Verfahren über eine Leistungssache nach §354 Z1 ASVG auch ohne Zustimmung des Beklagten bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden.

aa) Die Zurücknahme der Klage ist eine Prozeßhandlung des Klägers, die ipso facto den Rechtsstreit beendet und die Kostenersatzpflicht des Klägers auslöst. Es bedarf daher keines konstitutiven Beschlusses des Gerichtes, mit dessen Rechtskraft erst die Wirkungen der Zurücknahme eintreten würden (Fasching, Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen, III, 149). Sie ist eine prozessual wirksame Erklärung des Klägers, auf den gerichtlichen Rechtsschutz und damit auf die gerichtliche Entscheidung über das Klagebegehren zu verzichten. Daher ist auch im Falle der Zurückziehung der Klage eine meritorische Entscheidung über den Antrag nicht mehr möglich (SvSlg. XIII/22.327).

bb) Durch die Zurücknahme der Klage wird aber auch der durch die Klagseinbringung außer Kraft getretene Bescheid nicht wieder wirksam (so auch Oberndorfer, in: Tomandl, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts, 651). Denn weder §384 Abs1 ASVG, der das unbedingte Außerkrafttreten eines Bescheides durch die Klagserhebung normiert, noch einer anderen Bestimmung des Sozialversicherungsrechts kann eine solche Wiederauflebensregel entnommen werden. Sie stünde überdies in Widerspruch zur Konstruktion der sog. sukzessiven Zuständigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Leistungsstreitverfahren.

Diese Konsequenz wird auch durch den zweiten Satz in Abs1 des §385 ASVG unterstrichen:

"Hätte der Versicherungsträger, falls die Klage nicht zurückgenommen worden wäre, auch nach dem Zeitpunkt der Zurücknahme der Klage auf Grund der Bestimmungen des §384 Abs2 eine Leistung zu gewähren, so ist er verpflichtet, innerhalb von vier Wochen von dem Zeitpunkt, in dem er von der Zurücknahme der Klage Kenntnis erhalten hat, diese Leistung durch Bescheid festzustellen."

Hiezu führt der Bericht des Ausschusses für soziale Verwaltung (613 BlgNR, VII. GP) aus:

"Die Neufassung des §385 Abs1, die auf einen Vorschlag des Bundesministeriums für Justiz zurückgeht, läßt nunmehr auch die Zurücknahme der Klage vor dem Schiedsgericht zu. Auf diese Weise wird das Verfahren vereinfacht und damit auch verbilligt, weil es nunmehr die Partei in der Hand hat, sobald sie sich von der Aussichtslosigkeit ihres Klagebegehrens überzeugt hat, die Klage zurückzunehmen. Allerdings wurde es dadurch notwendig, für den Fall der Zurücknahme der Klage nunmehr den Versicherungsträger zu verpflichten, neuerlich einen Bescheid zu erlassen, da ja der ursprüngliche Bescheid mit der Einbringung der Klage außer Kraft getreten ist."

d) Einer Zurückziehung der Klage können somit keinesfalls die Wirkungen einer rechtskräftigen Entscheidung iS des §362 Abs1 ASVG zukommen. Weder lebt dadurch der außer Kraft getretene Bescheid wieder auf, noch bedeutet die Zurückziehung eine Entscheidung im schiedsgerichtlichen Verfahren. Vielmehr gehen Lehre und Rechtsprechung davon aus, daß, da die Klagszurücknahme auch die Zurücknahme des ursprünglichen Leistungsantrags bewirke, einer neuerlichen Antragstellung beim Versicherungsträger nichts mehr im Wege stehe (vgl. Oberndorfer, aaO 652). Mit diesem System stimmt auch §385 Abs1 ASVG überein, der für den Fall, daß der Versicherungsträger vor Klagszurücknahme zur Erbringung bestimmter Leistungen verpflichtet war und die Klage zurückgenommen wird, ausdrücklich eine Entscheidungspflicht statuiert, also für diesen speziellen Fall von der gesetzlichen Fiktion eines aufrecht gebliebenen Antrags ausgeht.

e) Mit dem angefochtenen Bescheid wurde ein Antrag auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses mit der Begründung zurückgewiesen, daß er vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Entscheidung über einen gleichen Antrag neuerlich eingebracht worden sei, ohne daß eine wesentliche Änderung des zuletzt festgestellten Gesundheitszustandes glaubhaft bescheinigt worden war.

Die belangte Behörde ist hiebei davon ausgegangen, daß der Zurücknahme der Klage die Wirkungen einer rechtskräftigen Entscheidung iS des §362 Abs1 ASVG zukommen. Dies ist nach den obigen Ausführungen aber nicht der Fall.

Entgegen der Auffassung der belangten Behörde lag vielmehr zum Zeitpunkt ihrer zurückweisenden Entscheidung eine nicht mehr als ein Jahr zurückliegende, rechtskräftige Entscheidung über einen gleichartigen früheren Antrag auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses nicht vor. Daher erfolgte die Zurückweisung des bei der belangten Behörde am 3. Juli 1979 eingelangten Antrages zu Unrecht.

f) Die belangte Behörde hat sohin dem Beschwerdeführer eine Sachentscheidung in gesetzwidriger Weise verweigert und ihn hiedurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der Bescheid war aus diesem Grunde aufzuheben.

Schlagworte

Sozialversicherung, Hilflosenzuschuß

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1982:B51.1980

Dokumentnummer

JFT_10179379_80B00051_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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