TE Vfgh Erkenntnis 1983/6/11 B510/79, B511/79

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Veröffentlicht am 11.06.1983
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
StGG Art8
StPO §177 Abs1 Z2
StPO §177 Abs1 Z3

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Festnahme nach §177 Abs1 Z2 iVm §175 Abs1 Z3 StPO ohne Einholung eines richterlichen Haftbefehles; Verletzung der persönlichen Freiheit

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch ihre Festnahme am 30. Oktober 1979 um

15.45 Uhr und ihre Anhaltung (bei K. B. bis 30. Oktober 1979, 18.45 Uhr, und bei P. B. bis 31. Oktober 1979, 09.15 Uhr) im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der zu B510/79 protokollierten Beschwerde bringt die Beschwerdeführerin K. B. im wesentlichen vor, sie lebe gemeinsam mit ihrem am 21. September 1965 geborenen Sohn P. B. in 8020 Graz, M-gasse 17. Sie sei bis zum 15. Oktober 1979 bei der Firma O. in Graz als Aufräumerin beschäftigt gewesen.

In den Nachmittagsstunden des 30. Oktober 1979 seien zwei Kriminalbeamte der Bundespolizeidirektion Graz in ihrer Wohnung erschienen, weil am Vormittag dieses Tages ein Angestellter der Firma O. eine Anzeige gegen unbekannte Täter wegen Verdachtes des Diebstahls von Werkzeug aus den Firmenräumen erstattet und hiebei Verdachtsmomente gegen die Beschwerdeführerin und ihren Sohn P. geäußert habe. Sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Sohn hätten den Kriminalbeamten gegenüber jeglichen Diebstahl zum Nachteil der Firma O. bestritten und die Beschwerdeführerin habe den Kriminalbeamten "guten Gewissens" freiwillig die Nachschau in der Wohnung nach angeblichem Diebsgut gestattet. Hiebei seien von den Kriminalbeamten rund 27 diverse Werkzeuge gefunden worden.

Um 15.45 Uhr seien die Beschwerdeführerin und ihr zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre und ein Monat alter Sohn von den Kriminalbeamten verhaftet worden. Die Beschwerdeführerin sei am selben Tag um 18.45 Uhr aus der Verwahrungshaft entlassen worden.

Die Verhaftung und Verwahrung seien nicht rechtmäßig erfolgt, weil zum Zeitpunkt der Verhaftung (15.45 Uhr an einem Wochentag) die - zumindest telefonische - Einholung eines richterlichen Haftbefehls ohne weiteres möglich gewesen wäre. Von einem konkreten Versuch der Beschwerdeführerin, Zeugen, Sachverständige oder Mitbeschuldigte zu beeinflußen, die Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren, sei aus dem gesamten Akteninhalt nichts erkennbar, wozu noch komme, daß die Beamten das angeblich belastende Material ohnehin bereits beschlagnahmt hätten. Es dränge sich der Verdacht auf, daß die Beamten mit der Festnahme in Wahrheit nichts anderes erreichen wollten, als daß die Beschwerdeführerin oder ihr Sohn ein Geständnis ablegen sollten.

Die Beschwerdeführerin beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß sie durch die seitens der belangten Behörde vorgenomme vorläufige Verwahrung am 30. Oktober 1979 von 15.45 Uhr bis 18.45 Uhr im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

2. In der zu B511/79 protokollierten Beschwerde bringt der Beschwerdeführer P. B. dasselbe vor wie seine Mutter in deren Beschwerde zu B510/79 und fügt hinzu, die Staatsanwaltschaft Graz habe das gegen ihn zu 8 St 14.946/79 eingeleitete Strafverfahren deshalb eingestellt, weil der Zeitpunkt der dem Beschwerdeführer angelasteten Tathandlung vor dessen Strafmündigkeit liege.

Der Beschwerdeführer sei am 31. Oktober 1979 um 09.15 Uhr aus der Verwahrungshaft entlassen worden, nachdem er nach neuerlicher Einvernahme um 08.30 Uhr und "nach verschiedenen leichten Mißhandlungen durch Kriminalbeamte" ein Geständnis abgelegt habe.

Der Beschwerdeführer beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß er durch seine seitens der belangten Behörde vorgenommene Verwahrung vom 30. Oktober 1979, 15.45 Uhr, bis 31. Oktober 1979, 09.15 Uhr, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

3. Die Bundespolizeidirektion Graz, vertreten durch die Finanzprokuratur, hat die bezughabenden Verwaltungsakten vorgelegt, in beiden Beschwerdefällen Gegenschriften erstattet und die Abweisung der Beschwerden beantragt.

In den Gegenschriften wird das Geschehen im wesentlichen so geschildert wie in den Beschwerden und hinzugefügt, die Kriminalbeamten hätten in einer Abstellkammer neuwertige Werkzeuge gefunden, die teilweise noch die Preiszettel getragen hätten. K. B. habe hiezu erklärt, sie habe die Werkzeuge bei der Firma O. gekauft. Sie sei jedoch nicht in der Lage gewesen, hiefür Rechnungen vorzulegen. Noch während der Amtshandlung sei P. B. nach Hause gekommen. Er habe angegeben, seine Mutter habe das Werkzeug für ihn gekauft. K. B. habe daraufhin ihre bisherigen Angaben betreffend den Erwerb des Werkzeuges widerrufen und nunmehr vorgebracht, ihr Lebensgefährte habe das Werkzeug gekauft.

Im Hinblick auf den dringenden Tatverdacht und die wechselnde Verantwortung der beiden Beschwerdeführer sei Verabredungsgefahr gegeben gewesen. Es hätte die naheliegende Möglichkeit bestanden, daß sich die beiden Beschwerdeführer in bezug auf ihre Aussagen verabreden könnten, wobei auch die konkrete Gefahr einer Verabredung der Beschwerdeführerin K. B. mit ihrem Lebensgefährten oder sonstigen Personen gegeben gewesen sei.

II. Der VfGH hat über die - zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Beschwerden erwogen:

1. Der eheliche Vater des minderjährigen Beschwerdeführers P. B., W. B., hat der Beschwerdeerhebung dadurch zugestimmt, daß er eine dem Beschwerdevertreter ausgestellte Vollmacht unterfertigt hat. Aus dem Umstand, daß die Mutter K. B. selbst als Beschwerdeführerin auftritt, kann auch geschlossen werden, daß sie der Beschwerdeerhebung durch ihren Sohn ebenfalls zustimmt.

Im übrigen bedurfte es zur Erhebung der Beschwerde durch den minderjährigen P. B. - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - weder der Zustimmung des anderen Elternteils iS des §154 Abs3 ABGB idF BGBl. 403/1977 noch einer pflegschaftsbehördlichen Genehmigung, weil die Beschwerde keine Vermögensangelegenheit iS des §154 Abs3 ABGB betrifft (s. VfSlg. 9267/1981).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, sind die Beschwerden zulässig.

2. Der VfGH nimmt auf Grund des beiderseitigen Vorbringens und des Inhaltes der vorgelegten Akten der belangten Behörde folgenden Sachverhalt - soweit er für die rechtliche Beurteilung der vorliegenden Beschwerdefälle von Belang ist - als erwiesen an:

Im Zuge von Ermittlungen wegen Verdachtes des Diebstahls von Werkzeugen aus den Räumen der Firma O. befragten zwei Kriminalbeamte der Bundespolizeidirektion Graz am Nachmittag des 30. Oktober 1979 die beiden Beschwerdeführer in deren Wohnung. Die Beschwerdeführer stellten einen Diebstahl in Abrede. Bei einer freiwillig gestatteten Nachschau in der Wohnung wurden in der Speisekammer verschiedene neuwertige Werkzeuge gefunden. Die Beschwerdeführer konnten keine diese Werkzeuge betreffenden Rechnungen vorweisen. Sie stellten in Abrede, die Werkzeuge gestohlen zu haben. Sie wurden daraufhin um

15.45 Uhr von den Kriminalbeamten wegen Verabredungsgefahr festgenommen und zur belangten Behörde gebracht. Ein richterlicher Haftbefehl wurde nicht eingeholt.

Nach ihrer jeweiligen Einvernahme - anläßlich der die Beschwerdeführer zugaben, daß P. B. die Werkzeuge bei der Firma O. gestohlen hatte - wurden die Beschwerdeführerin K. B. am selben Tag um 18.45 Uhr und der Beschwerdeführer P. B. am darauf folgenden Morgen um 09.15 Uhr auf freien Fuß gesetzt.

Diese Feststellungen beruhen auf dem insoweit übereinstimmenden Parteienvorbringen und dem Inhalt der Verwaltungsakten. Ob K. B. den Kriminalbeamten tatsächlich die Benützung des Telefons in ihrer Wohnung zwecks Kontaktaufnahme mit dem Journalrichter verweigert hat - was erst in den Gegenschriften behauptet wurde -, kann hiebei ebenso außer Betracht bleiben (s. hiezu die nachfolgenden Rechtsausführungen unter Punkt 3.) wie die nicht in Beschwerde gezogene - im übrigen von der belangten Behörde bestrittene - Behauptung, P. B. sei durch Kriminalbeamte "leicht" mißhandelt worden.

3. Der VfGH geht bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes unter dem Gesichtspunkt der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Beschwerdeführer im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehles verhaftet wurden. Es ist daher nach §177 iVm §175 StPO zu prüfen, ob die Verhaftung in einem der "vom Gesetze bestimmten Fälle" iS des §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit, erfolgt ist.

Zur selbständigen Beurteilung und Wahrnehmung des Haftgrundes der Verabredungsgefahr nach §175 Abs1 Z3 StPO waren die gegen die Beschwerdeführer einschreitenden Organe der belangten Behörde nur nach Maßgabe des §177 Abs1 Z2 StPO befugt, also wenn die Einholung eines richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich war (vgl. die ständige Rechtsprechung des VfGH, zB VfSlg. 8298/1978).

Im Bericht der einschreitenden Kriminalbeamten über die Durchführung der Verhaftung ist festgehalten, daß die Einholung eines richterlichen Haftbefehls wegen Gefahr im Verzuge nicht möglich gewesen sei. In einer (späteren) Stellungnahme zu den beiden Beschwerden an den VfGH sowie in den Gegenschriften wird ausgeführt, K. B. habe die Benützung des Telefonapparates in ihrer Wohnung zwecks Rücksprache mit dem Untersuchungsrichter nicht gestattet.

Auch wenn dies zutreffen sollte, waren die Kriminalbeamten im Hinblick auf die besondere Lage dieses Falles aus folgenden Erwägungen nicht zur selbstständigen Beurteilung und Wahrnehmung des Vorliegens eines Haftgrundes berechtigt:

Im Zeitpunkt der Festnahme befanden sich - mit Ausnahme der Beamten - lediglich die beiden Beschwerdeführer (eine Frau und ein knapp über 14 Jahre alter Knabe) in der Wohnung. Das Diebsgut war bereits gefunden. Der VfGH verkennt nicht, daß die Vornahme von Amtshandlungen dieser Art im allgemeinen die Anwesenheit von zwei Beamten erfordert. Bei der hier gegebenen spezifischen Situation wäre es aber durchaus möglich gewesen, daß einer der beiden Kriminalbeamten zwecks geeigneter Kontaktaufnahme mit dem Untersuchungsrichter die Wohnung für kurze Zeit verläßt, ohne daß deshalb der in der Wohnung verbleibende Kriminalbeamte in eine Lage versetzt worden wäre, welche zu einer Beeinträchtigung des mit der Amtshandlung verbundenen Zweckes hätte führen können. Es ist nicht einzusehen, wieso ein Beamter allein nicht imstande gewesen wäre - wie in den Gegenschriften behauptet wird -, eine Verabredung zwischen den Beschwerdeführern zu unterbinden. Es wäre den Beschwerdeführern bei Anwesenheit auch möglich gewesen, ihre Aussagen untereinander abzustimmen, ohne daß der Beamte davon ebenfalls in Kenntnis gewesen wäre. Gleiches gilt für eine allfällige Verabredung der Beschwerdeführerin K. B. mit ihrem - damals gar nicht anwesenden - Lebensgefährten. Andere Umstände, welche das Einholen eines richterlichen Haftbefehls wegen Gefahr im Verzug als nicht tunlich erscheinen lassen, lagen ebenfalls nicht vor.

Die Festnahme der beiden Beschwerdeführer war daher im Gesetz nicht begründet. Die Beschwerdeführer sind somit durch ihre Festnahme und nachfolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1983:B510.1979

Dokumentnummer

JFT_10169389_79B00510_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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