TE Vfgh Erkenntnis 1984/9/24 B316/80

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Veröffentlicht am 24.09.1984
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art119 Abs5
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
AVG §42

Leitsatz

AVG 1950; Aufhebung einer gemäß §42 präkludierte Anrainereinwendungen berücksichtigenden Berufungsentscheidung der Gemeindebehörde durch die Vorstellungsbehörde; kein Entzug des gesetzlichen Richters

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. K F suchte am 11. Oktober 1974 um Erteilung der Baubewilligung für den Neubau eines Garagen- und Wirtschaftsgebäudes an.

Über dieses Bauvorhaben wurde vom Bürgermeister der Gemeinde Sölden eine Bauverhandlung für den 10. April 1975 ausgeschrieben, wobei der als Anrainer persönlich geladene Bf. auf die Säumnisfolgen nach §42 AVG 1950 ausdrücklich hingewiesen wurde. Bei der Verhandlung wurde der Bauwerber vom Verhandlungsleiter zunächst darauf verwiesen, daß der Durchführung des Projektes die Nichteinhaltung der Grenzabstände entgegenstehe. Der nunmehrige Bf. und ein weiterer Anrainer gaben die Stellungnahme ab, daß sie "bei bescheidmäßiger Ausführung keine Einwände" erheben. Sohin wurde die Verhandlung vertagt, um dem Bauwerber Gelegenheit zu geben, Austausch- bzw. Ergänzungspläne vorzulegen.

Bei der am 10. Juli 1975 über das Bauvorhaben abgeführten weiteren Verhandlung - auch zu dieser war der Bf. unter Hinweis auf die Säumnisfolgen nach §42 AVG 1950 persönlich geladen - wurde laut Protokoll die Frage des Abstandes neuerlich angeschnitten und vom Verhandlungsleiter nach "Feststellung bzw. der Genehmigung der Verschiebung" der Baustelle festgehalten, daß der Baubescheid nun erlassen werden könne. In der Verhandlungsniederschrift wurde des weiteren nachfolgend eine Stellungnahme des Bf. wie folgt protokolliert: "Der Anrainer Dr. S erhebt keine Einwände bei bescheidgemäßer Ausführung, möchte aber, daß die Bauführung so vorangetrieben wird, daß der Rohbau in einem Jahr (einer Bausaison) ausgeführt wird". Festgehalten wurde schließlich die Erklärung des Bauwerbers, daß er diesem Wunsch - schon im eigenen Interesse - entsprechen würde. Die Verhandlungsschrift ist vom Bf. eigenhändig unterschrieben.

Mit Bescheid des Bürgermeisters der Gemeinde Sölden vom 10. Dezember 1976 wurde sodann dem Bauwerber die begehrte Baubewilligung erteilt.

1.2. Gegen diesen Bescheid erhob der Bf. Berufung (Einspruch), weil die gesetzlich vorgeschriebenen Bauabstände nicht eingehalten seien. Mit Bescheid des - im Devolutionsweg zuständig gewordenen - Gemeinderates der Gemeinde Sölden vom 23. März 1979 wurde der Berufung Folge gegeben und der angefochtene Bescheid wegen Gesetzwidrigkeit aufgehoben. Der Befund eines Sachverständigen habe ergeben, daß die Einreichungspläne hinsichtlich der Hangneigung und der Abstandsflächen nicht richtig seien und daher die Mindestabstände größer sein müßten.

1.3. Der dagegen vom Bauwerber erhobenen Vorstellung wurde von der Tir. Landesregierung mit Bescheid vom 13. Mai 1980, Z Ve 550 - 648/10, Folge gegeben, der Berufungsbescheid aufgehoben und die Rechtssache infolge Verletzung von Rechten des Bauwerbers an den Gemeinderat zurückverwiesen. Der Bf. habe bei der über das Bauvorhaben anberaumten Verhandlung keine dem Gesetz entsprechenden Einwendungen erhoben, sodaß er zufolge der unwiderleglichen Rechtsvermutung des §42 AVG 1950 als dem Vorhaben zustimmend anzusehen sei.

Bei der Verhandlung vom 10. Juli 1975 habe der Bf. lediglich erklärt, bei bescheidgemäßer Ausführung keine Einwendungen zu erheben. Gegen die Abfassung der Niederschrift seien vom Bf. keine Einwendungen erhoben worden. Die Niederschrift sei eine öffentliche Urkunde, die gemäß §15 AVG 1950 vollen Beweis über den Verlauf und den Gegenstand der Amtshandlung liefere. Dem Bf. sei dennoch anheimgestellt worden, einen konkreten Beweis dafür zu erbringen, daß seine Einwendungen nicht richtig protokolliert worden seien. Über Antrag des Bf. sei eine Reihe von Zeugen darüber vernommen worden, ob von ihm entgegen der Niederschrift Einwendungen erhoben worden seien; die Einvernahmen hätten jedoch ergeben, daß der Einschreiter lediglich die in der Niederschrift enthaltenen Erklärungen abgegeben habe. Nach dem Ergebnis des ergänzten Ermittlungsverfahrens habe die Aufsichtsbehörde davon auszugehen gehabt, daß vom Bf. keine dem Gesetz entsprechenden Einwendungen erhoben worden seien. Dies bedeute, daß der Gemeinderat verpflichtet gewesen wäre, die somit unzulässige Berufung des Bf. zurückzuweisen. Da der Gemeinderat trotzdem materiell entschieden habe, sei dessen Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet.

2.1. Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

2.2. Die bel. Beh. hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

3. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

3.1. Der Bf. lastet der bel. Beh. an, leichtfertig und damit willkürlich entschieden zu haben. Er habe die bel. Beh. im Vorstellungsverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Protokollierung seiner Erklärung in der Niederschrift über die Bauverhandlung vom 10. Juli 1975 offensichtlich unrichtig sei. Es sei widersinnig zu unterstellen, daß eine Partei in einer Verhandlung das Einverständnis zu einem Bescheid erteile, der erst aufgrund der Ergebnisse der Verhandlung zu erlassen sei. In der Annahme der bel. Beh., der Bf. habe sich seines Rechtes, Einwendungen gegen das Bauvorhaben zu erheben, verschwiegen, sodaß er gemäß §42 AVG als dem Vorhaben zustimmend anzusehen sei, sei Willkür zu erblicken, da das Verfahren so qualifiziert mangelhaft durchgeführt worden sei, daß ein in die Verfassungssphäre reichendes Fehlverhalten der Behörde vorliege. Zudem werde dem Bf. durch die angenommene Präklusion verwehrt, sich am weiteren Verfahren zu beteiligen, sodaß er hiedurch auch im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt werde.

3.2. Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird ua. dann verletzt, wenn zufolge der gemäß Art119a B-VG bestehenden Bindung an die im angefochtenen Bescheid zum Ausdruck kommende Rechtsansicht der Vorstellungsbehörde die Gemeindebehörden zu Unrecht eine Sachentscheidung zu fällen oder zu verweigern hätten (vgl. VfSlg. 9720/1983).

Im Beschwerdefall ist davon auszugehen, daß der Bf., wenn er im erstinstanzlichen Verfahren vor den Gemeindebehörden keine dem Gesetz entsprechenden Einwendungen erhoben hätte, zufolge der unwiderleglichen Rechtsvermutung des §42 AVG 1950 als dem Vorhaben zustimmend anzusehen war und daß seine Berufung daher für diesen Fall zurückzuweisen gewesen wäre (vgl. VfSlg. 5765/1968).

Die bel. Beh. ist zu dem Ergebnis gekommen, daß ein solcher Fall vorliegt. Der Bf. behauptet, daß die Behörde bei den - den Inhalt der Verhandlungsschrift nachprüfenden - Ermittlungen, die zu dem bekämpften Ergebnis führten, leichtfertig und damit willkürlich vorgegangen sei, weshalb eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet werde. Der VfGH hält zunächst fest, daß die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht erst dann vorläge, wenn der bel. Beh. Willkür anzulasten wäre, sondern schon, wenn die Behörde im Verfahren zwecks Ermittlung, ob der Bf. im Verfahren erster Instanz Einwendungen iS des Gesetzes erhoben hat, unrichtig entschieden hätte. In diesem Fall würde nämlich dem Bf. im Hinblick auf die Bindungswirkung des Bescheides eine Sachentscheidung durch den Gemeinderat zu Unrecht verweigert.

Entgegen der Ansicht des Bf. kann der bel. Beh. jedoch kein dermaßen relevanter Fehler zum Vorwurf gemacht werden. Mit Recht verweist die bel. Beh. im angefochtenen Bescheid darauf, daß auch die Einvernahme der vom Bf. zum Nachweis der Richtigkeit seiner Behauptung, bei der Verhandlung am 10. Juli 1975 seien seine Einwendungen nicht richtig protokolliert worden, beantragten Zeugen diesen Vorwurf nicht bestätigen konnten. Der Bf. schwächte sein ursprüngliches Vorbringen in einem nach Durchführung der begehrten Beweise erstatteten Schriftsatz im übrigen sinngemäß selbst dahin ab, vom Verhandlungsleiter und auch den übrigen Beteiligten sei eben davon ausgegangen worden, daß vom Bauwerber die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstände eingehalten seien; er vermeine, die von ihm abgegebene Erklärung, "keine Einwände bei bescheidgemäßer Ausführung" zu erheben, bedeute sein Einverständnis nur für den Fall, daß der zu erlassende Bescheid den Bestimmungen über die einzuhaltenden Mindestabstände Rechnung tragen würde. Im Ergebnis gibt der Bf. damit zu, daß alle an der Verhandlung vom 10. Juli 1975 Beteiligten von der auch von ihm unterstellten Annahme ausgegangen seien, daß die gesetzlichen Mindestabstände eingehalten wären, sodaß er mit seiner nachfolgenden Berufung den das Bauvorhaben bewilligenden Bescheid aufgrund einer erst später eingetretenen Einsicht bekämpft, daß der Bescheid die vorgeschriebenen Mindestabstände doch nicht richtig berücksichtigt habe. Dieser Sachverhalt geht auch aus der vorliegenden Beschwerde offenkundig hervor. Damit erweist sich jedoch, daß der Bf. dem Gesetz entsprechende Einwendungen nicht erhoben hat: Die Strenge des §42 AVG 1950 verlangt nämlich, daß Parteien und Beteiligte ihre Einwendungen ausdrücklich erklären, widrigenfalls sie sich dieses Rechtes verschweigen. Was den Bf. betrifft, haben (auch) die Ermittlungen erwiesen, daß die von ihm abgegebenen Erklärungen summarisch gesehen seine bedingte Zustimmung zu dem in Frage stehenden Bauvorhaben für den Fall bedeuteten, daß der ihm inhaltlich bereits bekannte, künftige Bescheid dem Gesetz (hinsichtlich der Grenzabstände) gerecht werde. Solche Ausführungen entsprechen jedoch nicht Einwendungen, wie sie gemäß §42 AVG 1950 zu erheben sind, wenn nicht Verschweigung eintreten soll; es handelt sich nämlich um einen bloßen Vorbehalt (hier rechtlicher Natur), nicht aber um konkrete Einwendungen, wie sie vom Gesetz im Interesse einer Verfahrenskonzentration geboten sind.

Zusammenfassend ergibt sich daraus, daß der Gemeinderat sich mit Einwendungen des Bf. nicht auseinanderzusetzen gehabt hätte, was, wie im angefochtenen Bescheid richtig dargelegt, dazu führt, daß im fortgesetzten Verfahren die Berufung des Bf. zurückzuweisen sein wird. Aufgrund der Rechtsrichtigkeit des angefochtenen Bescheides trifft die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht zu.

3.3. In einem solchen Fall ist es aber ausgeschlossen, daß der Bf. durch den angefochtenen Bescheid in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden ist (vgl. VfSlg. 7873/1976, 8144/1977, 8406/1978, 9326/1982).

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

Schlagworte

Bindung (der Verwaltungsbehörden an behördliche Entscheidungen), Vorstellung, VfGH / Prüfungsmaßstab, Verwaltungsverfahren, Ermittlungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1984:B316.1980

Dokumentnummer

JFT_10159076_80B00316_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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