TE Vfgh Erkenntnis 1985/11/22 B320/85

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Veröffentlicht am 22.11.1985
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Index

L0 Verfassungs- und Organisationsrecht
L0350 Gemeindewahl

Norm

B-VG Art26 Abs1
B-VG Art95 Abs1
B-VG Art117 Abs2
Nö GdWO 1974 §7
Nö GdWO 1974 §8

Beachte

ähnlich B321/85 vom selben Tag

Leitsatz

Nö. GemeindewahlO 1974; Nichteintragung eines Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis; Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Gemeinderat iS des Art117 Abs2 iVm. Art26 Abs1, 95 Abs1 B-VG infolge mangelhaften Ermittlungsverfahrens und unzureichender Bescheidbegründung

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Am 6. März 1985 begehrte der österreichische Staatsbürger H S mit Einspruch bei der Wahlbehörde der Marktgemeinde St. Andrä-Wördern, politischer Bezirk Tulln, NÖ, seine Aufnahme in das dort aufliegende Wählerverzeichnis für die Wahl zum Gemeinderat vom 14. April 1985 gemäß §26 Nö. Gemeindewahlordnung 1974 (GWO), LGBl. 0350-4.

1.1.2. Die Gemeindewahlbehörde St. Andrä-Wördern gab diesem Einspruch mit Bescheid vom 11. März 1985 nicht statt.

1.2.1. H S brachte gegen die Entscheidung der Gemeindewahlbehörde fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung ein.

1.2.2.1. Die Bezirkswahlbehörde Tulln wies diese Berufung mit Bescheid vom 26. März 1985, Z 2-A/85, ab.

1.2.2.2. Begründend wurde ua. ausgeführt:

"Die durchgeführten Ermittlungen ergaben, daß H S am Stichtag in der Gemeinde St. Andrä-Wördern keinen ordentlichen Wohnsitz hatte."

1.3.1. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde des H S an den VfGH, in der insbesondere die Verletzung des durch Art117 Abs2 B-VG gewährleisteten Rechts auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

1.3.2. Die Bezirkswahlbehörde Tulln als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

1.4.1. Die mit "Wahlrecht und Wählbarkeit" überschriebene Bestimmung des §7 GWO lautet folgendermaßen:

"Wahlberechtigt ist jeder österreichische Staatsbürger, der spätestens im Jahr der Wahl das 19. Lebensjahr vollendet, vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen ist und am Tag der Verlautbarung der Wahlausschreibung in der Gemeinde seinen ordentlichen Wohnsitz hat."

1.4.2. §8 GWO hat folgenden Wortlaut:

"(1) Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Absicht dahin gehen muß, an dem gewählten Ort für immer zu bleiben; es genügt, daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden ist.

(2) Ein ordentlicher Wohnsitz gilt insbesondere dann nicht als begründet, wenn der Aufenthalt

a) bloß der Erholung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient,

b) lediglich zu Urlaubszwecken gewählt wurde oder

c) aus anderen Gründen offensichtlich nur vorübergehend ist;

gleiches gilt, wenn die Begründung des ordentlichen Wohnsitzes nur auf Eigentum oder Besitz an Baulichkeiten oder Liegenschaften gestützt werden kann."

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Der administrative Instanzenzug ist erschöpft (§28b Abs2 letzter Satz GWO).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1. Das in Art117 Abs2 iVm. Art26 Abs1, 95 Abs1 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Wahlrecht zum Gemeinderat wird durch rechtswidrige Nichteintragung eines Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Nichteintragung führende Verwaltungsverfahren an wesentlichen Mängeln leidet (vgl. zB VfSlg. 5148/1965, 6303/1970, 7017/1973, 7766/1976; s. auch VfSlg. 8845/1980).

2.2.2. Die "Begründung" des angefochtenen Bescheides erschöpft sich im Kern der knappen Feststellung, daß der Bf. nach "durchgeführten Ermittlungen" in der Gemeinde St. Andrä-Wördern "keinen ordentlichen Wohnsitz" habe. Aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die bel. Beh. zu dieser Annahme gelangte, wurde nicht einmal ansatzweise angegeben, obwohl der Bf. in seiner Berufungsschrift ausdrücklich die Gemeinde St. Andrä-Wördern als - wenn auch nicht ausschließlichen - Mittelpunkt seiner Lebensinteressen genannt hatte (zur Frage von Mehrfachwohnsitzen vgl. zB VfSlg. 9598/1982). Vollkommen unerörtert und ungewürdigt blieb im gegebenen Zusammenhang insbesondere auch ein in den Administrativakten erliegender Erhebungsbericht vom 22. März 1985, worin es ua. heißt, daß die in Rede stehende Wohnung (im Hochwasserabflußbereich) angeblich ab 1985 dauernd bewohnbar und geheizt sei und der Bf. laut Angaben seiner Ehefrau täglich mit Auto oder Bahn nach Wien fahre.

Sieht man von diesem insgesamt unzulänglichen Bericht ab, auf den die bel. Beh. aber in der Bescheidbegründung - wie eingangs schon dargelegt - gar nicht näher einging, unterblieben hier (auch) geeignete Ermittlungen zur Klärung des entscheidungswichtigen Sachverhaltes, und zwar namentlich zur Überprüfung des Standpunktes des Bf.: Dieser Umstand im Zusammenhalt mit der völlig unzureichenden Bescheidbegründung, die sich nach dem Gesagten mit dem Berufungsvorbringen überhaupt nicht befaßte und auseinandersetzte, kennzeichnet aber die von der bel. Beh. eingehaltene Prozedur - selbst unter gebührender Berücksichtigung der geringeren Anforderungen, die an das Ermittlungsverfahren vor Wahlbehörden schon angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Fristen zu stellen sind (VfSlg. 8845/1980) - unter dem Aspekt der maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes als derart grob mangelhaft und ergänzungsbedürftig (s. etwa auch: VfSlg. 6473/1971, 7017/1973, 7766/1976, 8845/1980), daß bereits von einer Verfassungswidrigkeit iS der zu Punkt 2.2.1. wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Judikatur gesprochen werden muß.

2.2.3. Mithin wurde der Bf. durch den angefochtenen, die Nichtaufnahme in das Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Gemeinderat (Art117 Abs2 iVm. Art26 Abs1, 95 Abs1 B-VG) verletzt.

Der Bescheid war darum schon aus diesem Grunde als verfassungswidrig aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf das weitere Beschwerdevorbringen bedurfte.

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Gemeinderat, Gemeindevertretungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:B320.1985

Dokumentnummer

JFT_10148878_85B00320_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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