TE OGH 2011/8/31 7Ob72/11f

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Veröffentlicht am 31.08.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. T***** S*****, vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei M***** Versicherung AG, *****, vertreten durch Dr. Edwin A. Payr, Rechtsanwalt in Graz, wegen Feststellung, über die Rekurse beider Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 1. Februar 2011, GZ 4 R 6/11f-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 25. Oktober 2010, GZ 6 Cg 183/09m-14, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Den Rekursen wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Klägerin ist Fachärztin für Gynäkologie und betreibt seit Jänner 1996 eine gynäkologische Praxis. Auf ihre Anfrage zwecks Versicherungsschutzes wurde der Klägerin von der Ärztekammer T***** die Beklagte genannt, mit der sie noch im Jahr 1996 eine Bündelversicherung abschloss, die unter anderem eine Betriebshaftpflichtversicherung enthielt.

Hierzu setzte sich die Klägerin mit dem Außendienstmitarbeiter der Beklagten, J***** A*****, in Verbindung und erklärte diesem, dass sie einen vollumfänglichen Versicherungsschutz für ihre Praxis benötige. In der Folge suchte J***** A***** die Klägerin auf und es wurde ein persönliches Gespräch geführt. Sie erklärte ihm, dass sie als Gynäkologin einen sehr umfassenden Versicherungsschutz anstrebe, da gleichzeitig zwei Menschenleben, nämlich nicht nur die Schwangere, sondern auch das Kind betroffen seien. Die Klägerin machte J***** A***** klar, dass sie diesbezüglich umfänglichen, bestmöglichen Versicherungsschutz benötige. Die Klägerin war in Versicherungsangelegenheiten unbedarft. J***** A***** differenzierte nicht zwischen Unterhaltsschäden, Pflegekosten, Personenschäden oder Sachschäden. Er unterließ es, die Klägerin darüber aufzuklären, dass Vermögensschäden nur bis 100.000 ATS gedeckt sind. J***** A***** klärte die Klägerin auch nicht darüber auf, dass die „wrongful-birth“-Problematik nicht versichert sei. Die Klägerin schloss in der für J***** A***** erkennbaren Meinung, sie erlange einen umfänglichen und mit 20.000.000 ATS auch ausreichenden Versicherungsschutz, den Versicherungsvertrag mit der Beklagten ab.

Wäre die Klägerin vom Mitarbeiter der Beklagten darüber aufgeklärt worden, dass die Haftpflichtversicherung im Hinblick auf die „wrongful-birth“-Problematik nur bis 100.000 ATS versichert sei, so hätte sie für die entsprechende Eindeckung dieser Schäden bis zum Eintritt des Versicherungsfalls Vorsorge getroffen, etwa durch Abschluss mit einem anderen Versicherer, bei dem diese Schäden im entsprechenden Umfang mitversichert worden wären.

Der Höchstbetrag von 100.000 ATS war jener Deckungsumfang, den die Beklagte damals (1996) ihren Versicherungsnehmern für reine Vermögensschäden anbot. Im nächstfolgenden Tarif von 1997 gab die Beklagte ihren Versicherungsnehmern die Möglichkeit, gegen Mehrprämie gestaffelt bis zu einer Summe von 500.000 ATS reine Vermögensschäden mitzuversichern. Es ist am Versicherungsmarkt nicht üblich, dass jeder neue Tarif auch jedem Versicherungsnehmer unmittelbar angeboten wird, insbesondere wenn der Tarif erst seit kurzem bestanden hat. Der Klägerin wurde der beschriebene Tarif von 1997 in der Folge und auch bis zum Schadensfall durch die Beklagte nicht angeboten.

In der deutschen Versicherungswirtschaft gab es auf Grund einer Empfehlung des HUK-Verbandes (Haftpflicht-, Unfall-, Kraftfahrtversicherer Verbandes) vom 17. 4. 1984 eine Klausel in den besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für Ärzte, wonach „für Haftpflichtschäden, bei denen es sich um Unterhaltsansprüche gegen den Versicherungsnehmer in seiner Eigenschaft als Arzt wegen ungewollter Schwangerschaft bzw wegen unterbliebenem Schwangerschaftsabbruch handelt, Versicherungsschutz im Rahmen des Vertrages nach Maßgabe der vereinbarten Deckungssumme für Personenschäden besteht“; womit im Ergebnis in Deutschland der Unterhaltsschaden in der Haftpflichtversicherung ab 1984 wie ein Personenschaden behandelt wurde.

Bis 25. 10. 2007 wurde die Klägerin in Versicherungsangelegenheiten, insbesondere hinsichtlich ihrer Haftpflichtversicherung zunächst von J***** A***** sen. und sodann von dessen Sohn, beide Beschäftigte der Beklagten, betreut. Ab Oktober 2007 beauftragte die Klägerin die selbständige Versicherungsmaklerin Firma N***** & B***** mit der Betreuung.

Im Verfahren 11 Cg 72/09z des Landesgerichts I***** begehrt der dortige Kläger P***** S*****, die Klägerin zur Zahlung von 357.280,48 EUR sA zu verpflichten und ihre Haftung für zukünftige Schäden festzustellen, dies mit der Begründung, die Klägerin habe bei den Ultraschalluntersuchungen seiner Frau in der Zeit vom 28. 11. 2005 bis 28. 4. 2006 übersehen, dass sein Kind am Down-Syndrom leide, weshalb dieses Kind, die am 5. 5. 2006 geborene S***** S*****, nicht abgetrieben worden sei. Die Klagsforderung des P***** S***** setzt sich aus 14.112 EUR an Unterhalt, 162.000 EUR an Pflegemehraufwand, 26.168,48 EUR an Therapiekosten und 130.000 EUR an psychischem Schmerzengeld zusammen.

Im Verfahren 59 Cg 76/09s des Landesgerichts I***** begehrt K***** S***** als Mutter von S***** von der Klägerin 152.000 EUR sA mit der Begründung, die Klägerin hafte auf Grund ihres Diagnosefehlers für Geburtsschmerzen von 5.000 EUR, für den Schockschaden wegen der Diagnose „Down-Syndrom“ von 10.000 EUR und für psychisches Schmerzengeld von 125.000 EUR.

In beiden Verfahren gewährte die Beklagte Deckung hinsichtlich der geltend gemachten Forderungspositionen für „reine Personenschäden“ (Schmerzengeld). Für reine Vermögensschäden wurde eine Deckungszusage bis zu einem Betrag von 7.267,29 EUR abgegeben. Eine darüber hinausgehende Deckung für Vermögensschäden wurde abgelehnt.

Die maßgebenden Bestimmungen im Art 1 („Versicherungsfall und Versicherungsschutz“) der anzuwendenden AHVB 1995 lauten wie folgt:

2. Versicherungsschutz

2.1. Im Versicherungsfall übernimmt der Versicherer

2.1.1Die Erfüllung von Schadenersatzverpflichtungen, die dem Versicherungsnehmer wegen eines Personenschadens, eines Sachschadens oder eines Vermögensschadens, der auf einen versicherten Personen- oder Sachschaden zurückzuführen ist, auf Grund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts erwachsen (in der Folge kurz „Schadenersatzverpflichtungen“);

...

2.3. Personenschäden sind die Tötung, Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung von Menschen. Sachschäden sind die Beschädigung oder die Vernichtung von körperlichen Sachen.

Nach Abschnitt B Punkt 8.3. der EHVB 1985 sind auch Schadenersatzverpflichtungen aus reinen Vermögensschäden bis zu einer Versicherungssumme von 100.000 ATS gedeckt.

Die Klägerin begehrte die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr aus der zwischen den Streitteilen abgeschlossenen Ärztehaftpflichtversicherung (ursprüngliche Polizzen Nummer 3.303.622) hinsichtlich des Schadensfalls der minderjährigen S***** S***** Versicherungsschutz zu gewähren. Für 7.267,29 EUR übersteigende reine Vermögensschäden stehe der Klägerin zwar nicht aus dem Versicherungsvertrag „an sich“, aber aus schadenersatzrechtlichen Gesichtspunkten „vollumfänglich“ Versicherungsschutz zu, weil sie von den Außendienstmitarbeitern der Beklagten (die nach § 1313a ABGB hafte) weder vor oder bei Vertragsabschluss noch während des aufrechten Versicherungsverhältnisses auf die bestehende, die wirtschaftliche Existenz der Klägerin bedrohende Deckungslücke bezüglich „wrongful-birth“-Schäden hingewiesen worden sei. Die Klägerin sei aus dem Titel des Schadenersatzes (nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo, infolge Verletzung nebenvertraglicher Schutz- und Sorgfaltspflichten) so zu stellen, wie sie stünde, wenn die Informationspflicht erfüllt worden wäre. Auch für reine Vermögensschäden sei die Beklagte daher „unbeschränkt“ deckungspflichtig.

Nach Erörterung des Klagebegehrens erhob die Klägerin zunächst ein Eventualbegehren des Inhalts, es möge festgestellt werden, dass ihr die Beklagte aus der zwischen den Streitteilen abgeschlossenen Ärztehaftpflichtversicherung hinsichtlich des Schadensfalls der minderjährigen S***** S***** insbesondere bezüglich sämtlicher „wrongful-birth“-Schäden Versicherungsschutz zu gewähren habe, und ein weiteres Eventualbegehren dahin, dass ihr die Beklagte aus dem abgeschlossenen Ärztehaftpflichtversicherungsvertrag hinsichtlich des Schadensfalls der minderjährigen S***** S***** insbesondere bezüglich „wrongful-birth“-Problematik Versicherungsschutz im Rahmen des abgeschlossenen Versicherungsvertrags zu gewähren habe. Zuletzt begehrte die Klägerin die Feststellung, dass die Beklagte hinsichtlich sämtlicher Kosten, welcher Art auch immer, für die Abwehr unberechtigter Forderungen und/oder hinsichtlich sämtlichem Aufwand für die Befriedigung berechtigter Forderungen, die auf Grund des Schadensfalls der minderjährigen S***** S***** gegenüber ihr erhoben werden, vollumfänglichen und uneingeschränkten Deckungsschutz zu gewähren habe. Darüber hinaus erklärte sie, dass das bis dahin gestellte Hauptbegehren als erstes Eventualbegehren und die beiden Begehren laut Protokoll vom 15. 3. 2010 als zweites und drittes Eventualbegehren gestellt würden.

Die Beklagte sprach sich gegen diese „Klagsänderung“ aus. Da es sich dabei um ein komplett neues Begehren handle und nun eine unbeschränkte Haftung der Beklagten über die Polizze hinaus begehrt werde, sei die Klagsänderung nicht zuzulassen. Im Übrigen bestritt die Beklagte die Schlüssigkeit der (Eventual-)Begehren und wendete - soweit noch von Bedeutung - ein, es wäre Aufgabe der Klägerin gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Versicherungssumme von 100.000 ATS (7.267,29 EUR) für reine Vermögensschäden allenfalls nicht ausreiche. Der Versicherer sei nicht verpflichtet, selbständig für eine Anpassung der Versicherungsverträge zu sorgen.

Das Erstgericht gab - ohne (ausdrücklich) über die behauptete Klagsänderung zu entscheiden - dem modifizierten Begehren dahin statt, dass es feststellte, die Beklagte habe hinsichtlich sämtlicher Kosten, welcher Art auch immer, für die Abwehr unberechtigter Forderungen und/oder hinsichtlich sämtlichem Aufwand für die Befriedigung berechtigter Forderungen, die auf Grund des Schadensfalls der minderjährigen S***** S***** gegenüber der Klägerin erhoben werden, aus der zwischen den Streitteilen abgeschlossenen Ärztehaftpflichtversicherung (ursprüngliche Polizzen Nummer 3.303.622) über die für die reine Vermögensschäden gewährte Deckungszusage von 7.267,29 EUR hinaus vollumfänglich und uneingeschränkten Deckungsschutz zu gewähren. Über die eingangs wiedergegebenen, vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen hinaus stellte es noch fest, dass J***** A***** der Klägerin zugesichert habe, sie würde einen umfassenden Versicherungsschutz erhalten, wobei in der Haftpflichtversicherung jeder einzelne Schaden mit 20.000.000 ATS versichert sei.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht den Standpunkt, da nach ständiger Judikatur abgelehnt werde, ein geborenes Kind als Schaden zu bezeichnen, hätten die Schadenspositionen Unterhalt, Pflegemehraufwand und Therapiekosten als reine Vermögensschäden zu gelten, für die die Beklagte nach dem Versicherungsvertrag nur bis zu einer Versicherungssumme von 7.267,29 EUR Deckung gewähre. Nach Lehre und Rechtsprechung bestehe zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer bereits im Stadium vor dem Vertragsabschluss ein vorvertragliches Schuldverhältnis, wobei der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber Schutz- und Sorgfaltspflichten zu erfüllen habe, deren schuldhafte Verletzung ihn schadenersatzpflichtig machen könne. Es sei jener Schaden zu ersetzen, der ohne die Pflichtverletzung nicht entstanden wäre (Vertrauensschaden). Im Rahmen der „Produktinformationspflicht“ des Versicherers sei dieser zwar im Allgemeinen nicht zur Überprüfung verpflichtet, ob das angebotene Versicherungsprodukt das Schutzbedürfnis des Versicherungsnehmers vollständig abdecke; der Versicherer müsse aber die vom Versicherungsnehmer gestellten Fragen zutreffend beantworten und Fehlvorstellungen, die der Versicherungsnehmer über den Deckungsumfang äußere, richtig stellen. So bestehe etwa eine Aufklärungspflicht über einen Risikoausschluss, wenn erkennbar sei, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsschutz gerade für ein ausgeschlossenes Risiko anstrebe. Den Versicherer treffe die vertragliche Nebenpflicht, den Versicherungsnehmer über jenen Deckungsumfang zu informieren, der dem erkennbaren Deckungsbedürfnis entspreche. Dabei müsse er sich den Maßstab des Sachverständigen nach § 1299 ABGB zurechnen lassen. Sei für den Versicherer erkennbar, dass der von ihm angebotene Versicherungsschutz gravierende Deckungslücken habe und dass der Versicherungsnehmer von der Erwartung ausgehe, einen ausreichenden Versicherungsschutz zu haben, dann müsse er den Versicherungsnehmer auf diesen Umstand aufmerksam machen und ihm dadurch die Möglichkeit einräumen, einen adäquaten Versicherungsschutz zu erlangen.

Angesichts des Umstands, dass es zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags das deutsche Modell der zusätzlichen Arzthaftpflichtversicherung für „Unterhaltsschäden“ bereits seit mehr als zehn Jahren gegeben habe, hätte ein durchschnittlich sorgfältiger österreichischer Versicherer, der Arzthaftpflichtversicherung betreibe, die versicherungsrechtliche Problematik der „Unterhaltsschäden“ kennen müssen. Er hätte daher jenen Ärzten, die von diesem Risiko betroffen seien, entweder eine entsprechende Deckung anbieten oder sie aber zumindest davon informieren müssen, dass die von ihm angebotene Deckung hinsichtlich der Unterhaltsschäden eine Lücke aufweise. Im Hinblick auf die Äußerung der Klägerin, dass sie einen sehr umfassenden Versicherungsschutz benötige, weil gleichzeitig zwei Menschenleben betroffen seien, hätte J***** A***** erkennen müssen, dass der von ihm angebotene Versicherungsschutz für reine Vermögensschäden nur bis zu 100.000 ATS eine gravierende Deckungslücke aufweise. Die Beklagte habe weder eine entsprechende Deckung angeboten noch über die Deckungslücke informiert, weshalb sie aus dem Titel des Schadenersatzes Deckung zu gewähren habe. Das Klagebegehren sei so zu verstehen, wie es im Zusammenhalt mit der Klagserzählung von der Klägerin gemeint sei. Das Gericht dürfe den Urteilsspruch mit dem zur Bestimmtheit erforderlichen Angaben ergänzen, weshalb durch die Umformulierung des Urteilsspruchs kein Verstoß gegen den § 405 ZPO vorliege.

Das Berufungsgericht hob über Berufung der Beklagten das angefochtene Urteil auf, verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück und erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig.

Hinsichtlich der eingangs wiedergegebenen Feststellungen erkannte das Berufungsgericht der Beweisrüge keine Berechtigung zu. Zur darüber hinaus bekämpften Feststellung, dass J***** A***** der Klägerin ausdrücklich umfassenden Versicherungsschutz und Deckung jedes einzelnen Schadensfalls bis 20.000.000 ATS zugesichert habe, führte es aus, dass diese Feststellung ohne Beweisergebnisse getroffen worden sei und nicht übernommen werde. Das sei aber unerheblich, weil jedenfalls davon auszugehen sei, dass die Klägerin ihren Wunsch nach einem umfassenden Versicherungsschutz gegenüber J***** A***** ausreichend deutlich zur Kenntnis gebracht habe. Die Feststellung, dass die Klägerin, wäre sie vom Mitarbeiter der Beklagten darüber aufgeklärt worden, für eine entsprechende Eindeckung der Schäden aus der „wrongful-birth“-Problematik bis zum Eintritt des Versicherungsfalls Vorsorge getroffen hätte (etwa durch Abschluss mit einem anderen Versicherer, bei dem diese Schäden in entsprechendem Umfang mitversichert worden wären), sei nicht überschießend, weil die Klägerin ausdrücklich vorgebracht habe, dass sie bei entsprechender Aufklärung die Möglichkeit gehabt hätte, adäquaten Versicherungsschutz zu erlangen. Entgegen der in der Beweisrüge vertretenen Ansicht sei diese Feststellung auch inhaltlich nicht zu beanstanden.

Zur Rechtsrüge vertrat das Berufungsgericht den Standpunkt, die Unterhaltsaufwendungen stellten ebenso wie die Aufwendungen für vermehrte Bedürfnisse einen (vermögensrechtlichen) Nachteil, sohin einen reinen Vermögensschaden dar, der von der Haftpflichtversicherung grundsätzlich nur bis 100.000 ATS (= 7.267,29 EUR) gedeckt sei. Die Klägerin könne ihr Feststellungsbegehren daher nicht erfolgreich auf das zugrunde liegende Versicherungsverhältnis stützen.

Soweit die Klägerin ihre Begehren auf den Rechtsgrund des Schadenersatzes wegen eines Beratungsfehlers stütze, könnte der Vertrauensschaden mit dem Erfüllungsinteresse identisch sein, wenn feststehe, dass der Versicherungsnehmer ohne Beratungsfehler vollen Versicherungsschutz erhalten hätte, oder wenn feststehe, dass der Versicherungsnehmer den gewünschten Versicherungsschutz bei einem anderen Versicherer erhalten hätte. Zwar habe der deutsche BGH seit einem Leiturteil im Jahr 1980 (BGH-Z 76, 249) in ständiger Rechtsprechung den Eltern eines infolge misslungener Sterilisation oder fehlgeschlagener Abtreibung geborenen ungewollten Kindes einen Schadenersatzanspruch gegen den verantwortlichen Arzt auf Zahlung des erforderlichen Kindesunterhalts zugesprochen und auch den Schadenersatzanspruch der Mutter zuerkannt, die durch falsche oder unvollständige Beratung während der Schwangerschaft über die Möglichkeiten zur Früherkennung von Schädigungen der Leibesfrucht, die auf Wunsch der Mutter die Unterbrechung der Schwangerschaft gerechtfertigt hätten, ein körperlich oder geistig behindertes Kind zur Welt brachte. In Österreich habe das Höchstgericht jedoch erstmals in der Entscheidung vom 25. 5. 1999, 1 Ob 91/99k, zur „wrongful-birth“-Problematik Stellung genommen und erstmals grundsätzlich ausgesprochen, dass Unterhaltsschäden „ersatzpflichtig“ seien, wenn es auf Grund eines Beratungsfehlers des behandelnden Arztes zu der bei richtiger Aufklärung nicht gewollten Geburt eines Kindes komme. Da der Versicherungsagent weder zu einer umfassenden Prüfung des Versicherungsbedürfnisses des Versicherungsnehmers verpflichtet sei, noch der Versicherungsnehmer erwarten dürfe, dass jedes denkbare Risiko in den Schutzbereich seiner Versicherung falle (SZ 63/64; 7 Ob 224/05z), müsse der Versicherungsagent auf eine Deckungslücke des Tarifs grundsätzlich nicht hinweisen, wobei Gegenteiliges nur dann gelte, wenn Sondervereinbarungen naheliegend und außerdem üblich seien. Seine Aufklärungspflicht über einen Risikoausschluss könne dann bestehen, wenn es für den Versicherungsagenten erkennbar sei, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsschutz gerade für ein Ausschlussrisiko anstrebe.

Da eine Haftung des Gynäkologen für Unterhaltsschäden in Österreich im Jahr 1999 erstmals bejaht worden sei, würde man die nach § 1299 ABGB zu beurteilende Sorgfaltspflicht des Versicherungsagenten überspannen, würde man verlangen, dass er bereits vor diesem Zeitpunkt auf (allenfalls mögliche) Sondervereinbarungen zur Deckung derartiger Unterhaltsschäden hätte hinweisen müssen. Allein der Umstand, dass die deutsche höchstgerichtliche Judikatur die Haftung für derartige Unterhaltsschäden schon zu einem früheren Zeitpunkt bejaht habe, könne für den Bereich der österreichischen Rechtsordnung noch keine derartige Beratungsverpflichtung auslösen. Den vom Erstgericht zu den in Deutschland seit 1984 möglichen Haftpflichtversicherungsbedingungen getroffenen Feststellungen komme daher ebenfalls keine Bedeutung zu, weshalb ein Eingehen auf jenen Teil der Mängelrüge, in dem geltend gemacht werde, dass diese Feststellungen ohne Beweisergebnisse und unter unrichtiger Anwendung und der Bestimmung des § 267 ZPO getroffen worden seien, entbehrlich sei.

Beim Versicherungsverhältnis handle es sich aber um ein Dauerschuldverhältnis. Mehrfach habe der Oberste Gerichtshof dazu bereits ausgesprochen, dass auch während des Bestehens eines Dauerschuldverhältnisses vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten von den Vertragsparteien zu beachten seien. Der Oberste Gerichtshof habe eine Verpflichtung zur Aufklärung über bekannt gewordene Fälle im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses bejaht. Obwohl eine allgemein laufende Betreuungspflicht nach Vertragsabschluss nicht bestehe (Prölls/Martin, VVG27, § 43 Rz 34), sei doch davon auszugehen, dass auf Grund des auch nach Vertragsabschluss weiterlaufenden Vertrauensverhältnisses zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer letzterer zur Auskunft und Beratung verpflichtet sei, soweit der Versicherungsnehmer diese benötige. Der Umfang derartiger nebenvertraglicher Auskunfts- und Beratungspflichten richte sich nach dem (für den Versicherer) erkennbaren Auskunfts- und Beratungsbedürfnis des Versicherungsnehmers (Prölls/Martin aaO § 43 Rz 36). Der Versicherer werde nicht spontan auf geänderte rechtliche Rahmenbedingungen hinzuweisen haben; eine solche (Hinweis-)Verpflichtung könne ihn aber im Rahmen der nebenvertraglichen Schutzpflichten dann treffen, wenn beispielsweise Verhandlungen über Vertragsänderungen oder Vertragsverlängerungen geführt würden (vgl Prölls/Martin aaO § 43 Rz 37).

Gehe es um die Verfehlung des für eine Gruppe von Versicherungsnehmern typischen Deckungsbedürfnisses, so könne schon die Kenntnis des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer dieser Gruppe angehöre, die Aufklärungspflicht auslösen (Prölls/Martin aaO Vorbem II Rz 11). Der Agent müsse dabei als Erfüllungsgehilfe des Versicherers dessen Informations- und Aufklärungspflichten erfüllen (Gruber in Berliner Kommentar § 43 Rz 34).

Die Klägerin habe dazu vorgebracht, dass ihr weder zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags noch zu einem anderen Zeitpunkt bis zum Eintritt des Versicherungsfalls (von der Beklagten) angeboten worden sei, diese Schäden (reine Vermögensschäden) miteinzudecken, und dass sie auch nicht darüber aufgeklärt worden sei, dass eine nötige Eindeckung der Beklagten nicht möglich sei. Zum Beweis, dass die Eindeckung dieses Risikos möglich gewesen wäre, habe sie die Einholung eines Gutachtens aus dem Bereich des Versicherungsrechts (also: Versicherungs-/Haftpflichtwesens) beantragt.

Da festgestellt worden sei, dass die Klägerin zum Agenten der Beklagten beim Vertragsabschluss gesagt habe, dass sie einen vollumfänglichen Versicherungsschutz für ihre Praxis wolle, dass sie umfassenden Versicherungsschutz wolle, weil zwei Menschenleben, nämlich die Schwangere und das Kind betroffen seien, könne davon ausgegangen werden, dass die Klägerin eine (umfängliche) Versicherung auch für reine Vermögensschäden gewollt habe und dass dem Agenten der Beklagten dieser Wunsch bekannt gewesen sei. Im fortzusetzenden Verfahren seien daher zunächst Feststellungen dazu zu treffen, ob und bejahendenfalls welche sonstigen Kontakte es zwischen der Klägerin und dem Agenten der Beklagten zwischen 1999 und dem Eintritt des Versicherungsfalls gegeben habe, um beurteilen zu können, ob sich für die Agenten der Beklagten zumutbarerweise die Möglichkeit ergeben hätte, die Klägerin aus die spätestens seit dem Jahr 1999 bekannte Deckungslücke hinzuweisen.

Sollte sich dabei ergeben, dass es die Agenten der Beklagten schuldhaft unterlassen haben, die Klägerin auf die Deckungslücke hinzuweisen, werde im Wege der Einholung des von der Klägerin angebotenen Gutachtens aus dem Bereich des Versicherungswesens zu prüfen sein, welche Möglichkeiten zum relevanten Zeitpunkt in Österreich bestanden hätten, das Risiko der reinen Vermögensschäden („wrongful-birth“-Problematik) zu versichern.

Sollte sich im Weiteren zeigen, dass derartige Versicherungsmöglichkeiten bestanden hätten, seien konkrete Feststellungen dazu zu treffen, welche Haftpflichtversicherung zu welchen Bedingungen die Klägerin abschließen hätte können und auch abgeschlossen hätte, wäre sie über die Deckungslücke rechtzeitig aufgeklärt worden. Nur im Umfang einer derartigen hypothetischen Haftpflichtversicherung auch für reine Vermögensschäden könne überhaupt eine Haftung der Beklagten bestehen. Dabei werde die Fassung des Klagebegehrens im Hinblick darauf zu erörtern sein, dass ein allenfalls zu Recht bestehendes Feststellungsbegehren nur aus einer unzureichenden Aufklärung, nicht aber aus einem Versicherungsvertrag abzuleiten sei.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil keine höchstgerichtliche Judikatur zum Umfang nebenvertraglicher Informations- und Aufklärungspflichten während eines laufenden Haftpflichtverhältnisses existiere und dieser Frage Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukomme, weiters weil auch die Frage einer Klärung durch das Höchstgericht bedürfe, ob ein erst nach Abschluss des Versicherungsvertrags (infolge der erstmals bejahten Haftung eines Arztes für „wrongful-birth“ und deren Folgen) aktuell gewordenes Versicherungsbedürfnis vom Versicherungsnehmer, der seinerzeit bereits umfassenden Versicherungsschutz gewünscht habe, oder vom Versicherer bzw seinem Agenten als Erfüllungsgehilfen „auszusprechen“ sei.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs der Klägerin mit dem Antrag, das Ersturteil „vollumfänglich“ zu bestätigen und jener der Beklagten, die beantragt, den bekämpften Beschluss aufzuheben und in der Sache selbst die Klagsabweisung auszusprechen.

In den Rekursbeantwortungen wird jeweils der Antrag gestellt, dem Rekurs der Gegenseite nicht Folge zu geben (von beiden Parteien) oder ihn nicht zuzulassen (nur von der Klägerin).

Rechtliche Beurteilung

Die Rekurse sind aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, sie sind aber nicht berechtigt.

Die Klägerin macht in ihrem (unrichtig) als „Revisionsrekurs“ bezeichneten Rechtsmittel geltend, das Berufungsgericht habe die Bestimmung des § 5 VersVG außer Acht gelassen. Dem ist zu erwidern, dass sich die Klägerin hinsichtlich der drohenden, 7.267,29 EUR übersteigenden reinen Vermögensschäden in erster Instanz gar nicht auf eine Deckungspflicht der Beklagten aus dem Versicherungsvertrag (gemäß § 5 VersVG) berufen hat; sie stützte sich insoweit vielmehr allein auf den Titel des Schadenersatzes. Die nunmehr (im Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof) geforderte Beurteilung nach der zitierten Bestimmung scheitert im Übrigen auch am Fehlen diesbezüglicher - in der Berufung als überschießend gerügter, vom Berufungsgericht (schon mangels zugrundeliegender Beweisergebnisse) ausdrücklich nicht übernommener -Feststellungen zu einer Zusage umfassenden Versicherungsschutzes durch den Versicherungsmitarbeiter der Beklagten.

Der Rekurs der Beklagten vertritt den Standpunkt, die Vorinstanzen hätten sich zutreffend der in der Entscheidung 7 Ob 224/05z dargestellten ständigen Rechtsprechung zum „Haftungsgrad“ des Versicherungsagenten angeschlossen. Demnach bestehe aber weder eine „vorangehende“ Prüfpflicht noch eine „daran anknüpfende“ Informationspflicht des Versicherungsagenten. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre das Klagebegehren auch wegen der gerügten Mängel des Verfahrens erster Instanz abzuweisen gewesen.

Was die im Rekurs der Beklagten gerügten Verfahrensmängel betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein in der Berufung nicht geltend gemachter Mangel des Verfahrens erster Instanz (RIS-Justiz RS0043111) ebenso wie ein vom Berufungsgericht verneinter Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens (RIS-Justiz RS0042963) nicht erfolgreich an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden kann (jüngst: 3 Ob 80/11b [P 2.4.]).

Im Übrigen sind die Rechtsmittel gemeinsam zu behandeln, weil sich die beiden Rekurse auf ein Abweichen von der jeweils zitierten Rechtsprechung und eine daraus abgeleitete unrichtige rechtliche Beurteilung der Beratungspflichten des Versicherungsagenten berufen. Eine solche ist jedoch nicht zu erkennen; die Beurteilung dieser Frage liegt im Rahmen der Grundsätze ständiger Rechtsprechung, die in 7 Ob 94/09p (immolex 2011, 50 [Schalich]) zusammengefasst wurden:

Der Versicherungsagent muss nicht prüfen, ob die Versicherungsbedingungen das erkennbare Versicherungsbedürfnis voll abdecken (RIS-Justiz RS0080898); der Versicherungsnehmer muss vielmehr die von ihm für aufklärungsbedürftig erachteten Punkte bezeichnen oder erkennbar eine irrige Vorstellung haben (RIS-Justiz RS0080130). Doch muss der Agent Fehlvorstellungen, die der Versicherungsnehmer über den Deckungsumfang äußert, richtigstellen (RIS-Justiz RS0080898 [T1]); es besteht daher eine Aufklärungspflicht des Versicherers über einen Risikoausschluss, wenn erkennbar ist, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsschutz gerade für ein ausgeschlossenes Risiko anstrebt. Umso eher liegt ein pflichtwidriges Verhalten vor, wenn der Versicherungsnehmer in seinen irrigen Vorstellungen über den Inhalt des Versicherungsprodukts noch bestärkt wird (RIS-Justiz RS0106980), ebenso, wenn dem Versicherungsagenten aus den Äußerungen des Versicherungsinteressenten klar erkennbar ist, dass dieser über einen für ihn ganz wesentlichen Vertragspunkt, wie etwa über den angestrebten ehesten Haftungsbeginn, eine irrige Vorstellung hat (RIS-Justiz RS0080141). Ebenso stellt es einen Verstoß gegen die vorvertraglichen Sorgfaltspflichten dar, wenn die unrichtige Ansicht des Antragstellers durch eine unzutreffende Belehrung des Versicherungsvertreters hervorgerufen, jedenfalls aber bekräftigt wurde (7 Ob 8/86). Ein Versicherer ist zu einer sachkundigen Beratung und Aufklärung dann verpflichtet, wenn der andere Vertragsteil nach der im Verkehr herrschenden Auffassung redlicherweise dies erwarten darf (RIS-Justiz RS0119747 = 7 Ob 1/05f). Kein Versicherungsnehmer kann aber erwarten, dass jedes denkbare Risiko in den Schutzbereich einer Versicherung fällt (RIS-Justiz RS0016133 [T1], ähnlich RS0119747). Die Belehrungspflicht des Versicherers oder seines Agenten darf nicht überspannt werden und erstreckt sich nicht auf alle möglicherweise eintretende Fälle (RIS-Justiz RS0080386 [T2]). Besteht keine (vorangehende) Prüfpflicht, ist auch eine (daran anknüpfende) Informationspflicht zu verneinen. Dann bleibt aber nur der vom Berufungsgericht angewendete Rückgriff auf das dem Versicherungsrecht innewohnende Prinzip von Treu und Glauben (RIS-Justiz RS0018055), um eine Warnpflicht des Versicherungsagenten annehmen zu können. Die Bejahung der Verletzung der Warnpflicht des Versicherungsagenten würde unter anderem voraussetzen, dass dem beklagten Versicherer das Wissen des für ihn auftretenden Versicherungsagenten zuzurechnen ist.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall berücksichtigt, wobei es unter anderem von den unstrittigen Feststellungen ausging, dass

- die Klägerin dem Außendienstmitarbeiter der Beklagten erklärte, sie benötige deshalb „vollumfänglichen“ (also bestmöglichen) Versicherungsschutz für ihre Arztpraxis, weil in ihrem Fall gleichzeitig zwei Menschenleben, nämlich die Schwangere und das Kind betroffen seien;

- die Klägerin - wäre sie vom Mitarbeiter der Beklagten darüber aufgeklärt worden, dass sie hinsichtlich der „wrongful-birth“-Problematik in der Haftpflichtversicherung nur mit 100.000 ATS versichert sei -, für eine entsprechende Eindeckung dieses Schadens bis zum Eintritt des Versicherungsfalls (Ultraschalluntersuchungen in der Zeit vom 28. 11. 2005 bis 18. 4. 2006) Vorsorge getroffen hätte; etwa durch Abschluss mit einem anderen Versicherer, bei dem diese Schäden in entsprechendem Umfang mitversichert worden wären;

- die Klägerin den Versicherungsvertrag in der für den Mitarbeiter der Beklagten erkennbaren Meinung abschloss, sie erlange einen „umfänglichen“ und mit 20.000.000 ATS auch ausreichenden Versicherungsschutz.

Angesichts des Umstands, dass dem Versicherungsagenten der Beklagten der Wunsch der Klägerin nach umfassendem Versicherungsschutz (auch für reine Vermögensschäden) bekannt war, ist daher eine Verletzung der Aufklärungs- und Warnpflicht für die Zeit nach der ersten österreichischen Entscheidung zur „wrongful-birth“-Problematik (1 Ob 91/99k) zu bejahen. Welche weiteren Kontakte es zwischen der Klägerin und dem Agenten der Beklagten gab, bedarf dabei jedoch - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - keiner weiteren Prüfung, weil hier jedenfalls eine besondere nebenvertragliche, dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht des Versicherers bestand.

Mit der in dieser Beurteilung zum Ausdruck kommenden starken Betonung von Treu und Glauben wird nämlich auch der Tatsache Rechnung getragen, dass jeder der beiden Vertragspartner eines Versicherungsvertrags deshalb in besonderem Maß auf die Unterstützung durch den anderen angewiesen ist, weil er ihm in der einen oder anderen Weise unterlegen ist: Der Versicherungsnehmer verfügt etwa allein über die Kenntnis für den Vertragsabschluss und die Schadensabwicklung wesentlicher Umstände; der Versicherer ist dem Versicherungsnehmer überlegen durch die Beherrschung der Versicherungstechnik, seine Geschäftskunde und seine umfangreichen Erfahrungen, wegen der Sachverständigen aller Gebiete, deren er sich bedienen kann (Prölss in Prölss/Martin VVG28 Vorbem II Rn 9).

Davon ausgehend ist eine nebenvertragliche, dem Vertragsabschluss nachfolgende Beratungs- und Warnpflicht des beklagten (Haftpflicht-)Versicherers zumindest dann zu bejahen, wenn der Fall durch folgende Umstände gekennzeichnet ist:

Eine neue Rechtsprechung, die dem Versicherer (dem auch der Wunsch des Versicherten nach umfassendem Versicherungsschutz bekannt war) wohl nicht entgangen sein kann, führt zu existenzbedrohenden Berufsrisiken einer bestimmten, überschaubaren Gruppe von nach denselben Bedingungen Versicherten (hier: Gynäkologen). Geht es um die Verfehlung eines für eine solche Gruppe von Versicherungsnehmern typischen Deckungsbedürfnisses (also die Absicherung ihrer besonderen Berufsrisiken), kann daher schon die (weitere) Kenntnis des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer dieser Gruppe angehört und umfassenden Versicherungsschutz anstrebt, eine solche Verpflichtung auslösen.

Im Übrigen kann in Anwendung des § 510 Abs 3 Satz 2 ZPO auf die zutreffende Begründung des Berufungsgerichts verwiesen werden, welche zum Erfordernis einer Erörterung der Fassung des Klagebegehrens insoweit zu ergänzen ist, als eine solche auch deshalb geboten erscheint, weil der darauf basierende - aufgehobene - Spruch des Ersturteils keine Deckelung enthält und außerdem die (weitere) Deckungszusage der Beklagten hinsichtlich der den gleichen Schadensfall betreffenden reinen Personenschäden nicht berücksichtigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 40, 52 ZPO.

Schlagworte

Vertragsversicherungsrecht

Textnummer

E98477

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0070OB00072.11F.0831.000

Im RIS seit

11.10.2011

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2014
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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