TE OGH 2010/6/2 9Bs54/10w (9Bs57/10m, 9Bs62/10x, 9Bs88/10w)

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Veröffentlicht am 02.06.2010
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Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richter Dr. Winsauer als Vorsitzenden, Dr. Starlinger und Maga. Reinberg über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Beschwerden des E***** D***** und weiterer Personen, alle vertreten durch Dr. G***** P*****, Rechtsanwalt in 1220 Wien, gegen die Beschlüsse des Landesgerichts Salzburg vom 03.02.2010, 37 Hv 60/02d-3019/108 und vom 18.02.2010, 37 Hv 60/02d-3030/108 und 3034/108, sowie der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft Linz gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 26.3.2010 bzw 30.3.2010, 37 Hv 60/02d-3044/108 bzw 3046/108 in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:

Spruch

1. Dem Antrag des E***** D***** und weiterer Personen vom 19.4.2010 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird Folge gegeben;

2. Der Beschwerde des E***** D***** und weiterer Personen gegen den Beschluss vom 03. 02. 2010 (ON 3019/108) wird nicht Folge gegeben;

3. Der Beschwerde des E***** D***** und weiterer Personen gegen die Beschlüsse vom 18.02.2010 (ON 3030/108, 3034/108) wird teilweise Folge gegeben und die angefochtenen Beschlüsse – mit Ausnahme von Punkt a) des Beschlusses vom 18.2.2010 (ON 3034/108) – dahin abgeändert, dass die Anträge des E***** D***** und weiterer Personen vom 16.2.2010 (ON 3029/108) und vom 15.2.2010 (ON 3033/108) auf Gewährung von Einsicht in die Akten des Verfahrens 37 Hv 60/02d des Landesgerichts Salzburg gemäß § 77 Abs 1 StPO bewilligt werden;

4. Der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft Linz gegen den Beschluss vom 26.3.2010 bzw. 30.3.2010 (ON 3044/108 iVm ON 3046/108) wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Beschluss dahin abgeändert, dass der über das Begehren auf Akteneinsicht hinausgehende Antrag von E***** D***** und weiterer Personen auf „Filmen der Beweisgegenstände durch ein Filmteam des B***** Rundfunks“ abgewiesen wird.

              

Text

B e g r ü n d u n g :

              

              Mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes Salzburg vom 19.02.2004, 37 Hv 60/02d-2579a, rechtskräftig seit 27.09.2005 (Urteil des Oberlandesgerichtes Linz, 9 Bs 28/09i), wurden Ing. M***** M***** und weitere Angeklagte vom Vorwurf des Vergehens der fahrlässigen Herbeiführung einer Feuersbrunst nach § 170 Abs 1 und 2 letzter Deliktsfall StGB bzw. des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung nach § 177 Abs 1 und 2 (170 Abs 2 erster Fall) StGB gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen und sämtliche Privatbeteiligte gemäß § 366 Abs 1 StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

              Mit Schriftsatz vom 29.01.2010 beantragte RA Dr. G***** P***** als Vertreter von 41 „Privatbeteiligten“ (siehe Antrag ON 3018/108 iVm ON 3008/107) unter anderem die Gewährung vollständiger Akteneinsicht in das vorhandene (den Prozessverlauf betreffende) Bild- und Tonmaterial (ON 3018/108).

              Mit dem angefochtenen Beschluss vom 03.02.2010 (ON 3019/108), gab das Erstgericht diesem Antrag teilweise Folge, indem den Antragstellern (weiterhin) grundsätzlich unbeschränkte Akteneinsicht gewährt wurde, jedoch die Einsicht und Herstellung von Kopien der den Prozessverlauf dokumentierenden Videoaufnahmen mit der Begründung ablehnte, dass es sich dabei um bloße – tatsächlich nicht einmal herangezogene – technische Hilfsmittel der Schreibkräfte handle, die mit der Übertragung ihre Bedeutung verlieren würden und für die sodann auch keine Aufbewahrungspflicht bestünde (vgl auch ON 3015, 3016, 3017 je in Bd 108).

              Über mündlichen Antrag von RA Dr. P***** vom 12.2.2010 (ON 3023/108) gewährte der Einzelrichter des Landesgerichts Salzburg Einsicht in die „Beweisgegenstände, die in der Auktionshalle von Herrn M***** ausgestellt worden sind“ (ON 3026/108), wobei vom Erstgericht - entgegen der Entscheidung des Präsidenten des Landesgerichts Salzburg - das Filmen dieser Beweisgegenstände durch ein Kamerateam des privaten Senders A***** vor dem Hintergrund der Erklärung von RA Dr. P*****, dass die „Filmaufnahmen im Rahmen der Akteneinsicht“ erfolge, bewilligt wurde (ON 3026/108).

Am 17.2.2010 beantragte RA Dr. P***** als ausgewiesener Vertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen eine „nochmalige Akteneinsicht in die Beweismittel der Asservatenkammer, in dreizehn in einem „Rechtspraktikantenzimmer befindliche Bene-Ordner“ sowie die Herstellung einer Kopie der Videoaufnahmen betreffend die Verhandlungstage vom 19.11. und 20.11.2003 (ON 3027/108). Mit Note vom 18.2.2010 teilte das Erstgericht dem Einschreiter mit, dass „einer Akteneinsicht am 24.2.2010 nichts entgegenstehe, jedoch mit Ausnahme der Einsicht in die Videokassetten über den Verhandlungsverlauf“ unter Hinweis auf den bereits dazu gesondert ergangenen Beschluss (ON 3028/108).

              Am selben Tag langte ein neuerlicher Antrag von RA Dr. P***** als ausgewiesenem Vertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen auf Einsicht in die „K*****akten, die sich beim BMI bzw bei der KTZ“ befinden sowie ein gesonderter Antrag auf „Sicherung der Körperflüssigkeiten bei der Gerichtsmedizin und Beischaffung sämtlicher K*****akten, die sich beim BMI und beim BMVIT“ befinden, ein (siehe ON 3029 und 3033/je 108).

               Mit Beschluss vom 18.02.2010, (3030/108), gab das Erstgericht dem Antrag vom 16.02.2010 auf Einsicht in die beim BMI (KTZ) erliegenden Ermittlungsakte mit der Begründung nicht Folge, dass eine Zuständigkeit des ehemaligen Verhandlungsrichters „wohl“ nicht gegeben sei, weil das Strafverfahren seit längerer Zeit rechtskräftig abgeschlossen und auch ein Wiederaufnahmeverfahren nicht – weder in der Vergangenheit noch aktuell – anhängig sei.

              Außerdem wies das Erstgericht am selben Tag auch die Anträge auf Sicherung von Körperflüssigkeiten bei der Gerichtsmedizin sowie auf Beischaffung sämtlicher das gegenständliche Verfahren betreffenden Akten des BMI und des BMVIT mit der bereits erwähnten gleichlautenden Begründung ab (ON 3034/108).

              Am 17.2.2010 stellte RA Dr. P***** (wiederum als ausgewiesener Vertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen) den Antrag auf Sicherung der von der StA H*****/Deutschland zurückgestellten Beweisgegenstände, um sie vor einer Vernichtung zu bewahren (ON 3036/108).

              Am 25.2.2010 vermerkte der Einzelrichter des Landesgerichts Salzburg, dass der einschreitende RA Dr. P***** „mit einem Techniker Akteneinsicht genommen habe, wobei die in der Auktionshalle nicht näher beschriebenen Beweisgegenstände unter Aufsicht des Rechtspraktikanten Mag. F***** H***** gesichtet, gefilmt oder fotografiert wurden“. Außerdem seien mit einem mitgebrachten Überspielgerät „diverse Videokassetten und DVD kopiert“ worden (ON 3037/108).

              Am 02.03.2010 erhoben die „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen Beschwerde gegen einen Beschluss des Erstgerichts vom 19.2.2010, mit dem die Anfertigung von Kopien der Videoaufnahmen des 63. Verhandlungstages abgelehnt worden wäre (ON 3039/108).

              Nach dem Inhalt richtet sich diese Beschwerde jedoch tatsächlich gegen den Beschluss vom 03.02.2010 (ON 3019/108) (abgesehen davon dass ein Beschluss vom 19.02.2010 gar nicht existiert) und legt dar, dass die begehrten Kopien für die Beurteilung der vier im Verfahren tätigen Gutachter notwendig wären, zumal „gegen die Einstellung des Bestrebens um Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Gutachter ein Fortsetzungsantrag gestellt worden sei“ (vgl S 151 in ON 3039/108).

              Die Beschwerde der fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen vom 05.03.2010 (ON 3041/108) hingegen richtet sich gegen die Beschlüsse vom 18.02.2010 (ON 3030 und 3034/je 108). Die Beschwerdeführer räumten darin ein, dass zwar „formal rechtlich“ das Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei, jedoch bestünden derzeit Bestrebungen um eine Wiederaufnahme, zumal am 02.11.2009 das Wiederaufnahmebegehren (gemeint wohl: das eingestellte Strafverfahren [argumentum StA Linz zu 16 St 64/09w]) gegen die vier im Prozess tätigen Gutachter) eingestellt worden sei, wobei dagegen allerdings bereits ein „Fortsetzungsantrag“ (richtig: Fortführungsantrag) gestellt worden wäre. Zur konkreten Darstellung der Verfehlungen der Gutachter sei es dringend notwendig, den tatsächlichen Ablauf der Verhandlungen nicht nur aus den „Papierübertragungsprotokollen“ zu kennen, sondern auch darstellen zu können. Zudem sei – im Zusammenhang mit dem bisherigen Ablauf des Strafverfahrens sowie dem Verhalten der Gutachter und weiterer offenbar Beteiligter (BMJ, OStA Linz u.a.) – bei der Korruptionsstaatsanwaltschaft sowie der Staatsanwaltschaft H***** Anzeige wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung erstattet worden; auch aus diesem Grund bestehe das dringende Bedürfnis, sämtliche Grundlagen des österreichischen Strafverfahrens eingehend zu untersuchen, zu sichten und zu fotografieren, um den konkreten Ablauf im Hintergrund aufdecken zu können. Die Sicherung der Körperflüssigkeiten sei notwendig, weil die Gerichtsmedizin selbst die Durchführung toxikologischer Untersuchungen empfohlen habe; 90 % der Opfer seien nicht an einer Kohlenmonoxidvergiftung, sondern an anderen giftigen Gasen gestorben (ON 3041/108).

              Letztlich beschwerte sich die Oberstaatsanwaltschaft Linz am 29.3.2010 gegen die Entscheidung des Erstgerichts RA Dr. P***** als ausgewiesenem Vertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen die Besichtigung von Beweisgegenständen des Verfahrens 37 Hv 60/02d im Landesgericht Salzburg unter Beiziehung eines Filmteams des B***** Rundfunks zu genehmigen (vgl AV v 26.3.2010 iVm der Ausfertigung des angefochtenen Beschlusses v 30.3.2010, ON 3044 u. 3046 je Bd 108).

              Die Oberstaatsanwaltschaft Linz machte von der ihr eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme Gebrauch und beantragte, den Beschwerden nicht Folge zu geben, hinsichtlich der Beschwerde vom 02.03.2010 beantragte sie, diese infolge Verspätung als unzulässig zurückzuweisen.

              In ihrer darauf erstatteten Gegenäußerung beantragten die Beschwerdeführer einerseits – betreffend die Beschwerde vom 02.03.2010 – die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, zumal die Fristversäumnis auf einem einmaligen Versehen der ansonsten verlässlichen Chefsekretärin beruhe, weil der angefochtene Beschluss, infolge der am 15.02.2010 erst knapp vor Dienstschluss um 15.30 Uhr erfolgten Postzustellung, bei der Fristerfassung am nächsten Tag irrtümlich in den Stapel der Post 16.2.2010 „gerutscht“ sein dürfte; weiters führten sie aus, dass mit den gegenständlichen Anträgen rein rechtliche Interessen verfolgt werden würden: Diese würden nämlich nicht nur der Bekräftigung des eigenen Standpunkts im Rahmen des bereits gestellten „Fortsetzungsantrages“ dienen, sondern auch dazu, im Zuge dessen die beantragten Beweisgegenstände in näheren Augenschein nehmen und die vorhandenen Videobänder auf ihre Übereinstimmung mit den Verhandlungsprotokollen überprüfen zu können; die Durchsicht einiger Protokolle habe nämlich ergeben, dass die Verhandlung offensichtlich nicht vollständig wiedergegeben worden sei. Sinn und Zweck der „Abspielung und Kenntnisnahme des tatsächlichen Verhandlungsablaufes, der sich auf den Videoaufzeichnungen am Besten widerspiegelt,“ sei es, die während des gesamten Verfahrens bestehende Befangenheit der Prozessgutachter darzustellen. Schließlich wurde noch die Befangenheit der Oberstaatsanwaltschaft Linz mit dem Hinweis angezeigt, dass gegen die Leitende Oberstaatsanwältin Dr. A***** sowie andere Oberstaatsanwälte ihrer Behörde derzeit bei der Staatsanwaltschaft H***** ein Ermittlungsverfahren wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung geführt werde (GZ 21 Js 28112/09); infolge Weisungsgebundenheit sei daher wohl auch der die vorliegenden Stellungnahmen erstattende Erste Oberstaatsanwalt Dr. G***** befangen.

              1. Dem Antrag von RA Dr. P***** als ausgewiesenem Vertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt Berechtigung zu.

              

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 364 Abs 1 Z 1 StPO ist den Beteiligten des Verfahrens die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung eines Rechtsmittels ua dann zu bewilligen, sofern sie nachweisen, dass es ihnen durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, die Frist einzuhalten, es sei denn, dass ihnen oder ihren Vertretern ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt.

              Nach ständiger Rechtsprechung hat der Wiedereinsetzungswerber nicht nur für sein eigenes Verschulden, sondern auch für das seines Rechtsvertreters einzustehen, der einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab unterliegt (siehe Lewisch, WK-StPO § 364 Rz 25; ähnlich Deixler-Hübner in Fasching/Konecny2 § 146 Rz 50: „ .... eigenes Verschulden, das nach seinen persönlichen Verhältnissen zu bestimmen ist ....“). Irrtümer und Fehler der Kanzleiangestellten des Vertreters sind diesem (und deren Verschulden wiederum dem Vertretenen) zuzurechnen (RIS-Justiz RS0101272). Das Verschulden eines Kanzleiangestellten steht der Bewilligung der Wiedereinsetzung nur dann nicht entgegen, wenn es sich um ein einmaliges Versehen handelt, das angesichts der Verlässlichkeit und Bewährung der Kanzleikraft nicht zu erwarten war, und wenn dem Rechtsanwalt nicht die Verletzung der von ihm zu erwartenden Sorgfalts-, Organisations- und Kontrollpflichten vorgeworfen werden muss (RIS-Justiz RS0101310; RS0101329).

Grundsätzlich muss ein Anwalt seinen Kanzleibetrieb so organisieren, dass auch die richtige Vormerkung von Terminen und die fristgerechte Setzung von Prozesshandlungen sichergestellt werden kann; vor allem hat er dafür zu sorgen, dass Fehler aufgrund menschlichen Versagens möglichst auszuschließen sind (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny2 § 146 Rz 56). Ist das Fristenwesen (oder sonst eine Aufgabe der Kanzlei) fehlerhaft organisiert, so liegt darin ein relevanter Anwaltsfehler; die Rechtsprechung ist regelmäßig nicht bereit, derartige Fehler als solche von minderem Grad des Versehens zu beurteilen. Bei Fehlern von Kanzleimitarbeitern (auch bei Fristenfehlern) ist die Rechtsprechung hingegen durchaus großzügig (Lewisch, WK-StPO § 364 Rz 29).

              Nach dem glaubhaften Vorbringen des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer sei es ein unglücklicher, trotz aller Vorsicht unabwendbarer Zufall, dass der Beschluss vom 03.02.2010 am 15.02.2010 erst kurz vor Dienstschluss der Sekretärin um 15.30 Uhr in der Kanzlei des einschreitenden Rechtsanwalts zugestellt und von der sonst sehr verlässlichen Angestellten am nächsten Tag irrtümlich mit dem Eingangsstempel des 16.02.2010 versehen worden sei (vgl. Mayerhofer/Hollaender, StPO5 § 364 E 42a).

              Dieses Versehen der Chefsekretärin des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer rechtfertigt den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Voraussetzung für die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist (unter anderem) auch, dass ein entsprechender Antrag innerhalb von 14 Tagen nach dem Aufhören des Hindernisses, das zur Fristversäumung geführt hat, gestellt wird (§ 364 Abs 1 Z 2 StPO). Die am 2.3.2010 erfolgte Beschwerdeausführung (vgl. ON 3039/108) gegen den am 15.02.2010 zugestellten Beschluss – die Rechtsmittelfrist endete somit am 01.03.2010 – richtet sich zwar gegen einen (nicht existenten) „Beschluss vom 19.02.2010“, doch ist der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer erst durch die Zustellung der Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft Linz vom 7.4.2010 darauf aufmerksam gemacht worden, dass ihm der angefochtene Beschluss nicht am 16.2.2010, sondern bereits am 15.2.2010 (vgl Rückschein bei ON 3019/108) zugestellt worden war. Diese Äußerung wurde RA Dr. P***** am 14.4.2010 per Fax übermittelt, sodass der am 19.4.2010 beim Beschwerdegericht eingelangte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 364 Abs 1 Z 2 StPO rechtzeitig erfolgte.

              2. Die Beschwerde der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ vom 2.3.2010 (ON 3039/108) ist nicht berechtigt, hingegen kommt ihren Beschwerden vom 5.3.2010 ( 3041/108) sowie der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft Linz vom 29.3.2010 (ON 3045/108) teilweise Berechtigung zu.

              Nachdem die Beschwerdeführer als so bezeichnete „fortführende Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen Akteneinsicht und Beweisaufnahme in einem bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren begehren, ist darzustellen, ob und allenfalls in welchem Umfang das Gesetz Opfern und Privatbeteiligten nach rechtskräftiger Erledigung eines Strafverfahrens durch Freispruch und demzufolge Verweisung der Privatbeteiligten mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg mit derartigen (Verfahrens-) Rechten ausstattet. In diesem Zusammenhang ist vorweg die Rolle von Opfern und Privatbeteiligten während des Strafverfahrens klarzustellen:

              Der Begriff des Opfers wird durch den Rahmenbeschluss des Rates der EU vom 15.03.2001 über die Stellung von Opfern im Strafverfahren (Abl 2001, L 82/1) vorgegeben und in § 65 Z 1 StPO derart definiert, dass drei verschiedene Tatbestände der Betroffenheit durch eine Straftat zu einem einheitlichen Begriff zusammengefasst werden (im Detail siehe: § 65 Z 1 lit. a – c StPO). Durch das StrPRG (BGBl I 2004/19) wurde erstmals im österreichischen Strafverfahren dem Opfer die mit konkreten Rechten verbundene Rolle einer Prozesspartei – somit Parteistellung – zuteil; Opfer sind Subjekte des Strafverfahrens („Prozesssubjekte“) und genießen die Fürsorge staatlicher Organe (§ 10 Abs 3 StPO). Mit der Parteistellung geht das – vom diesbezüglichen Wunsch des Opfers abhängige – Recht auf Beteiligung am Strafverfahren einher (§ 10 Abs 1 StPO). Dieses allgemeine Recht ist durch zahlreiche konkrete Einzelverfahrensrechte im 4. Hauptstück der StPO ausgestaltet; die grundsätzlichen Opferrechte (siehe § 66 StPO sowie Kier, WK-StPO § 66 Rz 1 und 3, mit dem Hinweis, dass es sich dabei nur um eine demonstrative Aufzählung handelt) kommen – unabhängig von der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche – allen Opfern während des gesamten Verfahrens zugute (Fabrizy, StPO10 § 66 Rz 1; Kier, WK-StPO § 10 Rz 20, 23; Schwaighofer, Die neue Strafprozessordnung, EBRV StPRefG zum 4. Hauptstück).

              Gemäß § 67 Abs 1 StPO steht Opfern das Recht zu, im Strafverfahren den Ersatz des durch die Straftat erlittenen Schadens oder eine Entschädigung für die Beeinträchtigung ihrer strafrechtlich geschützten Rechtsgüter zu begehren. Schließt sich ein Opfer zu diesem Zweck dem Strafverfahren an, erlangt es durch Erklärung – die nur dann, wenn die Möglichkeit eines (in den Fällen des § 65 Z 1 lit. a und b StPO) immateriellen, im Übrigen materiellen Schadenseintritts oder die Berechtigung, am Verfahren mitzuwirken, nicht offensichtlich ist, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu begründen wäre – die besondere prozessuale Stellung als Privatbeteiligter (§§ 65 Z 2, 67 Abs 2 StPO; Fabrizy, StPO10 § 67 Rz 3).

              Die Strafprozessordnung definiert Privatbeteiligte in § 67 StPO ausdrücklich als Mitwirkende am Verfahren und stattet sie mit zentralen Rechten aus, am Verfahren aktiv teilzunehmen und ihre privatrechtlichen Ansprüche zu verfolgen (Schwaighofer, Die neue Strafprozessordnung, EBRV StPRefG zu § 67). Zur Effektuierung des Ziels einer Stärkung der Rolle als Opfer und in Umsetzung des bereits erwähnten Rahmenbeschlusses (vgl. insbesondere Art 3 Abs 1 und Art 5) werden den Privatbeteiligten – über die in § 66 StPO verbrieften Opferrechte hinaus – weiterführende, weitgehend konkrete Einzelrechte (§§ 67 Abs 6 Z 1 – 5, 68 StPO) eingeräumt; so sieht das Gesetz neben umfassenden Verständigungen vom Verlauf des Verfahrens auch prozessual schlagkräftigere Rechte wie das Recht auf Stellung von Beweisanträgen vor (§ 55 StPO). Dieses berechtigt den Privatbeteiligten (nicht auch das Opfer), im Ermittlungs- und Hauptverfahren – im selben Umfang wie der Beschuldigte – die Aufnahme von Beweisen zu beantragen (Fabrizy, StPO10 § 55 Rz 1, 17; Kier, WK-StPO § 66 Rz 5).

              Gemäß § 68 Abs 1 StPO sind Privatbeteiligte (und Privatankläger), darüber hinaus nach Abs 2 leg. cit. (iVm § 66 Abs 1 Z 2 StPO) alle Opfer zur Akteneinsicht berechtigt, soweit ihre Interessen betroffen sind; hiefür gelten die §§ 51, 52 Abs 1, Abs 2 Z 1 und 3 sowie 53 StPO sinngemäß. Die Gewährung von Akteneinsicht hat nach diesen Bestimmungen jedoch grundsätzlich nur im Erkenntnisverfahren bis zur Rechtskraft eines Urteils zu erfolgen; danach normiert § 77 Abs 1 StPO die Möglichkeit der Akteneinsicht (vgl. Mayerhofer/Hollaender, StPO5 § 45 E 15; ÖJZ-LSK 1979/301 = OLG Wien 21 Bs 175/79; IndRME 1979 und 1995; 13 Os 62/08d; RIS-Justiz RS0096800).

              Nach dieser Regelung des § 77 Abs 1 StPO haben Staatsanwaltschaften und Gerichte im Falle begründeten rechtlichen Interesses auch außer den in diesem Gesetz besonders bezeichneten Fällen Einsicht in die ihnen vorliegenden Ergebnisse eines Ermittlungs- oder Hauptverfahrens zu gewähren, soweit dem nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Fabrizy, StPO10 § 77 Rz 1; vgl. Achammer, WK-StPO §§ 51 bis 53 Rz 33). Nach den EBRV StPRefG sollen durch Abs 1 leg. cit. die Bestimmungen der §§ 82 StPO aF und 35 Abs 4 StAG in einer einheitlichen subsidiären Vorschrift der Akteneinsicht zusammengefasst werden; sie gilt daher nicht, soweit die Strafprozessordnung besondere Regeln für die Akteneinsicht aufstellt (vgl. Fabrizy, StPO9 § 45 Rz 1; 12 Os 94/89; SSt 60/61 = ÖJZ-LSK 1979/301). Andererseits eröffnet diese Bestimmung einen größeren Anwendungsbereich als die andernorts in der StPO geregelten Fälle der Akteneinsicht, denn sie gilt für jedes Verfahrensstadium und nach Rechtskraft der Verfahrensbeendigung sowie auch für nicht am Verfahren beteiligte Personen, die ein besonderes rechtliches Interesse an den Ergebnissen des Verfahrens haben (Fabrizy, StPO9 § 82 Rz 1; Fabrizy, StPO10 § 77 Rz 1; vgl. Achammer, WK-StPO §§ 51 bis 53 Rz 33; Schwaighofer, Die neue Strafprozessordnung, EBRV StPRefG zu § 77; Soyer, Die [ordentliche] Wiederaufnahme des Strafverfahrens [1998], S. 88).

              Nach den in der Strafprozessordnung geregelten Bestimmungen setzt die Gewährung von Akteneinsicht (oder Ausfolgung von Abschriften und Kopien) somit entweder Parteistellung in einem anhängigen Verfahren oder außerhalb davon ein besonderes rechtliches Interesse bzw – fallkonkret nicht relevant – eine besondere gesetzliche Verpflichtung (Amtshilfe) voraus (Mayerhofer/Hollaender, StPO5 § 82 Anm 1).

              Gemessen an diesen Grundsätzen orientiert sich die Gewährung von Akteneinsicht nach rechtskräftiger Beendigung des beim Landesgericht Salzburg zu 37 Hv 60/02d geführten Strafverfahrens an der subsidiären Regelung des § 77 Abs 1 StPO (vgl. ÖJZ-LSK 1979/301 = OLG Wien 21 Bs 175/79; 13 Os 62/08d). Nach der Rechtsprechung ist das hier maßgebliche besondere rechtliche Interesse vom Einschreiter glaubwürdig darzutun und bedarf – insbesondere hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Behauptungen des Antragstellers – einer strengen Prüfung (vgl. Mayerhofer/Hollaender, StPO5 § 82 Anm 2; 13 Os 5/90; RIS-Justiz RS0097127).

              Den bereits erwähnten Anträgen ist zu entnehmen, dass die sich als „fortführende Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen bezeichnenden Beschwerdeführer offenbar eine Wiederaufnahme des gegen die im Hauptverfahren tätigen Gutachter geführten, jedoch gemäß § 190 StPO von der Staatsanwaltschaft Linz eingestellten Strafverfahrens anstreben (argumentum AS 151 in ON 3039/108; AS 169 in ON 3041/108). Dabei verkennen sie zwar rechtlich, dass dies kein Fall einer Wiederaufnahme darstellt; eine solche beschränkt sich auf durch gerichtliche Entscheidungen beendete Strafverfahren. Ein Ermittlungsverfahren, das – wie hier (siehe StA Linz zu 16 St 64/09w) – durch die Staatsanwaltschaft gemäß den §§ 190 – 192 StPO eingestellt wurde, kann nämlich nach den Bestimmungen der §§ 193, 195 und 196 StPO über entsprechenden Antrag nur fortgeführt werden (Fabrizy, StPO10 Vor § 352 Rz 10).

              Ein solcher Antrag auf Fortführung dieses Strafverfahrens wurde von den Beschwerdeführern beim Landesgericht Linz zu 28 Bl 5/09z tatsächlich gestellt.

              Dieses beim Landesgericht Linz derzeit geführte Verfahren indiziert ein besonderes rechtliches Interesse an den Ergebnissen des Verfahrens 37 Hv 60/02d des Landesgerichtes Salzburg und ist daher eine ausreichende Grundlage für die Gewährung der Einsicht in die Akten dieses Verfahrens iSd § 77 Abs 1 StPO (vgl Fabrizy StPO10 Rz 1 ff). Dagegen stehende besondere öffentliche oder private Interessen sind nicht erkennbar.

              Mit Beschluss vom 03.02.2010, 37 Hv 60/02d-3019 wurde vom zuständigen Gericht Akteneinsicht mit Ausnahme der Einsicht in die als Hilfsmittel für die Protokollierung verwendeten Videoaufzeichnungen der Hauptverhandlung gewährt. Dies zu Recht.

Bis zur mit 1. 3. 2005 in Kraft getretenen Strafprozessnovelle 2005, BGBl I 2004/164, war die Protokollierung durch den Schriftführer die einzige Form der Protokollführung in der Hauptverhandlung. Die StPONov 2005 hielt grundsätzlich an der Beiziehung eines Schriftführers fest, doch kann er sich nun, wie dies auch bereits im Verfahren 37 Hv 60/02d des LG Salzburg (mit Blick auf den erwarteten Verfahrensumfang) zur Sicherstellung einer geordneten Protokollierung durchgeführt wurde, technischer Hilfsmittel bedienen (§ 271 Abs 2 StPO). Aus den Bestimmungen des Abs 6 und 7 leg.cit. ist klar erkennbar, dass jedenfalls mit Rechtskraft des Urteils das (berichtigte oder unberichtigte) Verhandlungsprotokoll vollen Beweis über den Ablauf einer Verhandlung liefert. Aufnahme und Mitschrift des Schriftführers verlieren nämlich bereits nach der Übertragung des Verhandlungsprotokolls ihre Bedeutung, sodass auch keine Pflicht zur Aufbewahrung besteht (vgl Danek WK-StPO § 271 Rz 35). Daraus hat das Erstgericht gesetzteskonform abgeleitet, dass kein begründetes rechtliches Interesse zur Einsicht in die zufällig noch aufbewahrten, lediglich zur technischen Unterstützung der Schriftführerin in der Hauptverhandlung hergestellten Videoaufnahmen besteht.

Die in den angefochtenen Beschlüssen des Erstgerichts vom 18.2.2010 vertretene Meinung, wonach keine Zuständigkeit des Landesgerichts Salzburg für die Entscheidung über Anträge auf Akteneinsicht nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens bestehe, widerspricht den oben dargestellten Grundsätzen der subsidiär anwendbaren Bestimmung des § 77 Abs 1 StPO. Die Kompetenz des Gerichts erlischt erst mit der Ausscheidung des Akts, also z.B. wenn der Akt nach Beendigung der Frist für die gerichtliche Aufbewahrung wegen geschichtlicher Bedeutung an ein Archiv abgegeben wird (vgl Fabrizy , StPO10 § 77 Rz 3).

Mit Blick auf die ebenfalls bereits ausführlich dargestellten Rechte der Opfer bzw der Privatbeteiligten eines Strafverfahrens ist hingegen die Meinung der Beschwerdeführer verfehlt, wenn sie die „Sicherung von Körperflüssigkeiten bei Gerichtsmedizin“ (vgl S 113 in ON 3033/108) begehren, fehlt es doch an einem beim Landesgericht Salzburg entsprechend anhängigen Verfahren, in dem die Sicherung von Körperflüssigkeiten (§ 55 StPO) begehrt werden kann.

              Abgesehen von der Gewährung von Akteneinsicht hat das Ersgericht zu Unrecht dem Rechtsvertreter der „fortführenden Parteien und Nebenintervenienten“ E***** D***** und weiterer Personen die von der Oberstaatsanwaltschaft Linz rechtzeitig gerügte Möglichkeit eingeräumt, Beweisgegenstände im Landesgericht Salzburg mit Unterstützung eines Filmteams des B***** Rundfunks zu besichtigen.

              Tatsächlich stellt dieses Ansinnen – bei lebensnaher Betrachtung – eine Umgehung der (außerhalb der sitzungspolizeilichen Anordnungsbefugnisse des Vorsitzenden, vgl § 23 ff StPO) ausschließlich dem Präsidenten des Landesgerichtes Salzburg als Leiter der Dienststelle im Rahmen des Hausrechts vorbehaltenen Entscheidung dar, Filmaufnahmen von Medienunternehmen im Gebäude des Landesgerichts zu genehmigen (vgl Pkt X. des Erlasses des BMJ, JMZ.4410/9-Pr1/2003, sowie ON 3044/108), zumal auch nicht ersichtlich ist, warum zur technischen Unterstützung einer Besichtigung von Beweisgegenständen ein Filmteam eines deutschen Medienunternehmens herangezogen werden muss.

              Soweit in der Gegenäußerung die Befangenheit der Oberstaatsanwaltschaft Linz behauptet wird, sind die Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, dass § 47 StPO als Bestimmung über die Befangenheit von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft nicht greift, weil Gründe, die die volle Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit (Abs 1 Z 3 leg. cit.) des Ersten Oberstaatsanwalts in Zweifel ziehen würden, tatsächlich nicht erkennbar sind. Die Erstattung von Anzeigen gegen die Behördenleiterin unter Hinweis auf die hierarchische Behördenstruktur alleine ist dafür nicht ausreichend. Hinzu kommt, dass die Oberstaatsanwaltschaft nicht verpflichtet ist, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben (nach § 89 Abs 1 StPO iVm § 21 Abs 2 StPO ist der Oberstaatsanwaltschaft bloß „Gelegenheit“ zu einer Stellungnahme einzuräumen).

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).

Textnummer

EL0000122

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0459:2010:0090BS00054.10W.0602.000

Im RIS seit

15.10.2010

Zuletzt aktualisiert am

15.10.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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